Der Kaninchenstall: Roman
„Springende, boxende Wörter“ - Reizüberflutung!
Der Kaninchenstall – das ist, siehe Cover, eine Wohnanlage, in der sich gleichförmige Wohnungen wie Kaninchenkäfige in einem Stall aufeinandertürmen. Und in einige dieser Kaninchenkäfige lässt uns die Erzählerin zu Beginn hineinschauen und stellt die Bewohner vor. Nein, keine putzigen Kaninchen, die uns an Ostern, Maiengrün und Fruchtbarkeit erinnern, sondern hier wohnen Verbitterte und Hoffnungslose, eine frustrierte Mutter, ehemalige Fürsorgezöglinge und sozial Isolierte: alles Menschen, wie sie vielleicht typisch sind für eine abgewirtschaftete Stadt wie das fiktive Vacca Vale im Rust Belt der USA.
In einem der Käfige aber ereignet sich Ungeheuerliches: drei junge Männer schlitzen eine junge Frau auf.
Diese junge Frau, Blandine, steht im Mittelpunkt des Geschehens. Sie hat Schlimmes hinter sich, wurde von einer Pflegefamilie zur nächsten geschoben, ist traumatisiert durch eine Liebesbeziehung zu ihrem Musiklehrer und gerät in dieser WG an drei junge Männer, die ihren Spaß daran finden, Tiere zu töten. Blandine versucht sich der trostlosen Wirklichkeit zu entziehen, indem sie sich der Mystik Hildegards von Bingen zuwendet und ihren Körper in mystischer Selbstentgrenzung verlassen will.
Von Beginn an wird der Leser mit nicht enden wollenden Aufzählungen konfrontiert. Das wirkt, als ob die Erzählerin die Wirklichkeit in viele kleine Einzelteile zertrümmert, die sie dann aufzählt. Aber sie setzt sie nicht mehr zusammen, sondern geht zur nächsten Aufzählung über. Diese Wortfülle versperrt den Sinn des Ganzen, sie scheint mir im Fortgang des Romans immer mehr reiner Selbstzweck zu sein. Allerdings passt diese Wortflut zur Reizüberflutung durch die Medien,denen wir ausgesetzt sind.
Dieses Spiel mit der Reizüberflutung spielt Gunty temporeich durch. Perspektiven wechseln, externe Personen tauchen auf, Handlungsorte wechseln, die Zeitebenen verschieben sich, Randfiguren werden kurz fokussiert, und eine Fülle an Textstilen – mails, Zeitungsberichte, innere Monologe, Polizeibericht, eine grafische Bilderfolge – all das prasselt auf den Leser nieder.
Neben dem Panoptikum an Figuren führt die Autorin dem Leser ein Panoptikum der derzeitigen US-amerikanischen Gesellschaft vor. Im Schnelldurchgang werden alle möglichen Zustände und Probleme mehr oder weniger motiviert in den Roman eingeflochten, teilweise mit abgestandenen Formulierungen, und man hat den Eindruck, dass es ausreicht, dass sie nur erwähnt werden. Reizüberflutung auch hier...
Die Reizüberflutung wird weiter gesteigert durch eine Fülle von Motiven, die sich durch den Roman ziehen. Immer wieder hoppeln Kaninchen durchs Bild, Lichtreflexe zeigen sich und dergleichen – alles jedoch nur Beiwerk, ohne weitere Bedeutung.
Schade auch, dass die Autorin bei ihrem offensichtlichen Sprachtalent ihren Figuren keine authentische Sprechweise verleiht. Alle sprechen gleich, und zwar so, wie auch die Autorin erzählt.
Unbestritten ist aber das Talent der Autorin für witzige und überraschende Formulierungen. Sie kann schreiben, sie kann einem Roman Strukturen geben, und einige ihrer Kapitel wirken wie in sich abgeschlossene und gut durchdachte Kurzgeschichten. Sie beobachtet Missstände bzw. Absonderlichkeiten ihrer Umwelt und gibt diese teilweise komisch überspitzt wieder, aber durch diese Überspitzung kann sie das Wesentliche deutlich konturieren.
Jedenfalls bin ich neugierig auf alles, was noch aus ihrer Feder kommt.
Einige Fakten haben mich gleich auf das Buch "Der Kaninchenstall" von Tess Gunty aufmerksam gemacht: Zum Einen die Tatsache, dass die Autorin für diesen Roman in jungen Jahren bereits den National Book Award erhielt. Zum Anderen auch angesprochene Parallelen zu Phillip Roth und Daniel Foster-Wallace - zwei Größen der US-amerikanischen Literaturszene.
Auf den ersten Seiten wurde mein Interesse am Buch noch verstärkt. Die Ausgangskonstellation des Kaninchenstalls finde ich sehr gelungen: Hier versammeln sich, wenn man so will, die von der Gesellschaft Vergessenen; die Randseiter. In einem Wohnblock, der nicht zufällig als "Kaninchenstall" bezeichnet wird, leben sie quasi zusammengepfercht im fiktiven Ort Vacca Vale, abseits eines Industriestädtchens. Sie leben dort, weil sie sich ein anderes, 'besseres' Leben nicht leisten können: Darunter die 18 jährige kontaktscheue Blandine, die auf Hildegard von Bingen schwört, ebenso wie drei Jungs, die sie allesamt verehren und mit ihr eine Vergangenheit in Fürsorgeeinrichtungen teilen. Auch zur Wohngemeinschaft zählen u.a. eine mit der Mutterschaft völlig überforderte junge Mutter, ein älteres Ehepaar mit Mäusen sowie Joan, die Nachrufe schreibt. So gerät auch Moses, Sohn einer verstorbenen Prominenten, nicht zur WG gehörend, in ihr Visier.
Zu Beginn hat Blandine ein außerkörperliches Erlebnis, dessen konkrete Umstände ich leider auch nicht verstanden habe, nachdem im Buch sehr viel über Blandine und ihre problembehaftete Geschichte berichtet wurde. Überhaupt entwickelte sich das Buch nicht oder nur ansatzweise in die von mir anfangs erwartete Richtung. Spannend wäre es nämlich meine Erachtens gewesen, hier systematisch über die Bewohner des Kaninchenstalls sowie deren (schicksalhafte) Verflechtungen zu lesen. Dieser Bogen zurück hat mir auch am Ende der Geschichte gefehlt.
Die Geschichte empfinde ich als unausgewogen. Neben Blandine nimmt auch Promi-Sohn Moses, einen großen Stellenwert ein. Auch kein leichtes Leben, doch lebt Moses nicht im Kaninchenstall. Es wurde viel, insbesondere Gesellschaftskritisches hineingepackt. Das mag ich grundsätzlich gerne, wenn die einzelnen Aspekte denn systematisch herausgearbeitet werden. Hier gibt es allerdings einen 'overload': Von allgemein kritikwürdigen Zuständen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen bis hin zu individuellen Schicksalen schwerer Kindheiten, Missbrauch etc. - alles wurde hineingepackt. Hier wäre ein wenig weniger am Ende vielleicht deutlich mehr gewesen. Die Autorin verschenkt Potenzial. Denn schreiben kann sie. Auch experimentiert sie mit unterschiedlichen Stilmitteln. Ihre Würdigung mit dem National book award kann ich schon nachvollziehen in gewisser Weise und ich bin sicher, man sollte ihren Namen zukünftig auf dem Schirm haben. Da wird noch Einiges kommen, denke ich. Von der Meisterschaft eines Roth oder Foster Wallace scheint sie aber doch noch weit entfernt zu sein.
Am Ende der Lektüre blieb ich ratlos zurück. Die Gesellschaftskritik ist sehr deutlich und grundsätzlich auch wichtig. Aber ich habe nicht verstanden, was nun die konkreten Umstände der außerkörperlichen Erfahrung von Blandine waren? Auch Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Handlungssträngen erschlossen sich mir nicht. Einen roten Faden gibt es, mir war er jedoch zu locker ausgelegt.
Alles in allem vergebe ich vier Sterne für eine solide, literarische Gesamtleistung. Ich bin froh, eine neue interessante Autorin entdeckt zu haben und bin sicher, sie wird noch von sich hören lassen. Ihre weiteren Werke werde ich sicher im Blick haben.
Die Gestaltung des Buchumschlags hätte mich vorbereiten müssen:
Diese Kombination aus niedlich-harmlosem Titel "Der Kaninchenstall" und psychedelisch-greller und farbenfroher Abbildung einer Wohnhausfront deutet auf einen Roman hin, der einiges an Überraschungen bereithalten könnte. Doch mit dem, was mir dann vor die Lesebrille kam, habe ich nicht gerechnet.
Tess Gunty erzählt in ihrem Debütroman „Der Kaninchenstall", für den sie prompt im Jahr seines Erscheinens (2022) den National Book Award erhielt, die Geschichte der Bewohner eines Hauses in Vacca Vale, einem fiktiven Ort inmitten der größten und ältesten Industrieregion Amerikas, dem sogenannten Rust Belt.
Dieses Haus ist nicht umsonst als „Der Kaninchenstall" bekannt. Denn die Bewohner leben hier eng an eng in ihren kleinen Appartements wie Kaninchen in ihren Verschlägen. Ab und zu läuft man sich im Kaninchenstall über den Weg. Aber im Großen und Ganzen lebt man isoliert.
Einer dieser Bewohner ist die 19-jährige Blandine, welche die Hauptfigur in diesem Buch ist und eine starke Affinität zu den Mystikerinnen der Geschichte hat. Ihr großes Vorbild ist Hildegard von Bingen. Gleich zu Beginn lesen wir, dass es ein blutiges Ende für Blandine nehmen wird. Was bis dahin in der Vergangenheit und insbesondere in den zwei Tagen vor dem blutigen Ereignis geschehen ist, erfahren wir durch weitere Charaktere, die entweder selbst im Kaninchenstall wohnen oder irgendeine Verbindung zu dessen Bewohnern haben. Zu behaupten, dass es sich bei diesen Charakteren um Menschen mit Ecken und Kanten handelt, wäre eine Untertreibung.
Denn die Figuren in diesem Roman haben psychische Probleme in unterschiedlichen Ausprägungen, die sie zu eigenwilligen Verhaltensweisen bringen, so dass man das Personal dieses Romans nicht anders als schräg bezeichnen kann. Blandine ist nur ein Beispiel für diese illustre Gesellschaft. Weitere Beispiele wären der 53-jährige Sohn einer Amerika weit bekannten und beliebten Schauspielerin, der seinen Mitmenschen auf – vorsichtig formuliert und spoilerfrei - kuriose und spektakuläre Weise begegnet und somit bei ihnen bleibenden Eindruck hinterlässt. Oder eine Mrs. Kowalski, die sich allein schon durch ihre Erwerbstätigkeit dem Leser ins Gedächtnis brennen wird: Sie arbeitet bei RESTINPEACE.com, einer Internet-Plattform für Nachrufe und Beileidsbekundungen. Hier prüft sie „Kommentare zu Nachrufen auf Kraftausdrücke, Urheberrechtsverletzungen und üble Nachrede, die die Toten verunglimpft.“ Man wäre überrascht, „…wie gemein manche Leute zu den Toten sind.“
Die Geschichte um den Kaninchenstall präsentiert sich von Anfang an als eine psychedelische Gemengelage aus schrägen Charakteren und einer verrückten Handlung, die unvorhersehbare Wendungen nimmt. Ähnlich turbulent ist auch der Aufbau dieses Romans sowie die wechselhafte Erzählweise: auktoriale und personale Erzähler, Rückblicke, Social Media Posts, Illustrationen anstelle von Text. Und immer wieder mehr oder minder versteckte Verbindungen zu Themen, welche eine Gesellschaft – in diesem Fall die amerikanische – in der heutigen Zeit auf Trab halten. Doch dieses Chaos ist gewollt, so dass es in diesem Roman definitiv nicht langweilig wird. Zudem beherrscht Tess Gunty dieses Chaos. Denn trotz des Durcheinanders lässt sich der rote Erzählfaden in diesem Roman bis zum Schluss erkennen und wird auch nicht lockergelassen.
Sollte man Tess Gunty eines ankreiden, dann ihre Ambition, Themen, die eine moderne Gesellschaft beschäftigen, nahezu lückenlos in ihrem Roman ansprechen zu wollen. Dies ist eine Eigenart, die sich gern bei zeitgenössischen amerikanischen Autoren finden lässt. Diese Kritikansammlung erinnert an das Abarbeiten einer Liste und erscheint mir zu oberflächlich. Ich würde mir hier eine Konzentration auf einzelne Themen wünschen und damit die Möglichkeit zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Da jedoch „Der Kaninchenstall" an Originalität und schriftstellerischer Experimentierfreude nicht zu überbieten ist, lässt sich dieser, „All-you-can-criticize"- Ehrgeiz von Tess Gunty leicht verschmerzen.
Leseempfehlung!
" Der Kaninchenstall" von Tess Gunty ist ein eher eigenwilliges Buch. Eigenwillig allerdings nicht in negativem Sinne. Es entzieht sich manchmal den Erwartungen, ihre Figuren agieren nämlich manchmal sehr bizarr, dennoch erschließt sich am Ende warum sie so handeln. Wahrscheinlich hört sich das merkwürdig an, deshalb möchte ich ein Beispiel nennen. Eine der Hauptfiguren bringt sich nämlich zum leuchten, um dann andere Menschen zu erschrecken, in dem er als Leuchtmensch nachts in deren Zimmern auftaucht. Wirr, aber es ergibt Sinn, wenn man den Hintergrund und die Beweggründe dieser Person kennengelernt hat. Hiermit habe ich das krasseste Beispiel gewählt, es gibt auch ganz normale Dinge, die diesen Roman aber trotzdem zu etwas einzigartigen machen.
Die grundlegende Handlung setzt sich aus vielen Personen zusammen, die fast alle in einem Gebäudekomplex wohnen, der sich Kaninchenstall nennt. Der Leser lernt alle kennen, ein Mädchen, Blandine Watkins, die in einer WG mit drei Jungen dort lebt, nimmt allerdings eine größere Rolle ein, als andere Einwohner.
Blandine ist die Person, von der der Leser direkt auf den ersten Seiten erfährt, dass ihr schlimmes geschehen wird. Man fiebert während des gesamten Buches der Auflösung und den genauen Umständen entgegen.
Gefallen hat mir vor allem der Stil am Anfang und am Ende, wo in eher kürzeren Passagen viele Schicksale der Bewohner beschrieben werden. Man bekam das Gefühl, dass der Gebäudekomplex tatsächlich wie ein Stall fungiert, und man hatte die einzelnen Käfige förmlich vor Augen.
In der Mitte des Romans verdichtet sich die Handlung um Blandine, und um Moses, den Leuchtmenschen, und die anderen werden eher zum Nebenprodukt.
Die Autorin schafft es mit ihrem Roman zusätzlich einiges an Sozialkritik anzubringen, wobei mir da einiges doch schon zu offensichtlich eingetrichtert wurde.
Gelesen habe ich den Roman definitiv sehr gerne, die kleinen Kritikpunkte, konnten den Genuss insgesamt kaum schmälern. Allein schon wegen seiner Andersartigkeit empfehle ich ihn gerne weiter. Die Auswahl auf dem Markt ist riesig, da sollte man durchaus hervorheben, wenn jemandem etwas originelles gelungen ist. Danke Frau Gunty
Ein Kaninchenstall, wie niedlich! Doch dieser Roman ist alles andere als niedlich, wie bereits in dessen erstem Satz deutlich wird. Zentrale Figur ist das Mädchen Blandine Watkins, das bei wenig liebevollen Pflegeeltern in den USA aufgewachsen ist. Dementsprechend ist Blandine traumatisiert und verstört und sucht Halt in der katholischen Mystik, insbesondere in den Lehren von Hildegard von Bingen.
Doch sie ist nicht die Einzige mit Problemen in Vacca Vale, einer sterbenden Kleinstadt im Rust Belt der USA. In schlaglichtartigen Szenen und im Reihungsstil gewährt der Roman Einblicke in das Leben und die teils verstörenden psychischen Untiefen verschiedenster Bewohner, vor allem des „Kaninchenstalles“, einem heruntergekommenen Wohnkomplex.
Ein interessanter Aspekt des Romans sind die immer wieder auftauchenden Motive, die das Lesen zu einer Art Spurensuche werden lassen und wirklich Spaß machen. Das Motiv der Kaninchen etwa zieht sich in unterschiedlichsten, auch popkulturellen Anspielungen durch den gesamten Roman. Leider ergeben diese Motive jedoch insgesamt keinen rechten roten Faden. Die zu Beginn des Romans geweckte Erwartung, dass nach und nach die verschiedenen Bewohner des „Kaninchenstalls" vorgestellt und ihre Schicksale verknüpft werden, wird am Ende nur im Ansatz eingelöst und lässt den Leser etwas unbefriedigt zurück. Vieles bleibt offen, was jedoch zu einem postmodernen Roman passt.
Auch andere Fährten, die gelegt werden, seien es Bezüge zu Mystik, Literatur, Popkultur oder Gesellschaftskritik, lassen viel Raum für Assoziationen. Jedoch wirken diese schlussendlich eher wie eine Spielerei, da die losen Enden öfter nicht recht zueinander finden
Eine Stärke des Romans sind die Kontraste. So finden unterschiedlichste Textarten Verwendung, von Briefen über Blogbeiträge bis hin zu fast lyrischen Passagen. Der Roman untergliedert sich dadurch nicht nur in zahlreiche, meist kurze Kapitel, sondern auch in unterschiedliche Stile. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Kombination von ernsten, verstörenden Themen sowie der immer wieder durchscheinenden Ironie, die dann ganz im Kontrast dazu als eher augenzwinkernde Gesellschaftskritik verstanden werden kann.
In Kombination mit dem Anreißen sämtlicher sozialer, ökologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme, wird Tess Guntys „Kaninchenstall" zu einem Spiegel einer problembehafteten, zersplitterten Gesellschaft – nicht nur in den USA. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Autorin, von der man in Zukunft noch Großes erwarten kann, den National Book Award 2022 gewonnen hat.
Obwohl manches nicht aufgelöst wurde, hat mir das (Fährten)Lesen viel Spaß gemacht und deshalb von mir auf jeden Fall eine Leseempfehlung!
Wenn man unkastrierte Kaninchenböcke zusammen in einem Käfig hält, so beißen sie sich gegenseitig tot. Blandine aus C4 wohnt gleich mit 3 Jungs in ihrem Alter zusammen. Sie haben sich bei der Jugendfürsorge kennengelernt und versuchen jetzt ins Erwachsenenleben zu starten. Blandine ist fasziniert von Hildegard von Bingen und anderen Mystikerinnen, hat einen hohen IQ und ärgert sich über die Umbaupläne der Stadt, die den verwilderten Park in Vacca Vale zu einem neuen Industriestandort revitalisieren sollen. Vacca Vale liegt mitten im Rust Belt der USA.
Unter der Wohngemeinschaft hat Joan ihre Zelte aufgeschlagen. Sie arbeitet für eine Firma die Nachrufe verwaltet und hat sich kürzlich mit einem Hinterbliebenen angelegt, dessen Bemerkungen über seine verstorbene Mutter sie gelöscht hat.
Ida und Reggie wohnen in C6. Sie sind alt und ärgern sich über den Lärm im Haus und über die toten Tiere, die regelmäßig auf ihrem Balkon landen.
Eins höher kämpft Hope um ihre geistige Gesundheit. Sie ist vor kurzem Mutter geworden und hütet ein beschämendes Geheimnis. Außerdem gib es noch einen Teenager in einem der hellhörigen Apartments, der gern irgendwo dazugehören möchte und einen Witwer, der inzischen einen Hass auf Frauen kriegt, vor allem jenen, die ihm auf seinem Datingprofil blöde Bemerkungen hinterlassen.
Keine gute Mischung, keiner ist zufrieden mit seinem Leben und über die Nachbarn wird nur kurz nachgedacht, wenn mal wieder zu viel Lärm herrscht, oder tote Tiere auftauchen.
Das Verhängnis, dass eigentlich schon viel früher in Blandines Leben begonnen hat, nimmt vollen Anlauf... und meint es eigentlich ganz anders.
Die 1993 in South Bend, Indiana (eben jenem Rust Belt) geborene Tess Gunty entwirft mit ihrem Debütroman ein amerikanisches Abbild der Menschen, die die große Mitte der Gesellschaft sind. Gleich der Naiven Malerei, erkennt man klar umrissene Strukturen, plakativ, aber spannend. Sie konzentriert sich dabei mit großer Selbstverständlichkeit auf die Dinge, die in unserer modernen Welt schief laufen. Die schreiend bunten Farben des Hauses auf dem Cover mögen für die unterschiedlichen Dämonen der Bewohner stehen, verdecken aber geschickt die schwarzen Abgründe, die sich (im wahrsten Sinne des Wortes) im Inneren verbergen.
Ein mutiger Mix, von Sophie Zeitz souverän übersetzt, macht Laune, liest sich wie geschnitten Brot und provoziert vielleicht ein offeneres Auge für die eigenen Nachbarn.
In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. Das ist wild, überbordend und experimentell.
Gleich zu Beginn erfahren wir, dass die 19jährige Blandine Watkins in einer heißen Sommernacht aufgeschlitzt auf dem Boden ihrer WG-Apartment C4 liegen und ihren Körper im Zuge dessen verlassen wird. Das Apartment ist eins von vielen in einem günstigen Sozial-Wohnblock, genannt „Der Kaninchenstall“. Sofort wird aber der Blick von dieser angerissenen Szenerie wieder weg gelenkt hin zu anderen Apartments, hin zu anderen Bewohnern dieses Sozialbaus. Wir treten einen Schritt zurück ein paar Tage in die Vergangenheit und nähern uns dann zusammen mit verschiedenen Beteiligten erneut dieser verhängnisvollen Nacht.
Über verschlungene Pfade erfahren wir stückchenweise mehr über den Hintergrund von Blandine, aber auch von anderen Personen, sogar gerade verstorbenen, die gar nichts mehr zum eigentlichen Plot beitragen. Durch diese Methode nimmt die Autorin Personen aus der Hollywood-High-Society ebenso ins Visier wie ganz einfache Menschen mitten im Nirgendwo der USA. Wir lernen einen Ort, Vacca Vale, südlich des Lake Michigan gelegen, kennen, der mit der Reagan-Ära anfing unterzugehen und sich nun versucht neu zu erfinden. Statt Auto- und Metallindustrie sollen digitale Start-Ups in den Ort gelockt werden. Dafür muss ein (das einzige) Naherholungsgebiet des Ortes bebaut werden, etwas, was Blandine nicht akzeptieren will und sich dagegen wehrt.
Aber eigentlich ist es schwer, die Handlung dieses Buches sinnvoll zu illustrieren. Greift doch der Roman sehr viele aktuelle gesellschaftliche Themen der USA auf. Die Protagonisten sind vielmehr Spiegel der Gesellschaft. In ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen erkennt man sehr heiß diskutierte Themenkomplexe der vergangenen Jahre wieder. Machtmissbrauch und Missbrauch durch Personen mit Macht, Klimawandel und Umweltkatastrophen, soziale Medien und dadurch unsozial gewordene Menschen, und und und. Häufig bringt die Autorin diese Themen ganz latent durch ihre Figuren ein, manchmal aber auch mit der Holzhammer-Methode, wenn gerade Blandine (durchaus pointierte und nachvollziehbare) Monologe zu Problemthemen hält. An einer Stelle hat mich das gestört, da es nicht mehr zur Romanhandlung zu passen und Blandine in diesem Moment aus ihrer Rolle innerhalb der Szenerie zu treten scheint. Im Großen und Ganzen konnte ich allerdings akzeptieren, dass dieses Anreißen von Themen dem Stil dieser jungen amerikanischen Autorin, die scheinbar alle sie belastenden Themen in ihr Erstlingswerk einbringen wollte, entspricht. Mein Lesefluss wurde dadurch nicht unterbrochen.
Über weite Strecken bin ich der Autorin sehr gern in ihr wildes Wimmelbild der maroden amerikanischen Gesellschaft gefolgt, vor allem, da sie immer wieder (pop-)kulturelle Motive aufgreift, die sich durch den Roman ziehen. So tauchen immer wieder weiße Kaninchen auf, die eine potentielle Realitätsflucht, ähnlich wie Alice dem weißen Kaninchen in seinen Bau und damit ins Wunderland gefolgt ist, andeuten. Auch Parallelen zur Dorothy („Der Zauberer von Oz“) werden angedeutet. Taucht dann auch noch im Buch ein verstorbener Kinderstar auf, muss man gleich an Judy Garland denken, die die Dorothy mimte. Neben diesen Anspielungen, von denen ich wahrscheinlich nur die Hälfte erkannt habe, ist der Roman aus wiederkehrenden Motiven zusammengesetzt. So geht es immer wieder um Reizüberflutung, überreizte Haut, Hypersensibilität, Mystik bzw. Mystikerinnen vergangener Jahrhunderte, psychedelische Farben und andere Wahrnehmungselemente. Traumatisierung einzelner wird mit Kapitalismuskritik gepaart. Ab und an könnte der Roman dadurch überladen wirken, ergibt aber meines Erachtens im Gesamtkonzept Sinn und lässt nachvollziehen, warum die Autorin mit David Foster Wallace vergleichen wird, auch wenn sie seine Klasse definitiv (noch) nicht erreicht.
Allein mit dem Ende des Romans konnte ich weniger anfangen. Für mich wirkte das Ganze nicht so richtig rund und ließ mich eher unbefriedigt zurück. Ohne um den heißen Brei herumzureden: Ich habe das Ende wahrscheinlich auch gar nicht gänzlich verstanden.
Insgesamt hat mir dieser Roman aber sehr gut gefallen. Ich bin Tess Gunty sehr gern in den Kaninchenstall gefolgt, war angefixt durch die Rahmenhandlung, deren Grundstock ja schon auf den ersten beiden Seiten gelegt wurde und habe ihre Anspielungen bzw. die Suche nach diesen geliebt. Von mir gibt es daher eine Leseempfehlung für Mutige, die einen experimentellen Stil mit wechselnden Erzählperspektiven und mitunter visuellen Elementen gepaart mit Gesellschaftskritik auf vielen Ebenen gern lesen. Eine neue kreative literarische Stimme, die ich gern in der Zukunft weiterverfolge.
4/5 Sterne
Leben im Wohnsilo
Kurzmeinung: Es hat gedauert, bis ich uneingeschränkten Zugang fand. Viel Personal, - bis man mal herausfindet, wer was darstellt ... !
Die nicht allzu große, aber auch nicht allzu kleine Stadt Vacca Vale, im Chastity Valley, Indiana gelegen, ist heruntergekommen. Die meisten Stadtviertel sind trostlos, manche noch trostloser. In einem dieser abgehängten Viertel steht ein Wohnklotz, heruntergekommen auch dieser, Wohnkomfort gering, Mieten günstig und/oder vom Amt bezahlt. Man nennt ihn im Volksmund den Kaninchenstall, weil er vor Leben wimmelt. Ein Ausdruck, der viel zu positiv besetzt ist, also noch einmal anders, weil dort, wie in einem Kaninchenstall, die Bewohner auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Die Wände sind dünn, die Isolierung marode, alles ist marode. Hier wohnen die absolut Abgehängten, die Asozialen und welche, die noch nicht asozial sind, es aber voraussichtlich bald werden, die Verzweifelten, die zu kurz Gekommenen, diejenigen, die von der Gesellschaft geächtet werden.
Das einzig hübsche, was Vacca Vale zu bieten hat, ist ein großer, wild wuchernder Grüngürtel, eine Mischung aus verwildertem Park und Wald. Dieser Grüngürtel ist einer der wenigen Freuden die Tiffany Joan Wilkes genießen kann. Sie ist eine siebzehnjährige Waise, die in einer Wohngruppe im Kaninchenstall lebt. Tiffany ist eine Naturliebhaberin, Vegetarierin und Tierfreundin. Sie hat Ideale, aber keine Zukunft. Jedenfalls sieht sie das so. Weil Vacca Vale keine Zukunft hat. Denn die Stadträte haben zur wirtschaftlichen Rettung Vacca Vales, zur sogenannte Revitalisierung, einen teuflischen Plan aufgelegt: Die Gentrifizierung des Kaninchenstalls und die dortige Ansiedlung von Industrie, wofür der breite Grünstreifen geopfert werden soll. Tiffany ist deprimiert, die Anwohner sollen verschwinden und Tiere und Pflanzen sollen zerstört werden. Als ob das nicht genug wäre an desolaten Lebensumständen, erliegt Tiffany der toxischen Beziehung zu einem älteren Mann.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Das LeseErlebnis kann ich nur als „reichlich strange“ bezeichnen. Die Bewohner des Romans leben nicht alle im Kaninchenstall, sie sind aber alle reichlich durchgedreht. Keiner tickt so richtig rund. Im Zentrum aber steht Tiffany, die blitzgescheit, jedoch emotional nicht stabil, zwar durchschaut, was mit ihr passiert, und sogar verbalisiert, dass ihr Verführer sie physisch wie psychisch ausnutzt, aber trotzdem nichts dagegen machen kann. Tiffany muss man lieb gewinnen, die Autorin führt alle Handlungsstränge am Ende zusammen, aber dennoch habe ich den Roman als ein wenig zerfasert erlebt. Hier ein Stückchen Puzzle und dort ein Puzzleteilchen und diese abgefahrenen Typen immer mittendrin, die alle irgendwelchen Obsessionen frönen, das ist, salopp gesagt, einfach nicht mein Ding gewesen, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Lektüre im englischen Original war mühsam; die Buchstaben in meiner Ausgabe so klein wie Mäuseköttel. Beides führte nicht zu einem ungeschmälerten Lesegenuß; aber man lebte sich ein, so wie sich die Bewohner des Kaninchenstalls einlebten: wohl oder übel.
Fazit: Die Ausführung des Romans ist im Prinzip gut gelungen, die ersten 100 Seiten empfinde ich jedoch als holprig, es dauert, bis ich mich zurechtfinde, die Ideen sind frisch. Der Roman hat einen Preis gewonnen, den National Book Award, 2022. Was will man mehr? Man sollte freilich etwas übrig haben für ungewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Gedanken und Hobbies, zum Beispiel Tiere quälen oder Hildegard von Bingen oder Verführung Minderjähriger. Ok, das ist zynisch. Den vierten Stern rücke ich etwas widerwillig heraus.
Kategorie: Anspruchsvoller Roman mit hohem Unterhaltungswert
Verlag: Oneworld Publications, 2023 /gelesen im englischen Original
Kiepenheuer & Witsch, 2023
National Book Award, Winner, 2022