Kaltfront: Storys
„Kaltfront“, die Geschichtensammlung von Selahattin Demirtaş, entstand im Gefängnis. Die besonderen Umstände des Autors und Politikers, der sich seit vielen Jahren in türkischer Haft befindet, machen den Ursprung der Sammlung zu etwas Einzigartigem und allein aus diesem Kontext heraus verdienen sie Beachtung. Vor diesem Hintergrund fällt es nicht leicht, etwas Kritisches zu sagen, aber wenn ich den literarischen Anspruch und vor allem den sprachlichen Stil bewerten sollte, kann ich leider nicht umhin, einige Schwächen hervorzuheben.
Zunächst finde ich die Zusammenstellung der Stories insgesamt gewöhnungsbedürftig. Während zu Beginn sehr viel Ernsthaftigkeit und Tragik und vor allem auch politische Haltung die Thematik bestimmt, werden spätere Geschichten zum Teil von humoristischer Anekdotenhaftigkeit geleitet. Die Story "Das Versuchskaninchen" ist z.B. ein ausgedehnter Witz, während "Das Holzlager" und "Ein Mensch bleiben" starke Betroffenheit auslösen. Das bietet zwar Abwechslung, aber es ist nicht sonderlich homogen.
Die Geschichten sind alle in sehr einfacher Sprache ohne große Finesse gehalten, sie sind teilweise sprachlich so simpel, dass sie mich eher an Schulaufsätze als an literarische Short Stories erinnern. Dazu kommt, dass die Variabilität in der Erzählstimme, vor allem dann, wenn es sich um einen Ich-Erzähler handelt, auf den der Autor recht häufig zurückgreift, nicht gegeben ist. Fast alle Ich-Erzähler sind in ihrer Stimme austauschbar, so stark ähneln sie sich. Die für mich von allen interessanteste Geschichte "Das Königreich meines Vaters" ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass Demirtaş die Variation von Erzählperspektiven nicht sehr liegt. So lässt er den verstorbenen Großvater das Familiengeheimnis innerhalb der Erzählung seines Onkels wieder aus der Ich-Perspektive lösen. Obwohl mir die Geschichte am besten gefallen hat, arbeitet auch sie recht chronologisch und schöpft ihr inhaltlich angelegtes Grundpotential erzähltechnisch nicht aus. Insgesamt herrscht bei allen Stories eine sehr limitierte, simple Weltsicht vor, die zumeist dem gewählten Hinterrund der Erzähler geschuldet ist. Zeitweise habe ich mich gefragt, ob die Übersetzung der Stories einfach nicht gelungen ist, da es sich bei Gerhard Meier aber um einen renommierten und erfahrenen Literaturübersetzer handelt, gehe ich davon aus, dass diese Einfachheit im Original bereits vorhanden ist.
Ähnlich simpel sind die Geschichten konzipiert. Sehr viele Enden sind vorhersehbar, die Aussagen offenbaren sich schon während der Lektüre und die für Kurzgeschichten typische Polyvalenz ist begrenzt, Erwartungsbrüche gibt es nicht. Nach zwei Geschichten ging ich dazu über mich schon während der Lektüre zu fragen, worauf die jeweilige Story hinauslief und lag meist richtig.
Über weite Strecken habe ich den Band eher wie eine literarische Fingerübung, ein Experiment empfunden, in dem ausgelotet werden soll, ob die Ideen und Texte Potential haben. Für mich wirken die Geschichten noch unfertig, noch nicht ausgereift, was den Anspruch betrifft.
Für die Geschichten spricht, dass sie einen Blick auf die heutige Türkei werden, die türkische Gesellschaft kommentieren, über Unfreiheit, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Diskriminierung berichten und einen besonderen Blick auf Armut und soziale Benachteiligung werfen. Als politische Perspektive auf die Türkei (auch wenn nicht alle Stories eine politische Komponente haben), hat die Sammlung einen großen Mehrwert, in dieser Hinsicht ist sie überaus informativ und lehrreich, auch wenn sie mich auf literarischer Ebene leider nicht überzeugen konnte.
Um ehrlich zu sein, habe ich mich völlig unvoreingenommen auf den Kurzgeschichtenband eingelassen. Erst während der Lektüre erfuhr ich vom Schicksal Demirtas' - seiner Inhaftierung in der Türkei, während der die Geschichten entstanden. Selahattan Demirtas ist ein pro-kurdischer Oppositionspolitiker, der 2014 gegen Erdogan als Präsidentschaftskandidat antrat. Zwei Jahre später wurde er verhaftet und inhaftiert, da ihm vorgeworfen wird, Kontakte zur PKK zu haben. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte die Türkei vergeblich auf, den für den Friedenspreis nominierten und mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Weimar ausgezeichneten, politischen Denker freizulassen. Demirtas hat viel zu sagen. In Deutschland erschien bereits 2018 der Kurzgeschichtenband "Morgengrauen" mit zwölf Geschichten. Nun folgt mit "Kaltfront" ein weiterer, 14 Geschichten umfassender Erzählband.
Im Mittelpunkt stehen die Ärmeren und Schwächeren der Gesellschaft sowie gesellschaftliche Problematiken der Türkei im Allgmeinen. Auch das politische System und dessen Funktionsweise wird vom Autor kritisch unter die Lupe genommen. Der Leser lernt durch die Lektüre viel über die Türkei, ihre Themen und inneren gesellschaftlichen wie auch politischen Probleme. Es hat mir sehr gut gefallen, wie Demirtas auf knappen Raum verdichtet, in die "Seele der Türkei" blickt, wie es auf dem Rückentext des Buches heißt. Die Geschichten des Buches weisen märchenhafte Züge auf und implizieren nicht selten eine "Moral von der Geschichte". Meine persönlichen Favoriten sind u.a. "Das Rad dreht sich", "Das Holzlager", "Der Straßenraub" und "Barans Wiege". Diese Geschichten haben mich ganz besonders berührt und sind sehr plastisch und ausdrucksstark erzählt. Bei der Lektüre war ich immer wieder erstaunt, wie viel der Autor auf knappen Raum und mit begrenzten rhetorischen Mitteln zu sagen vermag. Ich war fasziniert und begeistert von der sehr eigenwilligen und besonderen Erzählweise, die Demirtas gefunden hat, um der Gesellschaft der Türkei, einen Spiegel vorzuhalten. Angesichts der konkreten Umstände ist es sicher auch ein recht mutiges Buch. Einige Geschichten werden sicher noch länger in mir nachhallen, ist es dem Autor doch wiederholt gelungen, mich emotional nicht nur zu erreichen, sondern mich auch zu erschüttern.
Ich bin froh, dass ich mich nach anfänglichem Zögern doch entschied, die Leserunde zu nutzen, um diesen Autoren zu entdecken. Es hat sich für mich voll ausgezahlt, so dass ich "Kaltfront" nicht nur gerne weiter empfehle, sondern auch die Augen nach weiteren literarischen Werken des Autoren offen halten werde.
Jede Geschichte eine neue Chance, zur Reflektion und persönlichen Meinungsbildung.
Mit der Veröffentlichung von:
- Kaltfront -
möchte der kurdische Autor Selahattin Demirtaş, Menschen im In-& Ausland, zur Reflektion über die politische, türkische Realität anregen.
Der Kurde und Politiker ist seit Jahren inhaftiert & hat währenddessen mit dem Schreiben begonnen.
Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit seinem Urteil 2020, dazu aufforderte Demirtaş freizulassen, ist dies bisher nicht geschehen.
Meine Erwartungen und Leseeindruck
Ich war wirklich sehr auf dieses Buch gespannt.
Die persönliche Geschichte des Autors hat mich schon vorab berührt.
Zudem kann & konnte ich nur schwer nachvollziehen, dass die Türkischen Politgrößen, Selahattin Demirtaş weiterhin inhaftiert, halten. Vor den Augen der Welt.
Mein persönlicher Eindruck zu dem Buch:
Endlich hielt ich die handliche, gebundene Ausgabe,157 Seiten umfassend, in meinen Händen.
Auf dem Coverbild sehe ich ein Berg-Dorf, mit Minarett und schneebedeckten Berg im Hintergrund.
Der in Blautönen gehaltene Umschlag strahlt Ruhe und aber auch eine gewisse Kälte aus.
Obwohl mir die Gestaltung gefällt. - Neugierig hat sie mich nicht werden lassen.
Erzählstil:
Das Buch enthält Kurzgeschichten. Dem Schriftsteller ist es gelungen, auch teilweise sehr tiefschürfende Geschichten in diese Form der Literatur erfolgreich einzubetten.
Insgesamt lässt sich jede Geschichte sehr gut lesen. Die meisten lassen mich innehalten & animieren mich, mir eine persönliche Meinung über die jeweiligen Aussagen, zu bilden.
Die Geschichten werden aus der Perspektive des Erlebenden erzählt, so habe erhalte ich den Bericht sozusagen, immer aus erster Hand.
Das aus der jeweiligen Geschichte herausragende Fazit animiert mich zur persönlichen Meinungsbildung und hat somit einen weitergehenden Einfluss auf mich.
Einen, oder den roten Faden der Sammlung, konnte ich nicht feststellen.
Deutsche Übersetzung:
Gerhard Meier hat hier wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Das gesamte Buch ist von ihm in ein sehr flüssig lesbares Deutsch übersetzt worden. Auch ist es ihm gelungen, selbst feine humorvolle als auch traurige Nuancen in diese gut lesbare Übersetzung, einzuarbeiten.
Zusammenfassung & Fazit:
Diese Geschichten Sammlung hat mich, mit seiner breiter Pallette, unterschiedlichster Geschichten beeindruckt.
Ebenso wie sich die Stories voneinander unterscheiden, so differenzieren sich deren Input auf meine Emotionen und Gedanken.
Durch Reflektion des Gelesenen habe ich schnell, eine tiefgreifende Neugier auf die Hintergründe türkischer Politik und den sozialen Verbindungen, innerhalb der türkischen Gesellschaft entwickelt. Daraufhin habe ich mich über viele der angesprochenen Themen weitergehend informiert.
Fazit:
Eine handwerklich gut gelungene Geschichtensammlung, die für jeden Leser etwas zu bieten hat.
Durch die persönliche Erzählweise, werden die Gedanken der Leserschaft animiert. Dies resultiert in einer individuellen zum Teil sehr persönlichen Meinungsbildung.
Ich hätte ich mir für dieses Buch eine etwas kraftvollere & außergewöhnliche Covergestaltung gewünscht.
Hierdurch würden sicher noch mehr Leser auf das Buch aufmerksam werden. Was wirklich wünschenswert ist.
Der Lesestoff eignet sich hervorragend für jede Art von Buchzirkeln oder anderen literarischen Lese - & Diskussionsgruppen.
Ich vergebe überzeugte sehr gute 4 * Lesesterne!
ISDN: 978-3-328-60157-9
Veröffentlichung: 28.06.2023
Verlag: Penguin
Formate: Gebundene Ausgabe und elektr. Format
Der kurdische Politiker Salahan Demirtaş (*1973) war bis 2018 Co-Vorsitzender der türkischen Oppositionspartei HDP; seit 2016 sitzt er im Gefängnis. Dort sind auch diese Erzählungen entstanden, was schon allein sehr beeindruckend ist und von Charakterstärke zeugt. In Folge erwartet man Inhalte mit politischer Relevanz, mit Kritik am System Erdogan sowie seinem radikalen Vorgehen gegen die kurdische Minderheit. Man wird diesbezüglich nicht enttäuscht, jedoch hat der Autor ein weit größeres Arsenal an Themen und Stimmungen zu bieten.
Im Mittelpunkt der Storys stehen meist die einfachen Leute. Mit wenigen Federstrichen wird der deutsche Leser in eine andere Welt katapultiert, die nichts mit den Touristenmeilen an der Türkischen Ägäis zu tun hat. Es geht primär um die Armen, die Abgehalfterten, der Bildungsfernen. Demirtas zeigt uns die raue Welt der Tagelöhner und Niedriglohnarbeiter, die keine Lobby haben und die dadurch den Obrigkeiten ausgeliefert sind. Geschickt werden diese Schicksale stets mit moralischen Fragen und Wertevorstellungen verknüpft, so dass sich der Leser oft fragen darf: Wie hätte ich an seiner/ihrer Stelle reagiert?
Deutlich wird auch, dass man in der Türkei kein Sozialsystem erwarten darf, das auch nur annähernd mit unserem vergleichbar wäre. Menschen, die nicht arbeiten können, sind von Almosen abhängig. Eine Folge davon sind Kleinkriminalität, Obdachlosigkeit und bittere Armut. Der Staat zeigt sich nur in seiner Allmacht, seinen Autoritäten. Er und seine Beamte hören den Menschen nicht zu, es wird über die Köpfe des Volkes hinweg entschieden, Opposition und Demonstration werden hart bestraft. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst und Kontrolle. Man fühlt sich als hiesiger Leser aus der Zeit geworfen und in die Vergangenheit zurückversetzt.
Um all das zu zeigen, zeigt uns Demirtaş vielerlei Schauplätze. Da ist der Oberstaatsanwalt i.R., der einst an einem tödlichen Unrechtsurteil beteiligt war. Er reist zu den Eltern des damaligen Delinquenten, um sein Gewissen zu erleichtern. Das Treffen läuft völlig anders ab als erwartet – und bietet eine Fülle an Diskussionspotential. Wir lernen Menschen kennen, die mit oder ohne gute Ausbildung keine Chancen am Arbeitsmarkt haben, die von Arbeitgebern ausgenutzt und mit voller Härte bestraft werden, wenn sie sich zu wehren oder gewerkschaftlich zu organisieren versuchen. Die Perspektiven für junge Leute sehen schlecht aus und bieten wenig Wahlmöglichkeiten. Wer ins Geschäft eines Verwandten einsteigen kann, ist gut dran, hat allerdings ebenfalls Abhängigkeiten zu berücksichtigen.
Jede der vierzehn Erzählungen steht für sich und hat einen anderen Fokus. Man muss sich schnell umstellen, die Geschichten haben zwischen drei und dreiundzwanzig Seiten. Jede einzelne wirkt intensiv für sich, manche endet mit einem Paukenschlag, manche zeigen auch Zeichen der Hoffnung oder Veränderung. Der Autor gibt sich nicht mit bloßen Zustandsbeschreibungen zufrieden. Er fordert Zivilcourage, Solidarität, Nächstenliebe und moralische wie humanistische Werte. Fehlt es daran, muss man mitunter lebenslang mit seinen Schuldgefühlen und Gewissenskonflikten zurechtkommen. Die Stories wurden in schöner Sprache und einfach verständlich geschrieben, einzelne empfinde ich vom Aufbau her etwas märchenhaft-orientalisch. Die Übersetzung von Gerhard Meier wirkt sehr flüssig und gelungen.
„Kaltfront“ ist ein beeindruckendes Werk. Das schriftstellerische Talent seines Urhebers muss man unbedingt anerkennen. Wenn Selahattin Demirtaş schon im Gefängnis so vielseitige Erzählungen verfassen kann, wie erst würde sich seine Stimme in Freiheit anhören?
Große Leseempfehlung für alle Freunde der kurzen Form, die sich mal in andere, weniger beschauliche Gefilde als Mitteleuropa vorwagen wollen und politisch wie gesellschaftlich relevante Texte schätzen.
Bei dem vorliegenden Buch fällt es mir besonders schwer, eine Bewertung am Ende der Rezension abzugeben. Diese Schwierigkeit ergibt sich aus den Umständen der Entstehung der im Buch versammelten Kurzgeschichten von Selahattin Demirtaş. Dieser sitzt nämlich derzeit 2016 in politischer Haft in der Türkei, war er noch in 2014 gegen Erdogan als Präsidentschaftskandidat angetreten. Aus der Haft heraus sind nun die vorliegenden Kurzgeschichten entstanden. Ich habe mich dafür entschieden, das Buch „Kaltfront“ nach meinen literarischen Leseendrücken zu bewerten und nicht nach ethisch-moralischen Gesichtspunkten zur Entstehung.
Demirtaş beschäftigt sich mit dem kurdischen Leben innerhalb der türkischen Gesellschaft. In den 14 Kurzgeschichten geht es gerade zu Beginn sehr stark um die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei. Meist enden die Geschichten mit einem dramatischen Paukenschlag. Im weiteren Verlauf gesellen sich auch leichtere Geschichten, die sogar komische bis tragikomische Inhalte haben, hinzu. So werden ungerechtfertigte Verurteilungen, miserable Arbeitsbedingungen, politische Unfreiheit angeprangert, sich später aber auch über die Last der Ehe oder die kuriose Nebenwirkung eines Medikamententests ausgelassen.
Sprachlich sind die Geschichten eher simpel angelegt, bergen keine literarischen Überraschungen und erfordern beim Lesen wenig Anstrengung dahingehen. Auch inhaltlich ist ein Großteil der Geschichten eineindeutig angelegt. Sie vermitteln meist eine klare Botschaft, an der ethisch-moralisch meist nicht mehr viel zu deuten ist. Die Figuren sind zum größten Teil bezüglich ihrer ethischen Position in den Geschichten klar einzuordnen in gut oder böse. Gut sind die kurdischen, ländlichen Menschen, böse der Staat mit all seinen Auswirkungen auf die Menschen. Keine Frage, der Autor hat eine Agenda, die er verdeutlichen möchte. Wer kann es ihm verübeln nach sieben Jahren in politischer Gefangenschaft?
Mir hat die Sortierung der Geschichten im Buch nicht sonderlich gefallen. Zunächst wird Schlag auf Schlag ein dramatisches Schicksal nach dem nächsten auf die Leserschaft losgelassen, um im Mittelteil zu verblassen und sogar humoristisch zu werden, um dann zum Ende hin noch einmal ein bisschen anzuziehen. Mir hätte hier eine stärkere Durchmischung der Geschichteninhalte gefallen. Es fiel mir dadurch schwer, die Lektüre des Buches zu beenden. Auch ist die Taktung mit 14 Geschichten auf 155 Seiten recht hoch. Die Kurzgeschichten machen ihrem Namen alle Ehre, das macht es aber auch anstrengend. Normalerweise bin ich ein Kurzgeschichten-Fan und politisch interessiert und kann Sammlungen dieser Art sogar am Stück lesen. Hier ist trotz Pausen in der Lektüre das Lesen zunehmend schwer gefallen. Im Gedächtnis bleiben werden mir wahrscheinlich nur vereinzelte der 14 Geschichten.
Insgesamt empfinde ich die Deutungsmöglichkeiten der Geschichten als eingeschränkt. Ich hätte mir mehr Zwischentöne gewünscht. Wer Kurzgeschichten mag, die straight forward angelegt sind, ist hier richtig. „Kaltfront“ hat geholfen, einen kleinen Einblick in die Lebensumstände unter dem Regime von Erdogan zu bekommen. Es ist solide geschrieben und eventuell eine gute Einstiegslektüre zu diesem Themenbereich. Auf jeden Fall gebührt dem Autor mein voller Respekt für seinen Mut.
3,5/5 Sterne
Kurzmeinung: Ich bin begeistert!
Selahattin Demirtaş ist ein kurdischer Politiker, der aus politischen Gründen seit 2016 in einem türkischen Gefängnis ist. Mit Hilfe von Anwälten, Verwandtschaft und Freunden gelingt es ihm, der in der Haft angefangen hat zu schreiben, die Öffentlichkeit zu erreichen und zu publizieren.
Die 14 Kurzgeschichten in dem nur knapp über 150seitigen Büchlein des Verfassers Selahattin Demirtaş zeichnen sich sowohl durch ihre Kürze, eine davon ist nur 3 Seiten lang, wie auch durch ihre Durchschlagkraft aus! Da ist keine Geschichte blass, hinter jeder Story könnte ein Ausrufezeichen stehen! Die Geschichten bringen es immer wieder auf den Punkt: in der Türkei läuft es nicht rund, vor allem nicht für die kurdische Minderheit. Für sie wirkt sich das politische System der Türkei in allen Bereichen negativ aus.
Selahattin Demirtaş Kurzgeschichten handeln sowohl von der Armut mancher Landstriche der Türkei wie auch von dem komplizierten Verhältnis zwischen der Türkei und der kurdischen Minderheit, vor allem aber vom politischen System, das den Menschen auch dann das Leben zerstören kann, wenn sie selber alles richtig machen. Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption, Verführbarkeit, Ausgeliefertsein, Unbarmherzigkeit, Machtgefüge, Zurückweisung - diese Themen beherrschen das kleine Buch, das aber dennoch keinen düsteren Zungenschlag hat und sich leicht lesen lässt. Sicherlich hat es das kurdische Leben als allererstes im Blick, auch wenn dies nicht in jeder Geschichte extra erwähnt wird, schließlich muss das Buch durch die Zensur!
Das politische System in der Türkei sorgt dafür, dass die natürliche Anlage des Menschen zum Bösen noch unterstützt und getriggert wird und selbst diejenigen, die es „eigentlich“ gut miteinander meinen, nicht „unbefleckt“ bleiben. Selbst persönliche Rückzugsorte bleiben nicht verschont, das System dringt herein und sprengt die Familien und zerstört die Zukunft und ihre Zukunftsträume. So bleibt dem Autoren in seiner letzten Story nur noch, die Frage zu stellen, wie es gehen kann, „Ein Mensch (zu) bleiben“; naturgemäß findet er keine Antwort darauf. Oder, wie sagt es eine andere Rezensentin „Wir werden alle als Menschen geboren, aber die Meisten versauen es im Nachhinein.“
Fazit: Gesellschafts- und systemkritische Geschichten mit hoher Durchschlagskraft. Mehr davon!
Kategorie: Kurzgeschichten
Verlag: Penguin 2023
Demirtas trat 2014 als Kanditat der HDP (Halklarin Demokratik Partisi) zur türkischen Präsidentschaftswahl an. Seit 2016 sitzt der Politiker in Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert seine Freilassung, diesem Aufruf ist Erdogan bisher noch nicht nachgekommen.
Mit Kaltfront liegt bereits Demirtas´zweiter Kurzgeschichtenband vor, ein Ruf aus der Gefangenschaft, der mit "Morgengrauen", seinen Anfang nahm. Entsprechend dramatisch klingt die, an seine Eltern gerichtete, Widmung, in der der 17 Jahre des Harrens vor Gerichts- und Gefängnistoren gedacht wird.
Die 14 Stories handeln von Liebe, Schuld und Vergebung, von großzügiger Gastfreundschaft, aber auch endloser Geduld und Beharrlichkeit. Sie haben das kurdische Volk, die Ungleichbehandlung und die Armut im Gepäck. Sie zeugen vom unausweichlichem Schicksal, aber auch von Flucht aus dem scheinbar Unvermeidlichen. Mal gelingen diese Fluchten, mal nicht. Übermut, Lebensfreude und schalkhafter Humor, wechseln sich mit Hoffnungslosigkeit und Tod ab.
Die kleinen Erzählungen muten wie Piktogramme an, ich erkenne, was gemeint ist, kann sie aber in ihrer Vielzahl nicht unter einen Hut bringen. Ich mag mir daraus kein Bild der Türkei erschaffen, vielmehr nur kleine Puzzlestückchen, die aber aus einem größeren Spiel herausgefallen sind. So wie Demirtas vielleicht aus der Gesellschaft herausgefallen ist und uns daran erinnert, dass die Türkei nicht überall weiße Sandstrände und Liegestühle hat.
Demirtas simple Stories sind in einfacher Sprache gehalten. Weitere Dimensionen hinter den Geschichten mögen sich dem Landsmann und dem Kenner erschließen. Dem Unbedarften müssen sie als Weckruf genügen. Der Penguin Verlag hat sich dieser wichtigen Aufgabe angenommen, Gerhard Meier hat aus dem Türkischen übersetzt.
Wenn ein Vater das Gesetz schützen soll, doch stattdessen das größte Unrecht geschehen lässt. Wenn sich ein Mann bei dem Versuch, sein Leben zu bestreiten, durch sein Schweigen schuldig macht. Wenn ein Kind in einer Gesellschaft aufwächst, in der Mitgefühl bestraft wird. Die beinahe märchenhaft anmutenden Kurzgeschichten in »Kaltfront« blicken tief in die Seele der Türkei. Mitfühlend und liebevoll erzählt Demirtaş von den Ärmsten der Gesellschaft: den Hilfsarbeitern, den Busfahrern, den Straßendieben – sie alle eint der Wunsch nach einem glücklichen Leben und die schiere Ausweglosigkeit ihrer Situation. (Verlagsbeschreibung)
Geschichten aus dem Gefängnis. Nein, die 14 Kurzgeschichten handeln nicht vom Gefängnis, der Autor schrieb sie als Inhaftierter - er befindet sich seit November 2016 in Haft. Selahattin Demirtaş hat sich politisch sehr engagiert in einer prokurdischen Partei, ist Mitglied bei Amnesty International, war Direktor einer Menschenrechtsvereinigung, war Erdogan als Gegenkandidat bei den türkischen Parlamentswahlen ein Dorn im Auge und wurde daraufhin wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Der amtierende Präsident der Türkei ist ja für seinen Umgang mit Oppositionellen berüchtigt. Selahattin Demirtaş wurde im Frühjahr 2019 für den Friedensnobelpreis nominiert.
"Kaltfront" ist bereits der zweite auf Deutsch erschienene Band mit Kurzgeschichten von Selahattin Demirtaş, die er im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne verfasst hat. Jede der Geschichten befasst sich mit den teilweise brutalen Gegebenheiten in der Türkei - die Ausweglosigkeit der Armut, die fehlende Bildung v.a. in den kleinen Bergdörfern, die Skrupellosigkeit von Regierung, Justiz und Wirtschaft, die oftmals fehlende Mitmenschlichkeit, das Zerschlagen von Hoffnung, wenn die Realität die Menschen einholt, das Trauma eines Menschen, der einen (totgeschwiegenen) Angriff auf ein kurdisches Dorf überlebt hat. Aber die Geschichten weisen auch auf Möglichkeiten hin - stiller oder lauter Protest, um die Ohnmacht zu überwinden, Zivilcourage, der Glaube.
Bedrückend sind die Erzählungen häufig, der leise Humor, der hier und da aufblitzt, bleibt einem dann gleich wieder im Halse stecken. Selahattin Demirtaş macht die Ohnmacht der Armen, Verfolgten, Unterdrückten spürbar, und doch ist da der unbedingte Lebenswille der vorgestellten Charaktere und ihr Versuch, die eigene Geschichte zum Guten zu wenden. 14 Kurzgeschichten, die nichts beschönigen.
Mich haben die Erzählungen größtenteils nicht unberührt gelassen. Wohl dosiert gelesen, verschaffen sie einen intensiven Einblick in die Türkei jenseits der Urlaubs-Prospekte. Unbequeme Lektüre - aber wichtig.
© Parden
“Kaltfront” ist eine Sammlung von Erzählungen des türkischen Schriftstellers Selahattin Demirtaş, die dieser im Gefängnis geschrieben hat, wo er nicht aus Gründen eines Verbrechens einsitzen muss(te?). Die Sammlung fasst kurze Geschichten zusammen, die uns einen sehr anschaulichen Einblick in das Leben von Bürgern der Türkei geben. Gemeinsam ist ihnen weitgehend, dass sie sich an den Regeln des äußeren Lebens abarbeiten und meist im inneren Konflikt mit diesen leben müssen. In einer ganzen Reihe dieser Geschichten werden die Protagonisten als Kurden kenntlich gemacht und/oder die Geschichten haben vielfach einen örtlichen Bezug zu Diyabakir, dem Zentrum der kurdischen Volksgruppe, die in der Türkei lebt. Schon allein durch ihre Volkszugehörigkeit, die in der Türkei seit Langem und ganz besonders in der Türkei des T. R. Erdogan als Bedrohung der nationalen Einheit angesehen und verfolgt wird, stehen die Charaktere der Geschichte in einem Zwiespalt zu dem Staat, in dem sie leben und in dem die Geschichten spielen.
Demirtaş schafft es eindrucksvoll, diesen Personen mit ihren inneren Konflikten und den äußeren Zwängen, die um sie herum wirken, ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Es sind Figuren, die durch ihre inneren Werte geleitet werden, und die damit immer wieder auf Gegenwind durch die Werte stoßen, die in ihnen von außen vorgegeben werden. Da ist der Jurist, der ein Leben lang nicht darüber hinwegkommt, dass er (im Namen des Rechts?!?) an Folterungen teilzunehmen gezwungen wurde und zum Ende seines Lebens seiner Reue und seinen Gewissenskonflikten endlich Raum geben möchte durch einen Besuch bei den Eltern des damals ums Leben gekommenen Gefolterten. Da ist der Straßenräuber, der sein Diebesgut zurückgibt und dabei mit politischen Oppositionellen in Kontakt kommt, wodurch sich für ihn eine neue Tür im Leben auftut.
Die Erzählungen in „Kaltfront“ sind somit zutiefst menschlich und politisch zugleich. Sie zeichnen ein Bild der gegenwärtigen Türkei, das schonungslos offen von den inneren Kämpfen seiner Bürger berichtet, zumindest der Bürger, die sich menschliche Werte im Inneren bewahren konnten. Aber das ist alles andere als leicht und ohne gefahrlos:
„Es ging darum, Mensch zu bleiben, auch wenn der Preis dafür war, in Cizre in einem Keller zu verbrennen.“
Demirtaş hat einen sehr hohen Preis gezahlt für seine inneren Werte, musste er diese Erzählungen doch wie gesagt im Gefängnis, weit entfernt von seiner Familie, schreiben. Ich vergebe für diesen Mut und die literarische Qualität dieser Stories gern 5 Sterne.
Geschichten, die nachhallen
Der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş, der sich für eine pluralistische Türkei einsetzt, ist seit 2016 als politischer Gefangener im Hochsicherheitsgefängnis Edirne inhaftiert. Dort begann er mit dem Schreiben. „Kaltfront“ ist sein zweites Buch, das insgesamt 14 Kurzgeschichten enthält, die von Gerhard Meier übersetzt wurden.
Während einige Geschichten gesellschaftspolitisch brisant sind, erzählen andere Episoden aus dem Leben einfacher Leute. Mal gleicht das Erzählte einem Schlag ins Gesicht, mal nimmt es humoreske oder märchenhafte Züge an und erscheint vordergründig banal. Bei näherer Betrachtung lässt sich aber viel über die Gesellschaft in der Türkei erfahren. Es geht immer wieder um Traditionen, staatliche Willkür, Schuld, Würde, Machtmissbrauch und den Versuch eines selbstbestimmten Agierens innerhalb dieses Systems. Über allem scheint auch die Frage zu stehen, was einen Menschen ausmacht. Demirtaş schreibt in einer klaren, deutlichen Sprache, durch die die beschriebenen Szenen deutlich wie ein Film vor dem inneren Auge ablaufen.
Beim Lesen haben mir die Geschichten zunächst unterschiedlich gut gefallen. Mit einem Abstand von nun etwa vier Wochen stelle ich aber fest, dass sich sämtliche Erzählungen in meinem Gehirn festgesetzt haben und dort immer noch nachwirken.
Dafür kann ich nur die Höchstpunktzahl vergeben.