Es wird so unbemerkt zu spät: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Es wird so unbemerkt zu spät: Roman' von Ulla Coulin-Riegger
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Es wird so unbemerkt zu spät: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
Verlag: Molino Verlag
EAN:9783948696450

Rezensionen zu "Es wird so unbemerkt zu spät: Roman"

  1. 5
    03. Aug 2023 

    die "Neue Krankheit"

    Die Verhaltenstherapeutin und Schriftstellerin Ulla Coulin-Riegger erzählt in ihrem Roman „Es wird so unbemerkt so spät“ die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs eines Psychotherapeuten, der sich zum Retter im Kampf gegen die „Neue Krankheit“ entwickelt, in der Realität als „Burnout-Syndrom“ bekannt.

    Rafael Lenz ist ein Shooting Star in der Psychologie. Schon während des Studiums und seine ersten Zeit als Psychotherapeut zeichnet sich ab, dass er mit seinen unkonventionellen Behandlungsmethoden eigene Wege beschreiten wird. Sein Aufstieg beginnt mit den Anfängen einer neuen Krankheit, die sich schnell ausbreitet, aber zunächst von vielen verkannt wird. Die Krankheitsbilder sind unterschiedlich, doch kaum einer der berufstätigen Bevölkerung scheint vor der Ansteckung gefeit. Die anfänglichen Behandlungserfolge von Rafael Lenz sorgen dafür, dass er in der Politik und Wirtschaft Beachtung findet. Denn schließlich stellt die hohe Anzahl an Erkrankungen ein ernstzunehmendes Problem für die deutsche Gesellschaft dar. Lenz wird fortan von namhaften Unternehmen finanziell unterstützt, die diese Zuwendungen als erfolgversprechende Investition in die Zukunft betrachten. Es läuft also gut für Professor Lenz, der auch im Privatleben eine Glückssträhne hat. Eine liebende Ehefrau, ein trautes Heim, zwei Söhne. Die Übermacht seines Vaters, der als Fabrikant nicht verknusen kann, dass sein Stammhalter sich dem Vermächtnis des Vaters verweigert hat und eigene berufliche Wege beschreitet, lässt sich verschmerzen und leicht verdrängen. Immerhin hat man nur sehr wenig Kontakt zueinander. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Work-Life-Balance des Professor Lenz ins Ungleichgewicht gerät und der Erfolg Opfer fordert.
    "Nach allen Seiten verschenkte er sich, wollte es jedem recht machen und niemanden, am wenigsten sich selbst enttäuschen." (S. 82)

    In „Es wird so unbemerkt zu spät“ nimmt Ulla Coulin-Riegger die Maschinerie der Psychotherapie aufs Korn und lässt dabei Fronten aufeinanderprallen: eingefahrene Behandlungsmethoden setzen sich vehement gegen neue Behandlungsansätze zur Wehr. Gesunder Menschenverstand bleibt durch stures Festhalten an Alt-Bewährtem auf der Strecke. Ein ums andere Mal übertreibt Ulla Coulin-Riegger in der Darstellung und driftet ins Klischeehafte ab, was ich aber als passend und sehr amüsant wahrgenommen habe.

    Ulla Coulin-Riegger ist eine sehr empathische Erzählerin. Ihre Charaktere scheinen ihr ans Herz gewachsen zu sein. Fast schon liebevoll berichtet sie von den Entgleisungen, den großen und kleinen Fehlern und schafft es immer wieder, dass man als Leser sehr viel Mitgefühl für die Figuren entwickelt, insbesondere wenn deren Leben nicht so verläuft, wie sie es sich erhofft haben. Im Mittelpunkt steht natürlich Rafael Lenz, der eine sehr besondere Entwicklung nimmt. Man lernt Rafael Lenz als jungenhaften dynamischen Mediziner kennen, der unbeirrt von der Kritik der Platzhirsche in der Psychologenschar, neue Behandlungswege einschlägt. Er sorgt für frischen Wind und neue Ideen. Allerdings steigt ihm sein Erfolg zu Kopf. Im Verlauf der Handlung entwickelt er sich zu einem Guru, der von seinen Patienten als Erlöser und Heilsbringer angesehen wird und für den er sich vielleicht sogar selbst hält. Er entwickelt eine ungesunde Selbstüberschätzung. Seine Berufung als Psychotherapeut wird zur Besessenheit.

    Interessant sind natürlich Parallelen zu dem Phänomen des Burnout Syndrom, einem Erschöpfungszustand, der aus einer dauerhaften körperlichen und seelischen Belastung meist im Beruf, aber auch im privaten Umfeld hervorgehen kann und aus dem sich die unterschiedlichsten psychischen und psychosomatischen Störungen entwickeln. Erst seit ein paar Jahren wird das Burnout-Syndrom mit seinen Folgen für die Betroffenen in der Gesellschaft wahrgenommen, auch wenn es leider immer noch von vielen Menschen als neumodisches Seelenzipperlein abgetan wird. Ulla Coulin-Riegger lässt bei der Darstellung der „Neuen Krankheit“ und ihrer Auswirkungen sowohl für die Betroffenen als auch die Gesellschaft, nichts aus. In „Es wird so unbemerkt zu spät“ entwickelt sich das Burnout-Syndrom zu einer Epidemie, wenn nicht sogar Pandemie. Scheinbar bedarf es dieser Parallelen zu unserer jüngsten Pandemie, um mögliche Auswirkungen drastisch vor Augen zu führen und ein Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit des Burnout-Syndroms zu schaffen.
    "'Bleierne Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Verzweiflung, Unfähigkeit zu arbeiten?'...'Das soll eine Krankheit sein?'" (S. 28)

    Fazit:
    In diesem Roman stecken viel Witz und Empathie, aber auch Kritik an der Gesellschaft im Umgang mit psychischen Erkrankungen sowie der Maschinerie der Psychotherapie. Trotz des Humors, den Ulla Coulin-Riegger durch ihre Erzählweise an den Tag legt, verliert man nie die Ernsthaftigkeit des Themas aus dem Blick, genauso wenig wie das Mitgefühl für die einzelnen Figuren dieses Romans, Die Charaktere gehen dem Leser unter die Haut, die Problematik des Burnout Syndrom und mögliche Konsequenzen bleiben im Gedächtnis und stimmen nachdenklich. Leseempfehlung!

    © Renie