Ich bin nicht da: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Ich bin nicht da: Roman' von Lize Spit
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ich bin nicht da: Roman"

Leo ist seit zehn Jahren mit Simon zusammen. Er ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben, und viele andere sind da auch nicht. Eines Nachts kommt Simon wie ausgewechselt nach Hause, völlig überdreht, mit neuer Tätowierung, neuen Freunden, neuen Zukunftsplänen. Er schläft immer weniger und wird zunehmend paranoid. Eine manische Episode hat Leos große Liebe fest im Griff. Als sie begreift, wozu Simon jetzt fähig ist, ist es vielleicht zu spät. Zu lange hat Leo alles für ihn aufs Spiel gesetzt. Nun bleiben ihr genau elf Minuten, um eine Tragödie zu verhindern, die nicht nur ihr Leben für immer verändern würde. Ein Roman über eine junge Frau, die zusehen muss, wie ihre große Liebe von einer psychischen Krankheit geradezu verschlungen wird.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:576
Verlag: S. FISCHER
EAN:9783103971248

Rezensionen zu "Ich bin nicht da: Roman"

  1. "... eine Version von Simon, die es nicht mehr gab"

    "Ich besaß Geduld wie eine Tube Zahnpasta. Solange man nicht aufgibt, kann man zur eigenen Überraschung immer noch etwas herausdrücken."

    Die Erzählerin Leonie (genannt Leo) und ihr Partner Simon, beide Ende 20, leben zusammen in einer Eigentumswohnung in Brüssel, die Simon von geerbtem Geld gekauft hat. Simon arbeitet als Grafikdesigner in einer Kreativfirma, Leo verkauft hochwertige Umstandsmode in einem Kettenladen, obwohl sie eigentlich lieber schreiben möchte (sie hat Drehbuch studiert). Ihr Zusammenleben ist vielleicht ein bisschen zu eingeigelt, aber innig und im wesentlichen störungsfrei. Bis eines Morgens Simon - nachdem er die ganze Nacht unterwegs war - mit einem neuen Tattoo hinter dem Ohr auftaucht und mit nimmermüder Energie beginnt, beider Leben umzukrempeln.

    Simon und Leo kommen beide aus schwierigen Familienverhältnissen; vor allem Leo ist wenig vernetzt und lebt eher zurückgezogen. Vielleicht liegt es daran, dass sie Simons Schnapsideen lange Zeit widerspruchslos akzeptiert, in der Hoffnung, er werde sich schon irgendwie wieder fangen - und vielleicht sind seine Pläne ja auch gar nicht so absurd, wie sie sich anhören? Der Umgang mit schwer kranken Menschen ist in unserer auf Jugend und Leistungsfähigkeit getrimmten Gesellschaft schon schwierig genug. Der Umgang mit psychisch Kranken noch schwieriger, weil jemand, der sich wie Simon verhält, erstmal als "bisschen nerdig, aber nett" eingestuft wird, später ausgelacht, schlimmstenfalls stigmatisiert - alle diese Stadien dürfen wir mit seiner Freundin durchleben.

    Der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen. Die eine ist ein rückblickender Bericht, beginnt im Frühjahr 2018 (wobei stellenweise bis in die Jugend der Protagonisten zurückgehende Vorfälle miterzählt werden) und endet im Februar des Folgejahres. Es ist wichtig zu wissen, dass Leo nicht eigentlich über eine psychische Erkrankung erzählt, sondern über das Zusammenleben mit einer psychisch erkrankten Person. Was sie aus Liebe und Treue zu Simon leistet, ist fast zuviel des Guten. Sie beobachtet und beschützt ihn, duldet seine Verrücktheiten solange wie nur möglich. Sie überredet ihn, sich endlich behandeln zu lassen, trägt alle Stadien der Krankheit mit und bleibt auch an seiner Seite, als sich abzeichnet, dass Simon nie wieder so werden wird, wie er mal war (oder vielleicht überhaupt nie war - auch diese Frage wird in dem Buch verhandelt). Der zweite Zeitstrang umfasst gerade mal elf Minuten, nämlich die letzten elf Minuten des ersten Zeitstrangs, und wird häppchenweise parallel geliefert: Leo wird telefonisch von ihrer Arbeit weggerufen und radelt in aller Eile nach Hause. Diese Kapitel sind übertitelt mit: "Noch elf Minuten" .... "Noch sechs Minuten" ... "Noch zwei Minuten und dreißig Sekunden" usw. und vermitteln das Gefühl größter Panik. Etwas Schreckliches könnte passiert sein - was das denkbar schlimmste Szenario wäre, begreift die Leserin schon ziemlich früh und fiebert mit. Diese Erzählweise ist ein dramatischer Kunstgriff, der etwas Filmisches an sich hat; vielleicht hatte die Autorin tatsächlich eine Verfilmung im Sinn, aber andererseits braucht es dieses "Action"-Element unbedingt, um etwas Schwung in eine Handlung zu bringen, die sich ansonsten als deprimierende Abwärtsspirale darstellen würde.

    In einer Amazon-Rezension wird kritisiert, die Erzählerin sei empathielos und ohne Mitgefühl für den Patienten. An diesem Vorwurf ist insoweit etwas dran, als das Buch klarmacht, dass es keine wirkliche Einfühlung in die Innenwelt eines psychotischen Menschen geben kann - wie oben erwähnt, geht es weniger um die Krankheit selbst als den Umgang mit einem Betroffenen. Leo tut, was sie kann, und mehr. Sie leistet geradezu Übermenschliches, um ihrem Freund beizustehen; auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit, ihres eigenen Gleichgewichts. Aber wie soll man einen Menschen "verstehen", der jeden Realitätssinn verloren hat? Ein zweiter Vorwurf, der in den Rezensionen erhoben wurde, ist das Fehlen einer Triggerwarnung. Die gebe ich hiermit ab. Es gibt Bilder und Szenen, die sich nachdrücklich festfressen und schwer zu verkraften sind.

    Die Autorin kann erstklassig schreiben und beschäftigt sich mit einem außergewöhnlichen Thema, was ich gern mit voller Punktzahl honoriere. Dabei merke ich aber ausdrücklich an, dass das kein Buch für jede(n) ist. Die Geschichte hat das Potential, empfindliche Leute Tage und Wochen niederzudrücken. Wer selbst betroffen ist, liest es vielleicht wieder ganz anders; das kann ich nicht beurteilen. Meine Bewunderung für die Erzählerin Lize Spit gilt uneingeschränkt. Sie hat die Gabe, die Leserin buchstäblich an das Buch zu ketten; auch mit schwierigen Themen, wie sie schon mit "Und es schmilzt" bewiesen hat. Wenn, wie es heißt, große Literatur nur aus Dringlichkeit entstehen kann, dann ist diese Bedingung jedenfalls erfüllt.

  1. Intensiv und bedrückend - sprachlich toll

    Vertrauen ist wie ein Pflaster - ist es einmal ab, klebt es nicht mehr richtig

    In ihrem zweiten Roman begibt sich Lize Spit in das Seelenleben der jungen Frau Leo, die sich von heute auf morgen in einer völlig veränderten Lebenssituation befindet, als ihr Partner Simon beginnt, seine Persönlichkeit radikal zu verändern. Als es nicht mehr (er-)tragbar für sie ist, holt sie sich Hilfe. Dennoch vergeht einige Zeit und es passieren furchtbare Dinge, so dass Simon schließlich in die Psychiatrie kommt, wo eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert wird.

    Dieser Roman beschreibt in Rückblenden die Beziehung von Leo und Simon, wie sie zehn Jahre zuvor zueinander gefunden haben, wie sehr sich ihre Kindheit und Jugend ähnelt - bei beiden gab es traurige Verluste in der Vergangenheit und schwierige Familienverhältnisse. Die Gemeinsamkeiten haben sie gewissermaßen zusammengeschweißt. Es ist eine intensive, glückliche Beziehung der beiden, an Familiengründung mit Hochzeit und Kindern denken sie bereits. Alles wirkt sehr harmonisch.

    Schon bald wird in diesen Rückblenden aber ausschließlich der Zeitraum seit Simons plötzlicher Erkrankung bis zum Jetzt beschrieben. Immer aus der Sicht Leos.

    Zusätzlich erleben wir im Roman - einem Countdown gleich - die letzten elf Minuten bis zur Auflösung einer möglicherweise grausamen Tat Simons. Diese elf Minuten werden durch die Rückblicke unterbrochen und erzeugen dadurch eine gleichbleibende, enorme Spannung.

    Lize Spit schafft es durch einen sehr einfühlsamen, oftmals poetischen Erzählstil, mich komplett in diese Geschichte hineinzuziehen. Wie Leo diese Situation versucht zu meistern, wie verlassen sie ist und völlig am Ende ihrer Kräfte. Wie sehr sie aber aus Liebe zu Simon nicht aufgeben will, ungeahnte Kräfte und Möglichkeiten findet um durchzuhalten, wie sie weiterhin krampfhaft versucht zu vertrauen, obwohl es ihr schier unmöglich scheint, wie sie sich selbst bei alledem immer mehr verliert... dieses gesamte Stimmungskaleidoskop ist in einer Intensität beschrieben, dass mich das Erzählte extrem berührt und mitnimmt.

    Ebenso die Beobachtungen von Simons Auf und Ab - die verschiedenen Phasen der bipolaren Störung sind extrem detailliert und ausführlich dargestellt. Es wirkt alles sehr authentisch, jedoch wiederholt es sich zum Ende hin und zieht sich ein bisschen in die Länge.

    Alles in allem habe ich den Roman mit Haut und Haar erlebt - was bei dieser Thematik aber dazu führt, dass ich nun am Ende etwas down bin ;-) Es war für mich ein sehr intensives, augenöffnendes, bedrückendes und trotzdem großartiges Leseerlebnis. Lize Spit schreibt auch in diesem Zweitling ganz grandios! Kann ich allen, die psychologisch gut ausgearbeitete, sprachlich hervorragende Romane mögen, sehr ans Herz legen. Aber Vorsicht: es gibt auch grausame Gewaltszenen...

  1. Außer Kontrolle

    Lize Spit hat sich viel Zeit gelassen für ihren neuen dicken Roman. 571 Seiten. Wir mussten etwa vier Jahre warten und hatten so die Zeit das unvergessliche Werk „Und es schmilzt“ zu verdauen.

    Hier sind die Protagonisten älter geworden, wie die Autorin selbst etwa. Leo ist um die zwanzig, als es losgeht und um die dreißig, als es aufhört. Simon, Leos Partner und fast einziger Freund ist ungefähr drei Jahre älter als sie. Das Paar wohnt wie die Autorin in Brüssel. Leo hat Regie und Drehbuchschreiben an der Filmakademie studiert, arbeitet aber als Verkäuferin in einem Umstandsmodegeschäft. Simon ist Grafikdesigner, begnadet und sehr erfolgreich. LS lässt sich viel Zeit für die Entwicklung ihrer Figuren.

    Leo hat zwei Freundinnen: Indra und Lotte. Ihre Mutter verunglückte tödlich und zum Vater will sie keinen Kontakt. Bei Simon ist es ähnlich, seine Mutter starb und der Vater agiert in Italien. Es gibt nur Fernkontakt, durchaus häufiger, aber es kommt nie zu persönlichen Begegnungen während dieser Geschichte. Bei Leo verschwindet so nach und nach die eine Freundin aus ihrem Leben: Indra. Und einzig mit Lotte, ihrer Kollegin im Geschäft, teilt sie Freud und Leid. Simons Vater wird ab und zu von Leo informiert, aber zurück kommen nur wenig hilfreiche Vorschläge.

    Als Coen in der Agentur anfängt, in der Simon beschäftigt ist, eskaliert die Lage: Simon wird zunehmend paranoid. Aber auch Leo verändert sich. „Ich war schon genauso paranoid wie er, seine Krankheit hatte auch mein Gehirn infiziert.“ (Seite 199)

    Spät sorgt sie dafür, dass Simon eingeliefert wird. „Dieses Ding, das in ihm hauste, musste erst ganz aus ihm raus, bevor ich ihn wieder bei mir haben wollte.“ (Seite 287)

    In der Psychiatrie arbeitet auch Dr. „Einhorn“, den Leo und Simon auch vorher konsultiert hatten. Sieben Wochen währt die stationäre Behandlung, in der Simon medikamentös gedämpft wird. Mehr soll hier, an dieser Stelle, nicht verraten werden. Auf jeden Fall hat dieses Buch es in sich. Verschiedentlich erinnerte ich mich an Terézia Moras beeindruckenden Roman „Das Ungeheuer“. Nur dass dort der Protagonist erst posthum erfährt, wie schlimm es wirklich um seine Frau bestellt war. Und hier ist Leo live dabei, harrt aus und verhält sich selbst teilweise extrem grenzwertig. So legt sie einmal ein Reiskorn auf sein Kopfkissen, um zu kontrollieren, ob er geschlafen hat, bzw. sich ins Bett gelegt hat. Auch ihre seltsame Starre, dass sie viel zu wenig bis nichts unternimmt, um zumindest für sich die Situation in den Griff zu kriegen, finde ich bedenklich.

    Überhaupt fiel mir auf, was für verhängnisvolle und auch extrem übertriebene Rollen die ewig eingeschalteten Handys der Protagonisten spielen. Da wird sich schon gegenseitig zu-gesimst, während man im selben Zimmer am selben Tisch sitzt. Oder beim Radfahren werden E-Mails gelesen oder beantwortet. Was ist das für eine kranke Gesellschaft?

    Der Roman ist in drei Ebenen eingeteilt: die Gegenwartsebene, in der Leo versucht ein Verbrechen zu verhindern; die Entwicklungsgeschichte des Paares und schlussendlich im Hauptteil der Verlauf von Simons Krankheit gepaart mit der Ohnmacht der Ärzte und der Pharmaindustrie.

    Fazit: Ein ungewöhnlicher Roman, sehr empfehlenswert für hartgesottene Gemüter und ein würdiger Nachfolger für „Und es schmilzt“. Einige Stellen im ersten Drittel fand ich etwas aufgebläht, dennoch 4,5 verdiente Sterne.