Rote Sirenen
![Buchseite und Rezensionen zu 'Rote Sirenen' von Victoria Belim](https://m.media-amazon.com/images/I/515nyOAzCQL._SL500_.jpg)
Der 24. Februar 2022 hat sich wahrscheinlich bei uns allen eingebrannt als Einmarsch der Russen in die Ukraine. Dass der Krieg jedoch schon 2014 mit der Annexion der Halbinsel Krim begann, war vielen Europäern gar nicht richtig bewusst!
Die Autorin Victoria Belim nimmt dieses Ereignis zum Anlass, in ihr Heimatland zu reisen, das sie im Alter von 15 Jahren mit ihrer Mutter Richtung Chicago verlassen hatte, und die inzwischen in Brüssel als Autorin, Journalistin und Übersetzerin lebt.
Wir als Lesende begleiten sie in ihre Heimatstadt Paltowa, frischen mit ihr die Kenntnisse der Gartenarbeit bei Großmutter Valentina im Dorf Bereh auf, und begeben uns mit ihr auf die Suche nach ihrem Ur-Großonkel Nikodim, der in den 30er Jahren verschwand.
Beim Kennenlernen der zahlreichen lebenden und gestorbenen Verwandten, erfuhr ich auch viel von der ukrainischen Geschichte, seiner Kultur (z.B. der Weißstickerei), der Traditionen, der Kulinarik und lernte beeindruckende Charaktere mit einer großen Herzlichkeit kennen.
Etliche Stellen wühlten mich unheimlich auf, wie z.B. Onkel Wladimirs Dankbarkeit an Russland oder die ‚Hexenjagd‘ 1937, bei der es irrelevant war, was der Angeklagte getan hatte. „Das einzige Ziel war ein Geständnis und weitere Namen.“ (Bei der Lektüre von Nikodims Akte stellten sich mir die Nackenhaare auf und ich bekam das kalte Grausen!) Empfindsamen Gemütern empfehle ich deshalb, von diesem Buch abzusehen!
Bei dieser Fülle von Eindrücken fiel mir diesmal das Schreiben einer Rezension sehr schwer - befürchtete ich doch, ihnen nicht gerecht zu werden! 5 begeisterte Sterne vergebe ich und empfehle das Buch allen, die mehr von diesem geschundenen Land erfahren möchten.
Victoria Belim ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Mit 15 Jahren wanderte sie mit ihrer Familie in die USA aus, studierte dort Politikwissenschaften und lebt und arbeitet heute in Belgien. In ihrem Debutroman beschäftigt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte.
Als im Jahr 2014 Russland die Krim annektiert und auf dem Maidan in Kiew die Gewalt zwischen Polizisten und Demonstranten eskaliert, beschließt die Journalistin Victoria Belim im fernen Brüssel einen Besuch in der alten Heimat.
Der letzte Auslöser für ihren Entschluss war ein kurzer Vermerk im Notizbuch ihres Urgroßvaters: „ Bruder Nikodim, verschwunden in den 1930ern im Kampf für eine freie Ukraine.“ Seltsam, niemals wurde in der Familie über Nikodim gesprochen.
Die Neugierde war geweckt, Victoria Belim wollte die Wahrheit über diesen unbekannten Urgroßonkel herausfinden.
Sie reist zu ihrer Großmutter Valentina nach Bereh, einem kleinen Ort in der Nähe von Poltawa. Doch diese hält wenig davon, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Deshalb verweigert sie ihrer Enkelin irgendwelche Auskünfte und kümmert sich stattdessen wie gewohnt um ihren großen Obst- und Gemüsegarten. Victoria hilft ihr bei der Gartenarbeit, obwohl sie wenig davon versteht. Unter der Anleitung der Großmutter lernt sie die Stämme der zahlreichen Kirschbäume zu kalken, Kartoffeln anzupflanzen und den Garten von Unkraut freizuhalten.
Dazwischen aber begibt sich die Autorin immer wieder auf die Suche nach ihrem verschwundenen Urgroßonkel. Bei ihrer Recherche trifft sie auf viele Menschen, genießt deren Gastfreundschaft und Unterstützung, doch die Hinweise sind dürftig.
Fündig wird Victoria Belim erst im Hahnenhaus in Poltawa. Die titelgebenden Sirenen schmücken dort das Eingangsportal und werden im Volksmund Hähne genannt. Dieses schöne Gebäude war für die Bewohner der Stadt ein Ort des Schreckens. Hierin war zu Sowjetzeiten der berüchtigte Geheimdienst untergebracht. „ Die Bewohner von Poltawa scherzten, das Hahnenhaus sei das höchste Gebäude der Stadt, denn selbst im Keller könne man bis nach Sibirien sehen.“ Im Keller waren die Folterkammern der Tscheka und auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, in den Jahren von 1937 bis 1938, wurden hier massenweise Menschen unter den absurdesten Vorwürfen festgehalten, gequält, zur Deportation verurteilt oder gleich ermordet.
Heute sind hier nun die Akten der Opfer des kommunistischen Terrors archiviert und hier endlich löst sich das Rätsel um Nikodim.
Der Leser macht sich gemeinsam mit der Autorin auf die Suche nach der Vergangenheit. Dabei wird deutlich, dass die Familiengeheimnisse eng verknüpft sind mit der leidvollen Geschichte des Landes. Für viele Ukrainer ist es schmerzhaft, sich zu erinnern. Lieber wird das Vergangene verdrängt und man konzentriert sich auf die Bewältigung des Alltags. So wie es Großmutter Valentina macht. Die Arbeit im Garten schenkt ihr Ruhe und Zufriedenheit. Gleichzeitig versorgt er sie mit dem Lebensnotwendigen.
Doch Verdrängen kann keine Lösung sein. Das bekommt auch Victoria zu spüren, die ebenfalls ein familiäres Trauma verarbeiten muss.
Die Verbundenheit der Autorin mit ihrer alten Heimat und die Liebe zum Land sind auf jeder Seite spürbar.
Mit diesem Roman bekommt der Leser einen tiefen Einblick in die Seele der ukrainischen Bevölkerung, ihre Kultur und ihre Traditionen und zugleich jede Menge Informationen über die Historie dieses Landes, unabdingbar, um die aktuelle Lage besser zu verstehen .
Vor dem Hintergrund des jetzigen Krieges gewinnt das Buch eine ungeheure Bedeutung und Aktualität. Im Vor- und Nachwort geht die Autorin auf die neuen Geschehnisse ein und sie stellt dabei die berechtigte Frage, „ ob wir 2022 in diese Situation geraten wären, wenn sich die Welt 2014 mehr um mein Land geschert hätte.“
Mit „ Rote Sirenen“ ist der Autorin eine sehr persönliche und ergreifende Familiengeschichte gelungen, das Zeugnis ablegt von der Widerstandskraft des ukrainischen Volkes.
Das Cover ist recht schlicht und wenig auffallend. Da hätte man meiner Meinung nach ruhig etwas anderes wählen können, auch wenn es durchaus zur Geschichte passt. Ich mag die Farben und die Schrift nicht besonders. Es wirkt etwas lieblos. Das ist schade bei der tollen Geschichte dahinter.
Zum Glück sollte man nie ein Buch nach dem Äußeren bewerten. Der Inhalt hat es nämlich in sich. Man begleitet Victoria bei ihrer ganz eigenen Reise zu ihren ukrainischen Wurzeln. Sie will mehr über ihre Familie und Vergangenheit erfahren. Es beginnt eine spannende Spurensuche, die einen von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Lange hat mich kein Roman mehr so in Erstaunen versetzt wie dieses. Dabei ist das Thema topaktuell und lehrreich. Man lernt viele über die Ukraine, was einem vorher vielleicht gar nicht bewusst war.
Auch der Schreibstil ist einfach nur top. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen.
Die Autorin Victoria Belim ist gebürtige Ukrainerin. Die Familie väterlicherseits kommt aus dem heutigen Russland. Die Familie mütterlicherseits aus der Ukraine. Als junge Teenagerin hat Victoria den Untergang der Sowjetunion hautnah miterlebt und ist später mit der Mutter in die USA ausgewandert. Im Jahr 2014 lebt die Autorin mit ihrem Ehemann bereits wieder in Europa - in Brüssel. Der politische Konflikt in eben jenem Jahr zwischen Russland und der Ukraine führt dazu, dass es zu einem Streit mit Victorias geliebten Onkel Wladimir (Bruder des Vaters) kommt, woraufhin der Kontakt abbricht. Dies nimmt die Autorin zum Anlass ihre Heimat zu besuchen und auf Identitätssuche zu gehen. Insbesondere liegt ihr am Herzen, das spurlose Verschwinden eines Großonkels in den 1930er Jahren aufzuklären.
In dem autobiografischen Roman begleiten wir Victoria Belim auf ihrer Spurensuche durch die Ukraine und in die Vergangenheit. Wir lernen die Menschen der Ukraine kennen, ihre Ängste und ihr Glück, ihre Gastfreundschaft, ihre Kunst, die Liebe zur Natur, die große Stärke ukrainischer Frauen, den Stellenwert von Familie, nie versiegende Hoffnung... Nicht zuletzt erfahren wir eine Menge aus der ukrainischen/sowjetischen Historie, bspw. wie seit jeher die Menschen durch ein totalitäres Regime mit Lügen und Verzerrung von Wahrheit gefügig gemacht worden sind. Aber auch der Kapitalismus, der nach dem Untergang der Sowjetunion Einzug hält, hat die Menschen vielfach überfordert und Spuren hinterlassen.
Wir sind als Leser*innen dabei, wenn die Autorin ihr Heimatland mit anderen Augen neu entdeckt, und diese Veränderung in ihr zu spüren, bewegt sehr. Auch ist es sehr spannend (und teils schockierend) sie bei der Suche nach ihrem verschollenen Großonkel zu begleiten. Victoria schafft es in vielerlei Hinsicht, Antworten zu finden, und schließlich auch den Tod ihres Vaters vor einigen Jahren zu verarbeiten.
Fazit: dieser autobiografische Roman erweitert den Horizont über ein Land, das aktuell ein tragisches Schicksal ereilt. Mit sehr viel Ruhe, Liebe und Respekt zeigt uns die Autorin ein Bild der Ukraine und seiner Bevölkerung, das zuweilen erschüttert und gleichermaßen sehr berührt. Ich habe den Roman sehr gern gelesen und empfehle ihn von Herzen.
Familienforschung auf dem Hintergrund d. ukrainischen Geschichte
In Kürze: Reichhaltiges Buch: Geschichte und Kultur der Ukraine, Familienforschung, Selbstfindung, Bedeutung des Erinnerns und der Familie
Nein, dies ist kein trockenes Geschichtsbuch, auch kein Roman. Eine Autobiografie? Eher ein autobiografischer Bericht, der die Nachforschungen einer jungen Frau über ihre ukrainische Familie beschreibt. Aufhänger ist die Suche nach einem verschwunden Großonkel, über dem ein Geheimnis zu schweben scheint, eine dunkle Wolke, denn niemand will darüber sprechen. Kein Wunder! Die Repressalien und die furchtbaren unmenschlichen Ereignisse der Stalinzeit, die Verfolgungen und Bespitzelungen im totalitären Sowjetsystem bleiben nicht ohne Folgen, auch nicht Jahrzehnte danach. Dieses und vieles andere ist mir durch dieses Buch klar geworden.
Die junge Victoria hat mit 15 Jahren die Ukraine verlassen, hat in den USA studiert und lebt mittlerweile mit ihrem Ehemann in Brüssel. Ihre geliebte Großmutter Valentina – der auch das Buch gewidmet ist - wohnt in der Ukraine, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Poltawa, wo sie ihre ganze Energie auf ihren Gemüsegarten und die Kirschbäume verwendet. Von 2014 an besucht sie ihre Großmutter so oft sie kann, hilft ihr und versucht sie zum Reden über vergangene Zeiten zu bringen. Eine Rolle spielt dabei das ehemalige Hauptquartier des Geheimdienstes im 'Hahnenhaus' in Poltawa, das Haus mit den Sirenen, in dem sich jetzt ein Archiv befindet. Sie sucht aber auch Orte auf, wo ihre Vorfahren gelebt haben und versucht herauszufinden, was damals mit ihrem Großonkel Nikodim geschehen ist. Aber längst geht es nicht mehr nur um ihn, sondern überhaupt um die Familiengeschichte, die natürlich eng mit der ukrainischen Geschichte verflochten ist.
In diesem Zusammenhang erfahren wir vieles: nicht nur Geschichtliches, sondern auch Kulturelles: Gastfreundschaft, Gebräuche, Essen, das Sticken, das in der Ukraine immer noch eine große Rolle spielt u.v.m.
Zwar gab es in der Mitte einige Längen, aber im Ganzen ist es ein sehr anrührendes persönliches Buch, das auch klar macht, wie wichtig das Erinnern und die Familie ist.
Mir hat auch das anrührende Nachwort gut gefallen und wer sich für die Ukraine interessiert, dem kann ich das Buch empfehlen. Auf der Seite des Aufbau-Verlags gibt es ein Interview und einige persönliche Fotos:
https://www.aufbau-verlage.de/aufbau/im-gespraech/eine-unbaendige-liebe-...