Der Schrank

Als die Möbelpackerin Lena Kovac gemeinsam mit ihren Kollegen Yilmaz und Korni einen antiken Schrank innerhalb Wiens transportieren muss, ahnt sie noch nicht, dass dieser Auftrag ihrem Leben eine entscheidende Wendung geben wird. Erst als in ihrer Umgebung immer mehr Tiere und immer weniger Menschen auftauchen, beginnt sie, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Was will bloß dieser Schwan von ihr, der sich kaum aus ihrem Lieferwagen vertreiben lässt? Und was hat es mit der rätselhaften Perle auf sich, die Lena in einem der vier Schrankfüße findet?
Nach "Die Schrift" (2020) und "Das Salzfass" (2021) bringt der österreichische Schriftsteller Simon Sailer seine "Essiggassen-Trilogie" zu einem würdigen Finale. Dabei erhält er mehr denn je die kongeniale Unterstützung des Illustratoren Jorghi Poll, dessen Bilder die drei Bände aus dem Hause der "Edition Atelier" längst zu bibliophilen Perlen im Bücherregal haben werden lassen.
Den Menschen, die sich aus unerklärlichen Gründen bisher noch nicht auf den literarischen Spuren der Wiener Essiggasse bewegt haben, sei gesagt, dass sich alle drei Bücher völlig unabhängig voneinander lesen lassen, da sie nur lose durch den Spielort miteinander verbunden sind. Auch Neueinsteiger:innen können Lena und ihren Kollegen also völlig problemlos beim Transport des Schranks behilflich sein.
Während die eigentliche Handlung der Erzählung am Anfang ein wenig Zeit benötigt, um in Fahrt zu kommen, funktioniert die Figurenkonzeption gleich von Beginn an. Nach Leo Buri und Maurice Demel gibt es mit Lena Kovac im finalen Teil der Trilogie erstmals eine weibliche Hauptfigur. Lena ist eine starke Protagonistin, die die Sympathien der Leserschaft sogleich auf sich ziehen sollte. Sie überzeugt nicht nur als resolute Frau in einem Männerberuf, sondern scheint auch ihre Beziehung mit ihrem Freund Hakan jenseits von Geschlechterklischees zu führen.
Spätestens mit dem Auftauchen des Schranks beginnt die Erzählung, sich in die Sphären der Phantastik zu begeben, so wie wir es auch schon von der "Schrift" und dem "Salzfass" kannten. Simon Sailer findet die Balance zwischen Komik und Tragik, zwischen Blade Runner-Origami und Endzeit-Dystopie. Eine große Rolle spielen dabei zahlreiche Tiere, an deren seltsamen Verhaltensweisen wohl auch Bernhard Grzimek seine Freude gehabt hätte. Seien es Tauben, die eine verlassene Straßenbahn bevölkern, kuschelnde Dachse in einem Wohnzimmer oder ein Schwan, der sich partout nicht aus Lenas Lieferwagen verdrängen lassen will.
In diesen Momenten erinnert "Der Schrank" nicht von ungefähr an Kafkas "Verwandlung" und zeigt zudem, wie ein Roman wie "Die Verwandelten" von Thomas Brussig hätte funktionieren können, wenn ein Autor seine Figuren ernst nimmt.
Das eigentlich Überraschende an dem Buch ist aber, wie politisch und sozialkritisch es geworden ist. Denn letztlich sind es die prekären Arbeitsbedingungen von Lena und ihrem Team, die ebenso im Mittelpunkt des Geschehens stehen, wie ein übergreifender Blick auf den Umgang mit Tieren und Tierrechten allgemein. Wenn sich Pferde aus den Wiener Fiakern befreien und eine Frau, die durch ihren Trab an ein Pferd erinnert, zu Lena sagt: "Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus", benötigt es kaum noch das schief an der Wand hängende Bild namens "Tierrechte"in der Mitte des Bandes, um in dem Buch auch einen Kommentar zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation zu erkennen. Zwar standen auch schon in den ersten beiden Bänden Themen wie "soziale Isolation" oder "Streben nach Besitz" im Fokus, doch so deutlich wie "Der Schrank" setzte wohl keiner der anderen diese Signale.
Dass ich das Finale der Essiggassen-Trilogie dennoch nicht ganz so intensiv empfunden habe wie die beiden Vorgänger, liegt vor allem daran, dass mich diese noch mehr überraschen konnten. Gerade "Das Salzfass" konnte mich in seiner Mischung aus wirklich gelungenen Figuren und seiner grotesk-gruseligen und unheimlich komischen Handlung noch ein Stückchen mehr erreichen. Den Lesefluss gestört haben zudem die recht häufigen Anmerkungen in Klammern, die dem Text ein wenig seiner Eleganz raubten.
Letztlich sind dies aber Klagen auf hohem Niveau, denn insgesamt überzeugt auch "Der Schrank" durch seine Mischung aus Tragikomik, Grusel, pointierten Illustrationen und einer gelungenen Hauptfigur. Sollten Sie aber jemals in der Wiener Essiggasse mit einem besonders schönen antiken Gegenstand konfrontiert werden, überlegen Sie bitte zweimal, ob Sie diesen auch wirklich benötigen...
„Eine Wand gehörte dem Schrank. Er lehnte daran, als wäre er der eigentliche Bewohner des Raums, der wahre Herr des Hauses, und blickte verärgert auf das verhängte Bett.“ (Zitat Seite 30)
Inhalt
Lena Kovac ist Möbelpackerin. Eigentlich wäre der Auftrag an diesem Nachmittag kein Problem: einen Schrank in einer Villa im neunzehnten Wiener Bezirk abholen und in eine Wohnung im ersten Bezirk bringen. Doch dann hat das Team vom Vortag den Wagen nicht vollgetankt und Korni, neben Yilmaz der Dritte in ihrem Team, kommt wie immer zu spät. Die Zeit wird knapp, denn der Schrank muss unbedingt noch am selben Tag ankommen. Sie holen den wuchtigen Schrank ab, doch als sie ihn im Wagen fixieren, bricht ein Bein ab. Lena trifft die erste von mehreren Entscheidungen, und ihre Welt gerät aus den Fugen.
Thema und Genre
Eine erstaunliche, schwer zuordenbare Erzählung, die als Wiener Alltagsstudie beginnt und rasch ins Genre Phantastik wechselt.
Charaktere
Die toughe Lena ist mit ihrem Leben zufrieden, sie ist gewohnt, verlässlich und effizient zu arbeiten. Das ist nicht einfach an solchen Tagen, wo der Chef sie unter Zeitdruck setzt, die beiden Kollegen mehr Pausen verlangen und sie selbst am Abend pünktlich zu Hause sein wollte.
Handlung und Schreibstil
Die Geschichte beginnt am Abend, Lena kommt nach Hause, Feierabend, während ihr Freund Hakan seinen Nachdienst antritt. Am Nachmittag des nächsten Tages wartet der letzte Auftrag. Sobald sie den Schrank abgeholt haben, passieren eigenartige Dinge, die immer rätselhafter und skurriler werden. Wir wissen nicht, wer die Geschichte Lenas erzählt und der Erzähler überlässt es uns, über mögliche Erklärungen nachzudenken. Er berichtet über erstaunliche Ereignisse und Begegnungen, vielleicht als Folge von Lenas Entscheidungen, wir wissen es nicht. Vielleicht ist es ja auch nur ein schlimmer Alptraum und Lena erwacht am Morgen, der Tag mit dem Schranktransport beginnt erst.
Fazit
Eine erstaunliche Geschichte, in deren Mittelpunkt ein robuster alter Schrank und viele Tiere stehen und deren zunächst gemütliche, humorvolle Szenen rasch ins grotesk-phantastisch-Schaurige kippen und viel Raum zum Nachdenken über mögliche Hintergründe und Erklärungen lassen.
Die phantastischen Tierwesen der Essiggasse
Die Erzählung „Der Schrank“ ist der dritte Teil der sogenannten „Essiggassen“-Trilogie. Als ich das Buch las, war mir nicht bewusst, dass es zwei Vorgänger gibt, aber eins sei betont: Man kann dieses Büchlein auch ohne Kenntnis ebendieser lesen.
Inhaltlich dreht sich alles um Lena, eine Möbelpackerin, die mit ihren beiden Kollegen Yilmaz und Korni zum letzten Auftrag des Tages, dem Transport eines antiken Kleiderschranks durch die Innenstadt von Wien geschickt wird. Im Laufe der Geschichte tauchen immer mehr Tiere in den Straßen Wiens auf und immer mehr Personen, inklusive der beiden Kollegen, verschwinden.
Während der erste Teil der Geschichte sich noch im Realismus bewegt und Themen aufgreift wie Arbeitsbedingungen, Zeitdruck sowie die Unvereinbarkeit mit Privatleben, kippt sie im zweiten Teil eindeutig nicht nur in die Phantastik sondern gar in den kafkaesken Surrealismus. Sprich, es wird auf rätselhafte Weise unheimlich und auch unerklärlich. Ich hatte hier aufgrund des Klappentextes eher mit Magischem Realismus gerechnet. Das Kafkaeske war mir letztlich zu viel und ließ mich mit zu vielen Fragezeichen nach der Lektüre zurück.
Auch wenn ich die großartigen Illustrationen von Jorghi Poll wirklich gemocht habe, so konnte mich Sailer mit seinem Schreibstil und dem Plot der Erzählung nicht überzeugen. Dafür war mir die Sprache einfach zu simpel gestrickt und z.B. auch mit zu vielen Aussagen in Klammern versehen, die den Lesefluss störten.
Abschließend war es eine gute Lektüre für zwischendurch, aufgelockert durch die wunderschönen Illustrationen, die mir aber manchmal mehr gesellschaftskritische Aussagekraft besaßen als der Text von Sailer an sich. Und das störte mich dann wiederum. Denn Illustrationen zu einem Text, sollten keine Inhalte vermitteln, die der Text nicht mitbringt. Sie können Bereicherung sein ja, aber ein Text sollte auch für sich stehen können.
Somit spüre ich leider keine Begeisterung über die Geschichte, sodass ich mir wohl doch nicht, wie vorgenommen, als ich herausfand, dass es noch zwei vorangegangene Veröffentlichungen gibt, die anderen beiden dazukaufen werde. Die Lektüre bereue ich nicht, trotzdem schade, dass es mich nicht gepackt hat. 3,5 Sterne von mir für dieses liebevoll gestaltete Büchlein von Edition Atelier.