Mädchen: Roman

Rouen im Jahr 1959: Oh nein, schon wieder ein Mädchen! Für den Allgemeinmediziner Matthieu Barraqué ist die Geburt seiner Tochter Laurence eine Enttäuschung. Wie sehr hätte er sich über einen Jungen gefreut. Es wird nicht das letzte Mal bleiben, dass Laurence die Last ihres Geschlechtes spürt…
„Es ist ein Mädchen“ ist ein Roman von Camille Laurens.
Meine Meinung:
Untergliedert in vier Teile und einen Epilog, ist der Aufbau komplexer als zunächst gedacht. Schon im umfassenden ersten Teil, der sieben Kapitel umfasst, wechselt die Perspektive mehrfach. Mal wird aus der Ich-Perspektive aus Sicht von Laurence erzählt, mal in der Du-Perspektive. Die Handlung erstreckt sich über etliche Jahrzehnte und spielt vorwiegend in Rouen.
In sprachlicher Hinsicht hat mir vor allem der erste Teil besonders gut gefallen. Er ist gespickt mit Wortspielen und gewitzten Formulierungen. Diese Raffinesse verliert sich leider etwas im weiteren Verlauf des Romans. Auffällig ist jedoch, dass der schnörkellose Schreibstil im gesamten Roman Emotionen sehr gut zu transportieren vermag.
Laurence ist keine klassische Sympathieträgerin. Sie wirkt in Bezug auf ihren Charakter wegen ihrer Ecken und Kanten sehr menschlich. Ihre Lebensgeschichte per se ist jedoch überspitzt gezeichnet. Sie ist sozusagen eine Mischung unterschiedlicher Schicksale und Erlebnisse, die in diesem Umfang nicht einer einzigen Person zuzuordnen sind.
Die Ausgestaltung der Figur hat damit zu tun, dass die Autorin offenbar sämtliche Facetten von Misogynie und der Benachteiligung von Frauen vor Augen führen wollte, ohne ein riesiges Personal unterzubringen. Darin ist auch das Hauptthema des Romans zu suchen. Sie schildert anhand der fiktiven Geschichte der Protagonistin, wie Frauen von der Geburt bis ins hohe Alter diskriminiert, abgewertet und übervorteilt werden, wie sie Opfer von psychischer, physischer und insbesondere sexueller Gewalt werden und nur auf dem Papier gleichberechtigt sind. Zwar wiederholen sich einige Aspekte, und in der Summe erscheint die Geschichte recht überzogen. Dies ist jedoch mit Sicherheit so gewollt. Der Roman hat es geschafft, auch bei mir für einige Aha-Momente zu sorgen, obwohl ich mich schon intensiv mit feministischen Themen befasst habe. Zudem fiele mir persönlich auch keine bessere Umsetzung ein, um alle Bestandteile von Misogynie abzudecken, ohne einen Wälzer zu schreiben.
Das vorliegende Werk ist mit seinen knapp 250 Seiten kein unterhaltsamer Schmöker, sondern ziemlich kompakt. Der Roman hat mich nicht nur zum Nachdenken angeregt. Er hat mich auch an mehreren Stellen überrascht.
Das deutsche Cover finde ich ansprechend und auch in Bezug auf das Motiv gelungen. Der mehrdeutige Titel des Originals („Fille“) lässt sich schwer ins Deutsche übertragen. Die gewählte Lösung kommt aber nahe heran.
Mein Fazit:
„Es ist ein Mädchen“ von Camille Laurens ist mehr eine feministische Anklage als ein Unterhaltungsroman. Bei mir hat das Buch einen Nerv getroffen. Eine empfehlenswerte Lektüre!
Dies ist die Geschichte von Laurence, geboren 1959 in Frankreich als Tochter eines konservativen Arztes und seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau. Beide wünschten sich sehnlichst einen Sohn, stattdessen kommt eine zweite Tochter zur Welt. Mit diesem Makel, nicht gewollt, minderwertig und ein Kind zweiter Klasse zu sein, wächst Laurence auf. Der Vater lässt kaum eine Chance aus, ihr das zu verstehen zu geben. Auch im Kindergarten, in der Schule, in der Nachbarschaft nehmen die Diskriminierungen kein Ende und gipfeln in einem sexuellen Missbrauch an der 10-Jährigen – verübt von einem Großonkel und gedeckt von der übrigen Verwandtschaft. Das macht fassungslos!
Ständig wird dem Mädchen Unterordnung und Anpassung abverlangt, sie soll sich nicht „interessant machen“. Das alles hinterlässt Spuren an der Seele des Kindes. Laurence kann als Folge der erlittenen Verletzungen ihre Sexualität, ihr Frausein, ihr sexuelles Erwachen nicht unbeschwert genießen, es ist sogar gestört und vergiftet. Wir begleiten Laurence über rund 50 Jahre, bis ihre eigene Tochter eine junge Erwachsene ist und ihre sexuelle Identität auslotet. Davon erzählt dieses Buch.
Laurence erscheint dabei als der Prototyp einer Frauengeneration. Ihr widerfährt mehr, als einer einzelnen Frau widerfahren kann. Durch diesen Kunstgriff soll die omnipräsente Misogynie in der Gesellschaft an den Pranger gestellt werden, die um die Missstände weiß und zuschaut, aber nichts unternimmt, um sie zu verändern. Manches hat sich seit damals verbessert, aber längst nicht alles.
Der Einstieg in den Roman ist fulminant gelungen: In der „Du“-Perspektive fühlt man sich sofort direkt angesprochen. Spitz und provokant im Ton wird ins Thema eingeführt, was es bedeutet ein Mädchen zu sein. Nach dem ersten Kapitel wird geschickt auf die Ich-Erzählerin umgeleitet, die nun ihre Erlebnisse aus eigener Anschauung berichtet. Manche Begebenheit ist ungeheuer schmerzhaft, manches schier unglaublich. Das Mädchen (und später die Frau) muss mit vielem alleine zurecht kommen, weil manche Themen einfach tabu sind.
Die Fülle an erlittenem Leid wurde mir persönlich insgesamt zu viel. Im Zuge der Lektüre stumpfte ich ab, die anfangs so packenden Schilderungen konnten mich emotional nicht mehr durchgängig erreichen. Zu konstruiert kam mir der Ablauf vor, zu stereotyp insbesondere die männlichen Figuren. Kein Klischee wird ausgelassen, die Autorin arbeitet zudem mit Unterstellungen und Redundanzen, die die benachteiligte Rolle der Frau verdeutlichen sollen. Das führte bei mir zu einem Glaubwürdigkeitsverlust an der Erzählerin selbst. Manche Szene konnte ich nicht zuordnen, manches kam mir unrealistisch vor. So schleichen sich seltsame Unterwerfungsfantasien in Laurences Träume. Romantik und Liebe sind Fremdworte für sie. Alles wird auf Triebbefriedigung reduziert. Das mag psychologisch schlüssig sein, hinterlässt bei mir aber Fragezeichen und Unverständnis.
Allerdings greift die Autorin auch sehr viel Zeitgeist der 1960er Jahre auf: Ältere Leserinnen werden sich an ihre eigene Jugend erinnern, als frauenverunglimpfende Witze salonfähig waren, als man über weibliche Sexualität (z.B. die Menstruation) höchstens verklausuliert sprach, als Jungfräulichkeitsmythen omnipräsent waren und Meinungen vorherrschten, nach denen Frauen ihren Männern Sex „schuldeten“... Da kann einem zweifellos noch heute die Galle hochkommen!
Laurence indessen wird als willenloses, unreflektiertes, schwaches Opfer stilisiert, die sich noch im Erwachsenenalter von ihrem Vater blauäugig manipulieren lässt und rein gar nichts kritisch hinterfragt. Zum Glück lässt sich ihre eigene Tochter Alice nicht in dieses althergebrachte weibliche Korsett zwängen. Sie begehrt auf, sucht sich ihren eigenen Weg. Leider wirkt auch dieser Twist auf mich überfrachtet. Zu viele zeitgemäße Genderthemen sollen untergebracht werden. Daher erscheint auch Alice wie ein Prototyp, wie das Gegenteil ihrer Mutter, das die Fesseln sprengt, dadurch aber neue Impulse setzt und auch der Älteren Wege in die Emanzipation aufzeigt.
Der Roman ist rhetorisch vielseitig und ansprechend geschrieben. Der Ton ist provokant, krass und rebellisch gehalten – zum Inhalt passend. Der bildhafte, direkte Ausdruck und die abwechslungsreichen Perspektivwechsel haben mir sehr gut gefallen. Das Thema dieses Romans, die latente Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft, ist zweifellos von großer Brisanz. Es kann nicht oft genug darauf aufmerksam gemacht werden, welchen Benachteiligungen, sexuellen Übergriffen und Erniedrigungen Mädchen und Frauen auch heute noch ausgesetzt sind. Ein Roman wie dieser kann dafür sensibilisieren und Aufmerksamkeit einfordern. Allerdings tut er das dermaßen überzeichnet und polarisierend, dass er möglicherweise nur eine kleine, feministische Zielgruppe erreicht. Das wäre schade, weil das Grundanliegen sehr berechtigt ist.
Für mich ist es also ein Roman mit Licht und Schatten, der zweifellos großes Diskussionspotential bietet. Ich bereue keinesfalls, dieses Buch gelesen zu haben. Es weitet den Horizont, führt aus der eigenen Wahrnehmungsblase heraus. Ein bisschen weniger wäre hier allerdings meines Erachtens mehr gewesen.
In ihrem autofiktionalen Roman lässt Camille Laurens ein Ende der 50er Jahre in Frankreich geborenes Mädchen (fast) alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten durchleben, die man als weibliches Wesen in dieser Welt zu dieser Zeit hätte erleben können. Laurence hätte ein Junge werden sollen und wurde dann doch nur (!) ein Mädchen. Sie wächst auf, in einer Welt, in der Mädchen weniger wert sind als Jungs, weniger ernst genommen werden, weniger geachtet sind. Nach verschiedensten negativ prägenden und mitunter auch traumatischen Erfahrungen wird ihr Selbstverständnis, ihre Sexualität, ja ihr ganzes Leben langfristig beeinflusst. So begleiten wir Laurence bis hinein in ihr Erwachsenenleben ,bis sie selbst Mutter wird und erneut vor der Frage steht: „Was ist es? Ein Junge oder ein Mädchen?“.
Gleich vorweg gesagt: Wenn man dieses Buch mit der Prämisse liest, dass „autofitkional“ nicht „autobiografisch“ heißt und vor allem, dass Camille Laurens hier sehr wahrscheinlich den Kunstgriff gewagt hat, so ziemlich jede Unaussprechlichkeit, die einem Mädchen und Frau passieren könnte, in die Lebensgeschichte von Laurence einzubauen, öffnet sich einem beim Lesen ein großartiges feministisches Manifest. Solange man versucht all die Erlebnisse gedanklich in ein „echtes“ Menschenleben zu packen, wirkt die Geschichte unglaubwürdig, wenn auch nicht komplett unwahrscheinlich(!). Dieses vorliegende feministische Manifest zeichnet sich aber nicht dadurch aus, dass es den heldenhaften Befreiungskampf einer Amazone zeigt, sondern vielmehr zeigt es die unglaublich vielen Demütigungen und Bedrohungen auf, denen – mitunter bis heute – Frauen ausgesetzt sind, einfach nur, weil sie eben nicht männlich sind.
So spielt die Autorin in ihrem Roman vor allem mit der Sprache und Perspektive, um diese Ungleichbehandlungen zu verdeutlichen. Und das tut sie durchaus mit Witz und präziser Beobachtungsgabe, was durch die Übersetzerin Lis Künzli überraschend gut ins Deutsche überführt worden ist. Die Erzählperspektive des ersten Kapitels setzt ein mit einem das Mädchen ansprechenden „Du“. Später wechselt die Erzählperspektive in eine „Ich“-Erzählstimme, um dann – nicht ohne Grund – zu einer von außen erzählenden, personalen Perspektive zu werden. So wechseln immer wieder im Roman diese Perspektiven durch. Der Clou an der Sache: Die Autorin kündigt diese Wechsel an indem sie auf die Metaebene geht, um den Lesenden zu verdeutlichen, was hier gerade geschieht, warum es gerade besser ist aus der personalen Perspektive zu erzählen. Das ist klasse gemacht und ist ein weiteres Indiz für das schriftstellerische Können der Autorin. Hier wird die Sprache und Form ein kongenial eingesetztes, kreatives Mittel. Toll!
Auf der inhaltlichen Ebene muss betont werden, dass alle dargestellten inneren Mechanismen, die Laurence‘ Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, auf fachlich-psychologischer Ebene Hand und Fuß haben. Das lässt Laurence, trotz der eher prototypischen Funktion als „eine Frau dieser Generation“, trotzdem zu einer authentischen Figur werden, die in sich geschlossen agiert. Und gerade diese Authentizität führte bei mir dazu, dass ich an einigen Stellen emotional aufgewühlt und erschüttert war und durchaus wütend wurde auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Genau das kann ein feministisches Werk, welches Misogynie aufzeigt, im besten Falle bewirken. Dass man wütend wird ob der Verhältnisse und eine Veränderung dieser einfordern möchte.
Zum Ende des Romans gibt es auch eine Tendenz genau dazu, zu zeigen, was sich mit dem Generationenwechsel schon zum Besseren verändert hat. Da geht es dann um Laurence‘ eigenes Kind und dessen Umgang mit Zwängen und Normen. Leider ist für mich dieser dritte und letzte Teil des Romans mit seinen 60 Seiten der Schwächste. Wobei das Meckern auf hohem Niveau ist. Die Autorin spricht hier durchaus wichtige und interessante Themen an, die sich aber wegbewegen von denen Laurence‘. Und dies ist dann einfach zu viel für das dünne Buch. Hätte die Autorin es bei der Fokussierung auf Laurence belassen, hätte der Roman für mich persönlich in sich geschlossener gewirkt.
Insgesamt ist und bleibt der Roman jedoch für mich eine Lektüre, die mich tief bewegen, mit ihrer sprachlichen und formellen Kreativität überzeugen konnte und letztlich in mir noch lange nachhallen wird. Definitiv kann ich „Es ist ein Mädchen“ für eine Lektüre empfehlen. Wem? Frauen, aber auch - und vielleicht sogar vor allem - Männern, denn das Buch macht einmal mehr deutlich, dass Männer durchaus auch Sorgen und Nöte haben, keine Frage, diese aber allein bezogen auf ihr im Geburtenregister eingetragenes Geschlecht in einer anderen Gewichtsklasse liegen, als die, mit denen Frauen über ihr gesamtes Leben hinweg aufgrund ihres biologischen Geschlechts zu kämpfen haben.
Sie lauern überall. Wir sind von ihnen umgeben. Genderspezifische Stereotype sind weit verbreitet: Rosa für die Mädchen, blau für die Jungen. Mädchen sind ängstlich, fürsorglich, zickig, kompliziert, brav und einfühlsam. Jungen sind mutig, stark, aggressiv, übermütig, wild und rücksichtslos. Mädchen schreiben schöner, basteln besser, spielen "Mutter, Vater, Kind", gehen zum Tanzen und schreien ihre Emotionen heraus. Jungen rechnen besser, sind sportlicher, spielen Krieg, gehen zum Kampfsport, drücken ihre Wut in Taten aus. Mädchen sind permanent gefährdet, müssen auf der Hut sein vor lauernden Gefahren, werden missbraucht. Jungen passiert so schnell nichts, sie kennen keinen Schmerz, sie sind die, die missbrauchen. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Stereotype über Mädchen und Jungen sind allgegenwärtig - damals wie heute. Sie abstrahieren vom Einzelfall und stilisieren beobachtete Eigenschaften zu Gruppenmerkmalen hoch. Das ist bequem und funktional und hilft, die komplexe Welt, in der wir leben, besser zu ordnen und in ihr zu handeln. Doch leider wird allzuoft vergessen, dass Vor-Urteile an der Realität und an jedem konkreten Einzelfall auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen wären. So verfestigen sich die (meist negativen) Vorurteile zu weitgehend stabilen und veränderungsinkonsistenten Einstellungen gegenüber einer bestimmten Gruppe von Menschen, beispielsweise den Mädchen und Jungen. Dies führt dann zu festen Rollenzuschreibungen und mitunter auch zu geschlechtsspezifischen Diskriminierungen.
In dem Roman "Mädchen" aus der Feder von Camille Laurens geht es darum, was es bedeutet, ein Mädchen (und eben nicht ein Junge) zu sein. Die Geschichte beginnt mit einer sehr eindrücklichen Szene: der Geburt eines Mädchens. "Es ist ein Mädchen!" - Was dies im Einzelnen alles an Bedeutungen umschließt, wird rhetorisch meisterhaft herausgearbeitet. Mit der Geburt beginnt eine lange Geschichte der Trennung, die letztlich die Ungleichheit zwischen den beiden Geschlechtern in die Welt bringt. So wird das eigentlich doch sehr freudige Erlebnis durch eine große Enttäuschung getrübt: Wäre es doch nur ein Junge geworden! Die Weichen sind so direkt gestellt: Ein Mädchen verheißt nichts Gutes, und darüber eben erzählt die Autorin, indem sie mittels eines Kunstgriffes, Laurence alles nur irgendwie Denkbare, was ein Mädchen ausmacht, erleben lässt. Dazu gehört auch, eine Triggerwarnung scheint angebracht, sexueller Missbrauch. Während zunächst dieser selbst und dessen Konsequenzen im Vordergrund stehen, gibt es in der zweiten Hälfte der Geschichte einen plötzlichen twist, wo die inzwischen erwachsene Laurence längst Mutter ist und nun von ihrer Tochter Alice, neue Lektionen in Sachen "Mädchen sein" lernt...
Mehr sei an dieser Stelle zum Fortgang der Handlung nicht verraten. Ich muss sagen, dass ich die erste Hälfte des Buches trotz des behandelten "harten Tobaks" gern gelesen habe. Warum? Da die Autorin das Thema Missbrauch mit allen potentiell schockierenden Details realitätsgetreu einbindet. Über das Thema kann nie genug geschrieben werden, um zu informieren, zu sensibilisieren, zu Widerstand und Handlungen aufzurufen. Doch was passiert dann? Die Geschichte wird hoffnungslos überfrachtet. Nicht nur wurde ihre Schwester Claude ebenfalls missbraucht und kommt eines Tages mit gelähmten Beinen nach Hause. Es gibt auch Unterwerfungsszenen im Schulkontext, wo Laurences Lehrer sich an ihr vergeht. Ob real oder fantasiert, hier kommt es zu einem Glaubwürdigkeitsverlust des missbrauchten Opfers. Laurence wird so überzogen dargestellt, unter anderem auch in der Störung ihres Sexualverhaltens, dass sie den Missbrauch wohl wenn nicht erfunden, doch zumindest übertrieben haben könnte. Und nein: Das war nicht mein Leseeindruck, sondern der mancher LeserInnen in der Gruppe, mit der ich über die Geschichte diskutierte. An dem Punkt muss ich dann leider sagen, dass das Buch in der Folge bei mir verloren hat: Angesichts eines so ernsten und sensiblen Themas kann ich es nicht akzeptieren, dass zugunsten eines feministisch inspirierten Anliegens, ein Klagelied auf das Mädchen-Sein zu singen, ein realistisch dargestellter Missbrauch plötzlich unglaubwürdig und fragwürdig wird.
Die Leistung, in einer Figur verdichtet, alle Implikationen des Mädchen-Seins aufzuzeigen kann ich zwar dennoch als besonderen erzählerischen "Kniff" anerkennen, aber für mich war es dann einfach "too much" - zumal hier kaum eines der genderspezifischen Stereotype ausgelassen wird. Interessant, aber für mich daher unpassend auch der twist am Ende, wo Alice ihre Mutter letztendlich lehrt, Perspektiven zu wechseln und sich mit sich selbst zu versöhnen. Grundsätzlich ein schöner Ausgang, wäre da nicht dieses Kardinalproblem, dass zu diesem Zweck ein sehr ernstes und leider stets allgegenwärtiges Thema wie sexueller Missbrauch instrumentalisiert und dadurch irgendwie auch relativiert wird.
Alles in allem war es eine interessante Lektüreerfahrung. Der Schreibstil der Autorin ist durch klug eingesetzte Perspektivwechsel und eine teils sehr bildhafte Sprache recht ansprechend. Mit den Figuren wurde ich aber nicht warm, insbesondere nicht mit den erwachsenen Protagonisten der Familie von Laurence. Immer wieder musste ich angesichts des Geschehens und der Haltungen einzelner Figuren den Kopf schütteln. Mit Laurence habe ich anfangs sehr mitgelitten und mitgefühlt, aber durch abstruse Verhaltensweisen ihrerseits, beispielsweise gegenüber der neugeborenen Alice, habe ich den Anschluss zu ihr irgendwann verloren.
Sollte man dieses Buch empfehlen? Ich würde sagen, "ja", wenn man ein feministisch inspiriertes Werk über die Facetten des Mädchen-Seins und die damit einhergehenden Benachteiligungen lesen möchte. Und "nein", wenn man sich für das Einzelschicksal von Laurence und deren Missbrauch stärker interessiert oder wenn man möglicherweise gar selbst einen Missbrauch erleben musste. In jedem Fall ist es ein kontroverses Werk, das sich insofern bestens zur Diskussion in Lektürekreisen eignet.
Hilfe, es ist ein Mädchen
Laurence wächst im Frankreich der 60er Jahre auf. Sie hat eine ältere Schwester, der Vater ist Arzt, die Mutter bleibt in den ersten Jahren, als die Kinder noch klein sind, zu Hause. Sie spürt früh, wie ungewollt Mädchen in ihrer Familie und in der Gesellschaft sind. Fakten, die nicht von der Hand zu weisen sind, löblich, dass die Autorin sich dieses Themas annimmt. Dennoch muss ich erwähnen, dass Camille Laurens es manchmal ein wenig übertreibt. Sie lässt zu Beginn keine Situation aus, um die Lage der Mädchen zu unterstreichen, bringt viele Witze mit ein, die alles unterstreichen sollen. Weniger wäre da meiner Meinung nach tatsächlich mehr und genauso eindrucksvoll gewesen.
Sie schildert an Laurence, beginnend in der Kindheit bis ins Erwachsenenalter, was es bedeutet sich als Mensch zweiter Wahl zu fühlen. Dieses Gefühl, und die damit verbundene Schmach, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben, und auch durch ihre Handlungen. Laurence schafft es lange Zeit nicht, sich davon zu lösen, erst am Ende wird der Leser mit einer Laurence konfrontiert, die die Welt, und das weibliche Geschlecht, mit anderen Augen sieht. Doch auch das hat sie nicht allein geschafft, dazu brauchte es ihre Tochter Alice. Schon brillant, dass es am Ende ein Mädchen ist, dass ihr ein positives Gefühl zu ihrem bisher so diskriminierten Geschlecht verschafft.
Doch der Weg bis dahin ist mit vielen Enttäuschungen gepflastert, Erlebnisse mit denen sie sich abfindet. Beim lesen wurde ich tatsächlich einige Male sehr wütend, weil ihr oft Unrecht getan wurde, schlimme Dinge geschahen, die die Erwachsenen herunterspielten, weil auch sie diese Doktrin verinnerlicht haben.
Dieser Roman bringt diese Missstände zur Geltung, und ist durchaus lesenswert. Die Übertreibungen, die ich eingangs erwähnte, verflüchtigen sich im weiteren Verlauf ein wenig, sie konzentrierten sich mehr auf die Geschehnisse der Kindheit. Die Episoden aus Laurence früher Jugend und ihr Leben als Ehefrau und Mutter waren zielgerichteter, ohne diese häufigen Erwähnungen, was mir besser gefallen hat.
Kurzmeinung: Lesenswert. Bietet reichlich Stoff zur Diskussion.
In diesem Roman beschreibt die Autorin, was einer weiblichen Person so alles an Schmach und Benachteiligung/en geschehen kann. Als Laurence Charpentier, geborene Barraqué, zur Welt kommt und mit den Worten empfangen wird „Es ist ein Mädchen“ hört sich das für sie in der Rückschau genau so an wie „es ist n u r ein Mädchen.“ Laurence ist die Erzählerin. Ihr Vater hat sich einen Jungen gewünscht. Dass sie „nur“ ein Mädchen ist, wird sie von ihm ihr ganzes Leben lang zu spüren bekommen. Nie ganz offen, das Ressentiment wird nie zugegeben, häufig nur subtil vermittelt, ist aber vom Ergebnis her immer negativ zu deuten.
In der Rückschau fällt es der Protagonistin wie Schuppen vor den Augen und sie beginnt, die kleinen, aber verräterischen Anzeichen für die Herabwürdigung ihres Geschlechts zu begreifen, unglaublich, wie früh es gewesen ist, dass sie Nachteile psychischer wie physischer Natur hat erleben müssen. Das Mantra ihres Lebens ist der Satz gewesen, „mach dich nicht interessant“, den die Umgebung, Papa voran, ihr eingebläut haben. Leider hat sie diesen Satz (und andere) tatsächlich verinnerlicht und eine Rebellion gegen Papa, die dringend hätte stattfinden müssen, findet nicht statt. Im Gegenteil, noch als sie selber Kinder bekommt, versucht sie, ihrem Vater zu gefallen. Wo war Mama?
Der Kommentar:
Die Idee, eine Figur zu schaffen, an die man einfach wie an einen Kleiderständer alle Benachteiligungen hängt, die Frauen treffen können, so dass Laurence mehr als Platzhalter fungiert denn als echte, lebendige Person, sagt mir zu. In der einen oder der anderen Form ist es jeder Frau begegnet, dass sie sich entweder verbiegen muss oder um etwas kämpfen, was den männlichen Kollegen in den Schoß fällt. Frau muss sich doppelt anstrengen; Erziehung zur Demut. Zur Unterordnung. Weiblicher Schmerz ist nicht wichtig. Stell dich nicht an. Ist doch nicht schlimm oder sogar ein Affront für den männlichen Part in der Beziehung. Ah, es lassen sich noch mehr Bücher füllen mit allen Ungerechtigkeiten, die Frauen allein ihres Geschlechts wegen, erleiden.
Die Idee, den Fokus dabei auf die weibliche Sexualität zu legen, vom Erwachen erster sexueller Regungen an über die Aufklärung, wenig feinfühlig vom Medizinerpapa vorgenommen – aber immerhin – „in der Hochzeitsnacht muss der Ehemann wissen, was zu tun ist, das ist normal, die Frau muss einfach machen lassen“, mit anderen Worten, er darf herumvögeln, sie soll keusch bleiben. Noch Fragen? Nein. Die Idee, also, den Romanfokus auf die sexuelle Seite des Frauseins zu legen, ist zwar arg einseitig, aber gut, warum nicht einmal diese Seite heller beleuchten?
Laurence – als Platzhalter – bleibt wenig erspart. Missbrauch, häusliche Gewalt, Verrat, Gefahr für Leib und Leben, von beruflichen Nachteilen nicht zu reden. Dass der Vorname Laurence fast identisch mit dem Nachnamen der Autorin ist, sollte man nicht überbewerten. Autofiktional nennt man ihre Schreibweise. Jede Frau findet sich irgendwo wieder, keine Frau erlebt alles.
Ich mag die flotte Schreibweise, sie ist manchmal kess. Und manchmal krass. Und ich mag die Komprimierung des Elends. Als Frau bleibt man nicht kalt beim Lesen, man ist empört und wird wütend. Aber auf wen? Warum konnte sich Laurence nicht früher emanzipieren? Sind die Zeiten heute wirklich anders? Es kommt darauf an, wo man lebt. Und was man für einen Vater (gehabt) hat. Aber darauf kommt es immer an. Darauf, wo man herkommt. In welche Familie man hineingeboren wird. Das ist mein einziger Kritikpunkt. Manches ist einfach Schicksal.
Mehrfache Perspektivwechsel und Zeitraffungen machen den Roman rund.
Fazit: In der Bewertung gibt es ein glattes sehr gut unter dem Gesichtspunkt, dass Laurence als Kunstfigur gesehen wird, an der ein Exempel statuiert werden soll.
Kategorie: Anspruchsvoller Roman.
Verlag: dtv 2022
„Morgens nach der Dusche klatsche ich im schummrigen Neonlicht des Badezimmers meine Haare nach hinten, spanne meinen Kiefer an und dort, unter den buschigen Augenbrauen, mit nackter Haut, gleiche ich meinem Vater, in meinem Gesicht steckt ein Junge. Ich kann mich nicht entscheiden.“ (Zitat Seite 138)
Inhalt
Laurence wird 1959 in Rouen geboren, als zweite Tochter der Familie des Arztes Jean-Matthieu Barraqué. Eine große Enttäuschung für den Vater, der nach der ersten Tochter Claude mit einem Sohn gerechnet hatte. Die Kommentare der Familie und Bekannten „Ah, das ist doch auch gut“ hört Laurence natürlich noch nicht, aber ihre Kindheit und Jugend in dieser gutbürgerlichen Familie sind geprägt von den Vorschriften, wie sich Mädchen zu verhalten haben. Ihre Schwester Claude entflieht Rouen und der Familie sofort nach dem Abitur, sie geht nach Kanada, um nie mehr zurückzukommen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester kehrt Laurence nach Studium und Heirat nach Rouen zurück, da sie ihr erstes Kind erwartet – einen Sohn.
Thema und Genre
In diesem Roman geht es um die vielen Formen von Misogynie, verdeckt oder offen, denen Frauen schon ab ihrer Geburt als Mädchen in der zweiten Hälfte des modernen zwanzigsten Jahrhunderts ausgesetzt waren und auch heute noch sind.
Charaktere
Laurence lernt rasch, was es bedeutet, ein Mädchen zu sein. Auch später, als erwachsene Frau, kann sie sich den Zwängen ihrer Erziehung und Gesellschaft kaum entziehen. Ich hatte eine stärkere Hauptfigur erwartet, die sich früher und bewusster zur Wehr setzt.
Handlung und Schreibstil
Die Autorin schildert am Beispiel eines Frauenlebens alle Facetten von Misogynie, Erziehung, Ungleichbehandlung, Rollenbildern, bis zu Unterdrückung, sexuellen Übergriffen und Gewalt, denen eine Frau von Geburt an ausgesetzt sein kann und ist. Durch diesen Fokus auf eine einzige Beispielfigur, Laurence, ergibt sich eine Fülle von erlebten Situationen und Ereignissen, deren Realität und Glaubwürdigkeit man während des Lesens zu hinterfragen beginnt. Vom Verlag werden die Romane von Camille Laurens als autofiktional eingestuft, doch für mich war es an manchen Stellen schwierig, zwischen Phantasien, Fiktion und möglicher, nachvollziehbarer Realität zu unterscheiden. Entsprechend positiv und interessant ist für mich daher der Wechsel zwischen den Erzählperspektiven, wenn die Ich-Erzählerin Laurence bei den Erinnerungen an besonders prägende Ereignisse auf Distanz zu sich selbst geht.
Fazit
Dieser Roman, oder eher eine dichte Beschreibung und Aufzählung der möglichen Diskriminierung von Frauen in Worten und Taten wurde und wird vor allem von Leserinnen mit zustimmender Begeisterung aufgenommen. Obwohl ich mir der Wichtigkeit dieses facettenreichen, zeitlos aktuellen Themas bewusst bin, wurde es für mich im Laufe der Geschichte too much, zu viel gewollt und damit zu konstruiert, um mich zu überzeugen. Dennoch ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren anregt.
DIe Frau an sich
"Haben Sie Kinder?" wird der Vater gefragt. "Nein, ich habe zwei Mädchen", antwortet er.
Laurence wächst als zweite Tochter in den 1960er Jahren in einer gutbürgerlichen Familie in Rouen auf. Der Vater ist Arzt, die Mutter Hausfrau. In dieser Welt sind Mädchen nicht so viel wert wie männliche Nachfolger. Stereotype Rollenbilder prägen die Kindheit und das Heranwachsen des Mädchens. Laurence erfährt sexuellen Missbrauch. Die Abnabelung vom Elternhaus geht nicht spurlos an ihr vorbei. Erst als sie in späteren Jahren selbst Mutter einer Tochter ist, beginnt sie sich auch der Rollenzuschreibung zu entziehen.
„Es ist ein Mädchen“ ist der autofiktionale Roman der französischen Schriftstellerin Camille Laurens. Es kommt wohl nicht zufällig, dass der Vorname der Protagonistin phonetisch mit dem Namen der Autorin im Gleichklang ist. Dabei darf der Roman nicht mit einer Biografie verwechselt werden. Vielmehr bildet Camille Laurens mit Laurence ein weibliches Leben in einer Gesamtsicht ab.
Misogynie, sexuelle Diskriminierung und sexuelle Gewalt: vom dummen sexistischen Witz bis zum sexuellen Missbrauch ist die Bandbreite groß, mit der wahrscheinlich jede Frau irgendwann in ihrem Leben konfrontiert wurde.
Sprachlich ist diese weibliche Anklage perfekt formuliert. Auf den ersten Seiten noch in der Du-Perspektive wechselt der Erzählton später zum Ich. Die Leserinnen können sich angesprochen fühlen. Es ist ein wütendes Buch, ein detailliertes Protokoll des Frauseins. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist das Leben der Laurence nachvollziehbar. Laurence steht für das Mädchen, die Frau an sich in der Gesellschaft.