Das Mädchen an der Grenze: Roman

Inhaltsangabe zu "Das Mädchen an der Grenze: Roman"
Die Welt und die Dinge in Thomas Sautners neuem Roman sind anders beschaffen, als es den Anschein hat. Wir schreiben das historische Wendejahr 1989, der Eiserne Vorhang fällt. Das Mädchen Malina, das mit seiner Familie in einem alten Zollhaus lebt, nimmt Dinge wahr, die niemand sonst zu erkennen vermag. Das lässt sie in eine Welt kippen, in der die üblichen Wahrheiten keinen Halt mehr bieten. Ist das Leben nur ein Traum, eine Illusion? Oder im Gegenteil: mehr, als wir je zu denken wagten? Ausgerechnet ihrem ruppigen Vater, dem Grenzbeamten, gelingt es schließlich, in ihr Universum vorzudringen.Thomas Sautners "Mädchen an der Grenze" eröffnet den Leserinnen und Lesern den Blick auf ein Leben, wie es zuvor nicht gedacht wurde. Was ist Wahrheit? Wohin führt Verstand? Und wie weit reicht Liebe? Ein Roman wie ein Leben ohne Sicherheitsnetz: betörend und schwindelerregend.
Grenzüberschreitungen - Grenzerfahrungen
Ich liebe Sautners Schreibstil, seine Poesie, seine Wortschöpfungen. Es gibt kein Wort zu viel, jeder Satz muss genau so sein. Wie ein Sog zieht er mich in seine Welt. In seinen Romanen „Fuchserde“ und „Milchblume“ erzählt er nachvollziehbare Geschichten. „Das Mädchen an der Grenze“ ist ganz anders, mit dem Intellekt für mich nicht immer fassbar. Der Roman erschließt sich eher intuitiv. Es geht um Grenzüberschreitungen auf unterschiedlichen Ebenen. Handlung steht nicht im Vordergrund. Die meiste Zeit nehmen wir an inneren Bildern, Dialogen und Gefühlen eines Kindes mit seherischen Fähigkeiten teil.
Das Mädchen Malina lebt mit ihrer Familie in Österreich in einem Zollhaus im Wald fußläufig von der tschechischen Grenze entfernt. Im Jahr 1988 kommt es zu realen Grenzüberschreitungen: Als Mutprobe übertreten Malina und andere Kinder die Grenze nach Tschechien, was nicht ohne Folgen bleibt. 1989 beginnen politische Grenzen durchlässiger zu werden, der Eiserne Vorhang zeigt immer mehr Risse und fällt schließlich ganz.
Malina nimmt die Welt auf besondere Art und Weise wahr. Gegenstände „verwackeln“, lösen sich auf. „Nichts hielt meinen Blicken stand, überall verschwanden die Dinge, selbst der Wald rundum löste sich auf, bis weit zum Horizont flirrte, flackerte, zerfiel die Welt“ (S. 13). Sautner erzählt einfühlsam aus Malinas Sicht wie sich ihre Wahrnehmungen verändern und welche Stress- und Angstzustände dadurch bei ihr, aber auch bei ihrer Familie, besonders ihrem Vater, ausgelöst werden. Malina hat Visionen, sieht Vergangenes, Zukünftiges, kann die Gedanken von Menschen hören, ihre Gefühlszustände spüren und auch Schmerz nehmen, sogar heilen. Raum und Zeit verschwimmen. Immer mehr Bilder stürzen zeitgleich auf sie ein, sie kann die „Schleuse“ nicht schließen, ist in Lebensgefahr, landet in der Psychiatrie. Im Krankenbett folgt die Geschichte keinem Handlungsstrang mehr. Wir haben Einblick in Malinas Inneres. Ein furioser Reigen beginnt, während ihr Leben am seidenen Faden hängt. Sie trifft Götter und andere, teils mystische Wesen. Es geht um grundsätzliche Fragen des Lebens: Was ist Wirklichkeit, was Illusion? Wie ist die Welt entstanden? Ist alles nur ein Spiel? Ein großes Experiment? Gibt es Reinkarnation? Wie hängt alles zusammen und kann es überhaupt eine Antwort auf diese Fragen geben? „Im Tod erkannte ich, dass alles gleichzeitig war“ (S. 111). Ihr Vater holt sie mit der Kraft der Silben, Wörter und Sätze zurück; er liest ihr vor. Wieder zuhause, erlangt Malina eine gewisse Kontrolle über all das, was ungebremst auf sie einstürzt.
„Das Mädchen an der Grenze“ ist ein dichtes, komplexes und intensives Buch, das mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten bietet. Da ihm in weiten Teilen Handlung und auch ein Spannungsbogen fehlen, ist es sicher kein Buch für jedermann. Wer dieses Buch aufschlägt, die Grenze übertritt, gelangt in einen Strudel aus Poesie, gefüllt mit Gedankenspielen zwischen Traum und Wirklichkeit. Zurück bleiben Fragen, Fragen, Fragen. „Das Leben ist nicht verstehbar (…) und schon gar nicht ist das Leben erklärbar“ (S. 90).
Ein sehr außergewöhnliches, spezielles Buch, das mich in seinen Bann gezogen hat. Ich werde es bestimmt noch einmal lesen.