Das Mädchen an der Grenze: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Mädchen an der Grenze: Roman' von Thomas Sautner
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Mädchen an der Grenze: Roman"

Die Welt und die Dinge in Thomas Sautners neuem Roman sind anders beschaffen, als es den Anschein hat. Wir schreiben das historische Wendejahr 1989, der Eiserne Vorhang fällt. Das Mädchen Malina, das mit seiner Familie in einem alten Zollhaus lebt, nimmt Dinge wahr, die niemand sonst zu erkennen vermag. Das lässt sie in eine Welt kippen, in der die üblichen Wahrheiten keinen Halt mehr bieten. Ist das Leben nur ein Traum, eine Illusion? Oder im Gegenteil: mehr, als wir je zu denken wagten? Ausgerechnet ihrem ruppigen Vater, dem Grenzbeamten, gelingt es schließlich, in ihr Universum vorzudringen.

Thomas Sautners "Mädchen an der Grenze" eröffnet den Leserinnen und Lesern den Blick auf ein Leben, wie es zuvor nicht gedacht wurde. Was ist Wahrheit? Wohin führt Verstand? Und wie weit reicht Liebe? Ein Roman wie ein Leben ohne Sicherheitsnetz: betörend und schwindelerregend.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:148
Verlag: Picus Verlag
EAN:9783711720474

Rezensionen zu "Das Mädchen an der Grenze: Roman"

  1. Grenzüberschreitungen - Grenzerfahrungen

    Ich liebe Sautners Schreibstil, seine Poesie, seine Wortschöpfungen. Es gibt kein Wort zu viel, jeder Satz muss genau so sein. Wie ein Sog zieht er mich in seine Welt. In seinen Romanen „Fuchserde“ und „Milchblume“ erzählt er nachvollziehbare Geschichten. „Das Mädchen an der Grenze“ ist ganz anders, mit dem Intellekt für mich nicht immer fassbar. Der Roman erschließt sich eher intuitiv. Es geht um Grenzüberschreitungen auf unterschiedlichen Ebenen. Handlung steht nicht im Vordergrund. Die meiste Zeit nehmen wir an inneren Bildern, Dialogen und Gefühlen eines Kindes mit seherischen Fähigkeiten teil.
    Das Mädchen Malina lebt mit ihrer Familie in Österreich in einem Zollhaus im Wald fußläufig von der tschechischen Grenze entfernt. Im Jahr 1988 kommt es zu realen Grenzüberschreitungen: Als Mutprobe übertreten Malina und andere Kinder die Grenze nach Tschechien, was nicht ohne Folgen bleibt. 1989 beginnen politische Grenzen durchlässiger zu werden, der Eiserne Vorhang zeigt immer mehr Risse und fällt schließlich ganz.
    Malina nimmt die Welt auf besondere Art und Weise wahr. Gegenstände „verwackeln“, lösen sich auf. „Nichts hielt meinen Blicken stand, überall verschwanden die Dinge, selbst der Wald rundum löste sich auf, bis weit zum Horizont flirrte, flackerte, zerfiel die Welt“ (S. 13). Sautner erzählt einfühlsam aus Malinas Sicht wie sich ihre Wahrnehmungen verändern und welche Stress- und Angstzustände dadurch bei ihr, aber auch bei ihrer Familie, besonders ihrem Vater, ausgelöst werden. Malina hat Visionen, sieht Vergangenes, Zukünftiges, kann die Gedanken von Menschen hören, ihre Gefühlszustände spüren und auch Schmerz nehmen, sogar heilen. Raum und Zeit verschwimmen. Immer mehr Bilder stürzen zeitgleich auf sie ein, sie kann die „Schleuse“ nicht schließen, ist in Lebensgefahr, landet in der Psychiatrie. Im Krankenbett folgt die Geschichte keinem Handlungsstrang mehr. Wir haben Einblick in Malinas Inneres. Ein furioser Reigen beginnt, während ihr Leben am seidenen Faden hängt. Sie trifft Götter und andere, teils mystische Wesen. Es geht um grundsätzliche Fragen des Lebens: Was ist Wirklichkeit, was Illusion? Wie ist die Welt entstanden? Ist alles nur ein Spiel? Ein großes Experiment? Gibt es Reinkarnation? Wie hängt alles zusammen und kann es überhaupt eine Antwort auf diese Fragen geben? „Im Tod erkannte ich, dass alles gleichzeitig war“ (S. 111). Ihr Vater holt sie mit der Kraft der Silben, Wörter und Sätze zurück; er liest ihr vor. Wieder zuhause, erlangt Malina eine gewisse Kontrolle über all das, was ungebremst auf sie einstürzt.
    „Das Mädchen an der Grenze“ ist ein dichtes, komplexes und intensives Buch, das mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten bietet. Da ihm in weiten Teilen Handlung und auch ein Spannungsbogen fehlen, ist es sicher kein Buch für jedermann. Wer dieses Buch aufschlägt, die Grenze übertritt, gelangt in einen Strudel aus Poesie, gefüllt mit Gedankenspielen zwischen Traum und Wirklichkeit. Zurück bleiben Fragen, Fragen, Fragen. „Das Leben ist nicht verstehbar (…) und schon gar nicht ist das Leben erklärbar“ (S. 90).
    Ein sehr außergewöhnliches, spezielles Buch, das mich in seinen Bann gezogen hat. Ich werde es bestimmt noch einmal lesen.

  1. Philosophisch, mit Magie und Poesie

    „Den allerwenigsten gelingt es, freizukommen. Die meisten sind einfach nur sie selbst, bleiben ein Leben lang in sich gefangen.“ (Zitat Seite 67)

    Inhalt
    Ein altes Zollhaus an der österreichischen Grenze, auf der anderen Seite die Tschechoslowakei. Dort wächst Malina mit ihren Eltern und ihren beiden Schwestern auf. Zum Spielen hatten sie die freie Natur, nur der Grenze durften sie nie zu nahe kommen. Manchmal zerwackelt die Gegenwart um Malina, sie sieht und spürt Dinge und dieses Anderssein macht sie auch in der Familie zu einer Fremden. Nur der Vater versucht, sie zu verstehen und für sie da zu sein.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um Grenzen, um reale und symbolische, metaphorische, sowie deren mögliche Überwindung. Auch unterschiedliche philosophische Sichtweisen spielen eine wichtige Rolle.

    Charaktere
    Die Hauptprotagonistin Malina ist ein besonderes Mädchen. Sie ist phantasievoll und überschreitet nicht nur die reale Grenze zwischen West und Ost, sondern es verschieben
    sich auch die Grenzen ihrer Wahrnehmung zwischen Wirklichkeit und philosophisch-metaphysischer Parallelwelt.

    Handlung und Schreibstil
    Der Roman ist in vier Teile gegliedert, diese wiederum in Kapitel. Erzählt wird die Geschichte großteils von Malina. Die Ereignisse finden im Jahr 1989 statt, dem Jahr der Öffnung der Grenzen, was in die Geschichte einfließt. Doch auch die Zeit verwischt sich in diesem Roman zwischen mehreren Ebenen. Die Zeit, die Malina in der Klinik verbringt, scheint sich über das Jetzt von Raum und Zeit auszuweiten, grenzenlos. Ähnlich ausufernd ist auch die Sprache.

    Fazit
    Ich wollte dieses Buch lesen, da es die Kindheit von Malina, Protagonisten auch im Roman „Großmutters Haus“, schildert. Beides sind eigenständige Romane und die Reihenfolge spielt daher keine Rolle. Dieses Buch hier ist eine magische, philosophische Geschichte zwischen kindlich und surreal. An manchen Stellen war mir die Fülle der Gedanken, Dichte, Wortschöpfungen zu viel und ich habe den Esprit von „Großmutters Haus“ vermisst.

  1. Die Grenzen von Malinas Welt

    Im Grenzland zwischen dem, was andere Menschen als die unbestreitbare Realität betrachten, und ihrer ganz persönlichen Wahrheit, lebt die junge Malina ihr verzaubertes, manchmal verstörend andersartiges Leben. Immer wieder ‚zerwackelt‘ ihre Wahrnehmung, wie sie das nennt, zerfällt ihre Welt in winzige Fragmente, und durch die Risse im Realitätsgefüge fällt gleißend helles Licht.

    Sie sieht und hört und weiß Dinge, die andere Menschen nicht sehen oder hören oder wissen. Sie besucht und beeinflusst die Leben anderer, über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg, und erlebt so zum Beispiel die Geburt ihres eigenen Vaters. In der Gegenwart befreit sie diesen durch Handauflegen von seiner Aggression.

    Hat dieses Mädchen eine blühende Fantasie? Leidet sie an einer psychischen Störung? Hat sie tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten? So oder so: Realität ist in diesem Buch ein wandelbares Konstrukt. Was immer jedoch Malinas besondere Wahrnehmung der Welt verursacht, es bringt sie zwischenzeitlich in eine psychiatrische Anstalt.

    Thomas Sautner beschreibt das mit zunehmender Intensität.

    Immer wenn man glaubt, man hätte die Grenzen von Malinas Welt ausgelotet, eröffnet sich ein weiterer Aspekt, der alles verändert. In ihrem Innenleben wie in ihrem physikalischen Umfeld passiert sehr viel, und manchmal alles gleichzeitig. Verschiedene Handlungsstränge überlappen sich oder verlaufend fließend ineinander, so dass es nicht immer einfach ist, den Überblick zu bewahren.

    Das sollte vielleicht nicht funktionieren, aber bei diesem Buch, in dem es um Grenzen und Grenzübschreitungen geht, funktioniert es meines Erachtens sehr gut.

    Während der zweite und dritte Teil des Buches sich vor allem mit Malinas Psyche beschäftigen, nähert sich die Geschichte im vierten Teil wieder der geographischen und politischen Grenze in Malinas Leben an. Wir sind zurück in der Realität, und dort hat die Welt sich gravierend verändert.

    Die zweite Grenze:

    Malina lebt nicht nur an der Grenze zwischen Realität und Illusion, sondern auch an der österreichisch-tschechischen Grenze, im Jahr 1989. Noch hängt der eiserne Vorhang, noch hält sich der Status Quo, irgendwie. Aber es ist eine Zeit des bevorstehenden Umsturzes, an einem Ort, an dem man diesen Umsturz bereits in den Knochen spürt.

    Die Spannungen zeigen sich schon ganz am Anfang: Die Kinder wagen sich als Mutprobe in den Wald nahe der Grenzstation (eine der vielen Grenzüberschreitungen dieser Geschichte). Malina wird ohnmächtig, ein tschechicher Grenzer findet sie und trägt sie davon, bevor Freunde oder Familie ihr zur Hilfe eilen können. Ihr Vater, halb wahnsinnig vor Sorge, schwingt sich aufs Rad und überschreitet selber die Grenze, wird fast erschossen. Panik auf beiden Seiten.

    Aber dann ist doch alles ganz anders – jenseits der Grenze finden die Charaktere dieses Romans selten das, was sie erwartet haben.

    Die Sprache ist klar und dicht und ausdrucksstark, voller intensiver Bilder.

    Thomas Sautner findet die passenden Worte für Malinas komplexe Gedanken und Träume: schwebend, träumerisch, vorurteilsfrei.

    Man kann es lesen als modernes Märchen, oder als Geschichte eines kranken Kindes, das an der Realität zerbricht und sich wieder zurückkämpfen muss in ein besseres Leben. Und es gibt sicher noch viele andere Interpretationsmöglichkeiten.

    FAZIT

    Der Titel des Buches ist treffend gewählt, denn hier geht es um Grenzen und Grenzüberschreitungen vieler Arten.

    Malina lebt mit ihrer Familie nahe der österreichisch-tschechischen Grenze, zur Zeit des Berliner Mauerfalls. Aber es sind nicht nur die gesellschaftlichen Spannungen der Zeit, die sie beschäftigen: ihre Wahrnehmung deckt sich nur selten mit der Wahrnehmung anderer Menschen, ihre Wirklichkeit ist ein sehr fragiles Gefüge.