Das wilde Leben der Cheri Matzner

„Alles, was wir haben, ist unsere Fähigkeit, jeden Morgen aufzustehen und zu entscheiden, wie wir leben wollen, was wir erleben wollen – Gutes oder Schlechtes. Ohne das sind wir nichts.“ (S. 277)
Wenn eine Autorin (in diesem Fall Tracy Barone) ihrem Roman „Das wilde Leben der Cheri Matzner“ (im Original „Thanksgiving“ bzw. „Happy Family“) den ersten Satz eines Weltliteraturklassikers (Anna Karenina) voranstellt, weckt das seitens der Leser*innen evtl. gewisse Erwartungen bzgl. Inhalt und/ oder Brillanz (okay, etwas überspitzt ausgedrückt). Nun, was haben wir 141 Jahre nach Anna Karenina?
- Wir haben einen Familienroman.
- Wir haben Liebe und Sex.
- Wir haben unterschiedliche Gesellschaftsschichten.
- Wir haben Tod, Trauer und Verlust.
Haben wir es also bei Cheri Matzner mit einer modernen Anna Karenina zu tun? Nein, mitnichten. Ich glaube aber auch nicht, dass Tracy Barone mit diesem Anspruch an das Schreiben ihres Erstlingswerks gegangen ist.
Vielmehr wollte die studierte Religionswissenschaftlerin
„Religion gehört im Grunde zu den vielseitigsten Gebieten; es überschneidet sich mit Geschichte, Kunst, Sprache, Politik. Kriege werden immer wegen der Religion geführt. Die Leute behaupten hartnäckig, die eine wäre besser als die andere, dabei geht es bei allen um das Gleiche.“ (S. 302)
und Drehbuchautorin aufmerksam machen auf Drogenmissbrauch, Verlust oder Tod eines Kindes oder eines anderen Familienangehörigen, Adoption, die dadurch (möglichen) Schwierigkeiten und Zusammenbrüche einer Familie…Dass alles vorgetragen in einer leichtfüßigen, dennoch nie oberflächlichen Erzählweise.
„[…] Es gibt keine Antworten, nur dass jedes Leben, egal, wie lang oder kurz, ein wertvolles Geschenk ist. Nicht die Länge der Zeit, die wir auf Erden verbringen, ist bedeutsam, sondern wie wir sie nutzen, wie wir leben.“ (S. 339)
Es ist aber auch die Suche nach sich selbst, nach seinen Wurzeln – Fragen, die sich wohl insbesondere adoptierte Kinder immer wieder im Lauf ihres Lebens stellen. Und so darf Cheri Matzner am Ende Frieden mit sich, ihrer „wilden“ Welt, ihren Ängsten schließen.
„Während Michael kreuz und quer durch Amerika fuhr, um nach Antworten in Bezug auf sein nahendes Ende zu suchen und seinen eigenen Weg zu finden loszulassen, hatte er gleichzeitig dafür gesorgt, dass Cheri eine Wegbeschreibung zu ihren Wurzeln erhielt.“ (S. 477)
4* für eine nie oberflächliche Familiengeschichte mit viel Herz und Verstand!
Tracy Barone – Das wilde Leben der Cheri Matzner
Der vorliegende Roman wurde aus dem Englischen übersetzt und trägt den Original-Titel „Happy Family“. Dazu passend stellt die Autorin den berühmten ersten Satz des Klassikers „Anna Karenina“ von Tolstoi voran: „Alle glücklichen Familien ähneln einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich“.
Es ist mir nach der Lektüre des Romans ein komplettes Rätsel, wie man daraus „Das wilde Leben der Cheri Matzner“ machen kann. Dieser trivial anmutende Titel in Zusammenhang mit dem Bildnis einer eher mondänen Frau in Badekleidung auf dem Cover könnte komplett die falsche Zielgruppe für diesen vielschichtigen , lesenswerten Familienroman ansprechen, was zwangsläufig Unzufriedenheit beim Leser nach sich ziehen könnte.
Nun zum Inhalt: Der erste Teil führt in den August 1962 und ist einigermaßen losgelöst von den übrigen drei Teilen. Miriam, eine drogenabhängige junge Frau, kommt in die Trenton-Klinik, um ihre Tochter auf die Welt zu bringen, die sie schließlich im Krankenhaus zurücklassen wird. Sie wird dabei von Billy Beal beobachtet, der dort gerade Sozialdienst ableistet und auch selbst kein einfaches Leben hat. Billy sorgt dafür, dass das kleine Mädchen als Pflegekind von seiner Mutter Sylvia übernommen wird.
Parallel zu dieser Handlung freut sich das gut situierte Paar Dr. Solomon und Cici Matzner auf die Geburt seines ersten Kindes. Kurz vor dem Termin kommt es jedoch zu Komplikationen: Cici erleidet eine Fehlgeburt. Das zusätzlich Dramatische: ihr muss die Gebärmutter entfernt werden, so dass sie nie wieder wird Kinder bekommen können. Cici fällt in tiefe Depressionen.
Ihr Mann Solomon sieht als einzigen Ausweg, ein Kind zu adoptieren. Ohne Wissen seiner Frau lässt er seine Kontakte spielen und organisiert ein kleines, neu geborenes Mädchen, dem der Name Cheri gegeben wird. Hier laufen die beiden Erzählstränge zusammen. Cici nimmt das Kind von Herzen an, kann es sogar noch stillen. Von Beginn an fühlt sich der Vater ausgegrenzt, weil Cici das Baby völlig für sich vereinnahmt. Eine Tatsache, die im Verlauf der Geschichte bedeutsam sein wird.
Der zweite Teil springt ins Jahr 2002, wir lernen die erwachsene Cheri Matzner kennen, die als Professorin für Altorientalistik und Fachfrau für alte Keilschriften an der Universität Studenten unterrichtet. Sie ist mit einem deutlich älteren Mann verheiratet. Die Ehe erscheint nicht glücklich. Ebenso ist das Verhältnis zur Mutter alles andere als entspannt…
Nach und nach erfährt der Leser Details über die Herkunftsfamilien des jüdischen Solomon und der katholischen Italienerin Cici. Auch dort war nichts einfach, Konflikte schwelen über Jahrzehnte hinweg. Die Autorin arbeitet mit spannenden Rückblicken, die Brüche im Leben der Protagonisten aufzeigen.
Cheri war ein wilder Teenager, noch heute wird sie von Piercings und Tattoos geziert – doch das ist nur die Oberfläche. Sie ist eine Frau, die schon vor dem ein oder anderen zwischenmenschlichen Problem geflohen ist, anstatt es zu klären und zu lösen. Das liegt insbesondere an ihrer mangelnden Bereitschaft zur Kommunikation. Eisiges Schweigen herrscht nicht nur in der Beziehung zu ihrem Mann Michael, sondern auch zu ihrem Vater. Der Mutter geht sie lieber aus dem Weg, da diese sie mit ihrer Überliebe zu erdrücken droht. Damit einher geht bei Cheri eine bedingungslose Kompromisslosigkeit, was schon zu einem kompletten Neuanfang im Berufsleben und zum Bruch mit dem Vater führte.
Der Leser bekommt immer wieder interessante Einblicke in die Vergangenheit, die diesen komplexen Charakter Cheris aufzeigen und erklären. Das gestaltet die Familiengeschichte ungeheuer spannend. Hinzu tritt die aktuelle Problematik, dass ihre Universität eine Untersuchung durchführt, die beweisen soll, dass Cheri sich einem Studenten gegenüber diskriminierend verhalten hat. Auch in diesem Zusammenhang handelt sie unglaublich geradlinig, will sich nicht verbiegen lassen, und das, obgleich ihre Karriere damit am seidenen Faden hängt. Leider treten auch in ihrer Ehe treten tragische Veränderungen ein…
Die Geschichte liest sich leicht, der Inhalt ist es aber nicht. Es geht um Verfehlungen, Untreue, Verrat, um Abschied und Trauer. Es geht um das, was eine Familie ausmacht und was sie zusammenhält. Es geht auch um Verzeihen und Neuanfang.
Inwiefern sind ererbte DNA und Herkunft für unser Sein verantwortlich, inwiefern Umfeld, Erziehung und Sozialisation?
Der Roman verzeichnet viele Wendungen und Themen, die ihn sehr kurzweilig machen, dabei aber stetig zum Nachdenken über das Gelesene anregen. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Abgesehen vom Titel möchte ich nichts kritisieren und vergebe mit vier Sternen gerne eine Lese-Empfehlung - insbesondere an jene, die komplexe Familiengeschichten lieben.
Ein Leben lang auf der Suche
Ein Leben lang auf der Suche
Das wilde Leben der Cheri Matzner von Tracy Barone
Als der Radiologe Solomon Matzner und seine Frau Cici ihr ersehntes Kind verlieren, rutscht Cici in eine tiefe Depression. Sol, dessen Ehe mit der Italienerin in seinen Augen nahezu perfekt war, will alles versuchen ihr wieder einen Sinn zu geben. Doch wie soll dies nur gelingen, wenn nicht mit einem anderen Kind, welches sie, die nun keine Kinder mehr bekommen kann, über den Verlust hinwegtrösten kann. Sol ist so verzweifelt, dass er genau dies tut. Er macht sehr viel Geld locker und das Schicksal spielt ihm in die Hände, denn ein kleines Mädchen wurde von seiner süchtigen Mutter, ohne korrekter Angabe des Vaters, in einem Krankenhaus zurückgelassen und kann bei der Pflegefamilie nicht länger bleiben.
So kam die kleine Cheri in das Leben von Cici und Sol. Cici wurde eine überfürsorgliche Mutter und hatte für Sol kein großes Interesse mehr. Cheri merkt schon früh, dass ihre Eltern sich nicht einig sind, und rebelliert dementsprechend. Die große Frage, wem sie ähnelt und nach wem sie schlägt, spielt eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Auch als junge Erwachsene ist sie sehr rebellisch und setzt ihren Kopf durch.
Im weiteren Verlauf erlebt der Leser wie Cheri mit ihrer Ehe und mit ihrem Beruf umgeht, und wie sie irgendwann anfängt sich mit allem auseinanderzusetzen.
Tracy Barone hat einen einnehmenden Erzählstil, der mir die Gefühle und das Leben der Protagonistin Cheri sehr gut näher bringen konnte. Sie hat ein Gespür dafür, nicht zu dick aufzutragen, aber dennoch alles auf den Punkt zu bringen. Ein Roman, der nicht nur wilde Seiten eines Menschen aufzeigt. Vorausgesetzt man kann überhaupt davon sprechen, dass Cheri wild war. Vielleicht hat ihr in ihrem Leben einfach zu lange etwas gefehlt!? Wer den Roman liest, wird am Ende genau wissen, wovon ich spreche. Es lohnt sich!