Wir holen alles nach
München. Frühmorgens im Sommer.
Wir treffen die 68-jährige Rentnerin Ellen mit ihrem Hund auf ihrer Tour an. Sie trägt Zeitungen aus, um ihre Rente aufzubessern.
Aus dem gleichen Grund gibt sie auch Nachhilfe. Der achtjährige Elvis, der bei seiner Mutter Sina und deren kürzlich eingezogenem Partner Thorsten lebt, ist einer ihrer Schüler.
Als Sina, die viel arbeiten muss und ständig auf der Suche nach Betreuungsmöglichkeiten für ihren Sohn ist, Ellen bittet, den Jungen in den Ferien zwei Wochen zu betreuen, sagt die Rentnerin nicht zuletzt wegen des verlockenden Verdienstes zu.
Am Montag der zweiten Woche kommt Elvis nach einem Zeltausflug mit Thorsten, seinem „Stiefvater“, wieder zu Ellen. Er ist völlig verändert.
Er ist wortkarg, desinteressiert, müde und hat Bauchweh.
Und dann macht Ellen eine Entdeckung. Sie erzählt es Sina…
Der 304-seitige Roman ist unterhaltsam, kurzweilig und stellenweise berührend.
Er liest sich flüssig und obwohl ich recht bald ahnte, in welche Richtung es ging, ließ mein Interesse nicht nach. Dass ich dann von einer etwas anderen Auflösung als erwartet überrascht wurde, freute mich.
Martina Borger spricht m. E. eine recht breite weibliche Zielgruppe an, indem sie die Lebenslagen von zwei Frauen aus verschiedenen Generationen gut beleuchtet. Sie geht sowohl auf die (fast) alleinerziehende Sina als auch auf die Rentnerin Ellen recht ausführlich ein.
Dabei malt sie allerdings ein ziemlich düsteres und pessimistisches Bild. Das Leben diese beiden in der Großstadt lebenden Frauen scheint überwiegend aus Sorgen und Katastrophen zu bestehen. Schwere und Ernst überwiegen.
Das Schöne tritt eher in den Hintergrund, auch wenn es letztlich ein versöhnliches Ende mit einer Freundschaft zwischen jung und alt gibt.
Die Autorin bringt in ihrem Buch zahlreiche aktuelle, bedeutsame und komplexe Themen unter.
Für meinen Geschmack waren es zu viele.
Sie geht auf die Sorgen und Nöte alleinerziehender Mütter, Patchworkfamilien, Altersarmut, Umwelt- und Klimaschutz, Achtsamkeit und Zivilcourage, Alkoholismus, Zivilcourage, Misshandlung, Mobbing, Verlust und Trennung ein.
Klingt nach viel? Ist es auch!
Martina Borger streift all diese Themen, bleibt dann jedoch sehr an der Oberfläche und versäumt es, auf Konsequenzen und komplexe Folgen einzugehen bzw. diese mehr als nur anzudeuten.
Diese Tatsache könnte zu der Bewertung führen, dass es sich hier um ein Buch handelt, das einerseits schwergewichtig sein möchte, andererseits aber nicht genügend tiefgründig ist.
Aber vielleicht wollte die Autorin gar kein schwergewichtiges, tiefgründiges und allzu ernsthaftes Buch schreiben.
Vielleicht hatte sie eine andere Intention.
Vielleicht wollte sie mit ihrem Roman einfach nur gut unterhalten sowie gleichzeitig einen Anstoß zum Nachdenken und Diskutieren geben.
Und das ist ihr auf jeden Fall gelungen.
Job und Kind unter einem Hut – die alleinerziehende Sina jongliert damit seit Jahren. Seit kurzem wird sie von ihrem neuen Partner Torsten dabei unterstützt. Und sie haben Ellen, Ende sechzig, die sich für Nachhaltigkeit einsetzt und das hat, was sich Sinas Sohn Elvis so wünscht: Zeit, Geduld – und einen Hund. Doch dann widerfährt dem sensiblen Jungen etwas Schlimmes. Da er sein Geheimnis nicht preisgibt, spinnt sich ein fatales Netz aus Gerüchten um die kleine Patchworkfamilie.
Bewusst setze ich hier den Klappentext voran, der vom Inhalt genug verrät - ja, fast schon zu viel. Denn er deutet in eine Richtung, die mich auf der Hut sein ließ beim Lesen, um eben nicht in die Falle von Gerüchten und Vorurteilen zu tappen, die hier angedeutet wird. Ob das gelungen ist?
Der erste Leseabschnitt dient vor allem als ausgedehnte Einführung. Die Charaktere in ihren jeweiligen Lebensumfeldern schälen sich allmählich heraus, wobei vor allem die beiden Frauen im Zentrum des Geschehens stehen. Die Autorin bringt die jeweilige Lebenssituation durch einen steten Perspektivwechsel zwischen der alleinerziehenden Mutter Sina und der Rentnerin Ellen zum Ausdruck.
Der achtjährige Elvis erhält dabei keine eigene Perspektive, sondern wird aus der Außensicht von seiner Mutter bzw. von Ellen geschildert, die ihm Nachhilfe erteilt und einen Teil seiner Ferienbetreuung übernimmt. Der Leser erfährt von Elvis allein aus den Beobachtungen und Gedanken der beiden Frauen über ihn. Das beinhaltet natürlich auch eine Interpretationsebene, die im Verlauf noch eine gewichtige Rolle spielt.
Um den Charakteren Tiefe zu verleihen, lässt die Autorin bewusst eine große Anzahl an Themen einfließen, die den Personen ein Profil verleihlt. So lebt die alleinerziehende Mutter Sina mit Anfang 30 in einer Wohnung in München, die sie sich aufgrund der Staffelmiete kaum noch leisten kann. Ohne großes soziales Netz hat sie Mühe, den Spagat zwischen aufreibendem Beruf ohne feste Arbeitszeiten und dem, was sie in ihrer Rolle als Mutter auch an eigenen Ansprüchen hat, zu schaffen. Geldsorgen, Unzufriedenheit im Beruf, dazu ein neuer Lebenspartner, der als arbeitsloser trockener Alkoholiker, geschieden und Vater zweier eigener Söhne, auch sein eigenes Päckchen zu tragen hat - da kommt einiges zusammen. Sina hangelt sich oft von Tag zu Tag und bemüht sich, für Elvis stets eine geeignete Betreuungsmöglichkeit zu finden. Nicht immer kann sie dabei Rücksicht darauf nehmen, was ihr Sohn gerne möchte.
Ellen ist mit ihren 68 Jahren noch recht rüstig. Auch ihr sind Geldsorgen nicht unbekannt, und so verdient sie sich zu ihrer bescheidenen Rente durch das Austragen von Zeitungen und durch Nachhilfeunterricht noch ein Zubrot dazu. Auch Elvis lernt sie kennen, als er als Nachhilfeschüler zu ihr kommt. Um die Empfehlung zum Gymnasium zu schaffen, müssen sich die Noten bessern. Die Rückblenden bezeugen, dass Ellen ein reiches Leben geführt hat, erfüllt von Liebe zu ihrem früh verstorbenen Mann und ihren beiden Söhnen, die beide weit weg wohnen. Ein gewisses Maß an Einsamkeit hat sich längst als ständiger Begleiter eingestellt, auch wenn Freunde und vor allem ihr treuer Hund diese immer wieder aufweichen. Aber Gedanken, was sie in ihrem Alter überhaupt noch vom Leben zu erwarten hat, kommen Ellen immer wieder.
Elvis ist ein ruhiger, oft introvertiert wirkender Junge, der bei Ellen allmählich aufzutauen beginnt, was auch an ihrem Hund liegt. Immer wieder wird deutlich, dass Elvis versucht, auf seine überlastete Mutter Rücksicht zu nehmen und Entscheidungen zu akzeptieren, die ihm teilweise nicht sonderlich gefallen. Sein leiblicher Vater, ein erfolgreicher Anwalt, hält Vereinbarungen oft nicht ein und lässt Elvis stattdessen Geld oder Geschenke zukommen, die das wieder gut machen sollen. Zum neuen Lebenspartner seiner Mutter bekommt der Junge nur langsam Kontakt. Seine Nachhilfelehrerin Ellen lässt Elvis an ihrer Lebenserfahrung und ihren Einstellungen teilhaben. So entwickelt der Junge allmählich ein Umweltbewusstsein sowie ein Gespür für Nachhaltigkeit, was seine Mutter z.T. nervt, weil Elvis sie beispielsweise auffordert, beim Einkaufen eine Stofftasche statt einer Plastiktüte zu verwenden.
Ich schildere die drei Charaktere hier so detailliert, weil genau das auch im Roman geschieht. Zwar habe ich verstanden, dass all diese Details dazu beitragen, das Profil der Personen herauszuarbeiten, doch gab es hier für meinen Geschmack doch zu viele Themen. Dadurch gerät die Erzälung in die Gefahr des Sichverzettelns, weil dabei nicht allen Themen das Gewicht zugestanden werden kann, das diese verdient hätten. Letztlich kann dabei gar eine Botschaft vermittelt werden, die so vermutlich nicht angedacht war. Näher ausführen kann ich das nicht ohne zu spoilern, aber das war ein Faktor, der für mich nicht stimmig war und mich störte.
Das Hauptthema: der Umgang mit vorschnellen Urteilen und Meinungsbildungen ist in jedem Fall ein wichtiges. Die Autorin hält dabei auch dem Leser den Spiegel vor - tatsächlich fragte ich mich während der Lektüre immer wieder, was ich wohl gedacht, wie ich wohl gehandelt hätte. Diesen Denkanstoß fand ich sehr positiv. Auch der Schreibstil hat mir gefallen: leise und unaufgeregt, dabei süffig und bildhaft. Viele Szenen waren von Dialogen geprägt, was der an sich oft handlungsarmen Situation eine angenehme Lebendigkeit gab.
Insgesamt ein gut zu lesender Roman, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig zu überfrachtet mit den diversen Themen, die dadurch trotz teilweise immenser Bedeutung für einzelne Charaktere schnell achtlos fallen gelassen wurden. Zusammen mit dem etwas konstruiert wirkenden Ende sorgte dieser Kritikpunkt für einen Abzug in der Wertung. Insgesamt bin ich aber neugierig geworden auf weitere Romane der Autorin...
© Parden
München. Frühmorgens im Sommer.
Wir treffen die 68-jährige Rentnerin Ellen mit ihrem Hund auf ihrer Tour an. Sie trägt Zeitungen aus, um ihre Rente aufzubessern.
Aus dem gleichen Grund gibt sie auch Nachhilfe. Der achtjährige Elvis, der bei seiner Mutter Sina und deren kürzlich eingezogenem Partner Thorsten lebt, ist einer ihrer Schüler.
Als Sina, die viel arbeiten muss und ständig auf der Suche nach Betreuungsmöglichkeiten für ihren Sohn ist, Ellen bittet, den Jungen in den Ferien zwei Wochen zu betreuen, sagt die Rentnerin nicht zuletzt wegen des verlockenden Verdienstes zu.
Am Montag der zweiten Woche kommt Elvis nach einem Zeltausflug mit Thorsten, seinem „Stiefvater“, wieder zu Ellen. Er ist völlig verändert.
Er ist wortkarg, desinteressiert, müde und hat Bauchweh.
Und dann macht Ellen eine Entdeckung. Sie erzählt es Sina…
Der 304-seitige Roman ist unterhaltsam, kurzweilig und stellenweise berührend.
Er liest sich flüssig und obwohl ich recht bald ahnte, in welche Richtung es ging, ließ mein Interesse nicht nach. Dass ich dann von einer etwas anderen Auflösung als erwartet überrascht wurde, freute mich.
Martina Borger spricht m. E. eine recht breite weibliche Zielgruppe an, indem sie die Lebenslagen von zwei Frauen aus verschiedenen Generationen gut beleuchtet. Sie geht sowohl auf die (fast) alleinerziehende Sina als auch auf die Rentnerin Ellen recht ausführlich ein.
Dabei malt sie allerdings ein ziemlich düsteres und pessimistisches Bild. Das Leben diese beiden in der Großstadt lebenden Frauen scheint überwiegend aus Sorgen und Katastrophen zu bestehen. Schwere und Ernst überwiegen.
Das Schöne tritt eher in den Hintergrund, auch wenn es letztlich ein versöhnliches Ende mit einer Freundschaft zwischen jung und alt gibt.
Die Autorin bringt in ihrem Buch zahlreiche aktuelle, bedeutsame und komplexe Themen unter.
Für meinen Geschmack waren es zu viele.
Sie geht auf die Sorgen und Nöte alleinerziehender Mütter, Patchworkfamilien, Altersarmut, Umwelt- und Klimaschutz, Achtsamkeit und Zivilcourage, Alkoholismus, Zivilcourage, Misshandlung, Mobbing, Verlust und Trennung ein.
Klingt nach viel? Ist es auch!
Martina Borger streift all diese Themen, bleibt dann jedoch sehr an der Oberfläche und versäumt es, auf Konsequenzen und komplexe Folgen einzugehen bzw. diese mehr als nur anzudeuten.
Diese Tatsache könnte zu der Bewertung führen, dass es sich hier um ein Buch handelt, das einerseits schwergewichtig sein möchte, andererseits aber nicht genügend tiefgründig ist.
Aber vielleicht wollte die Autorin gar kein schwergewichtiges, tiefgründiges und allzu ernsthaftes Buch schreiben.
Vielleicht hatte sie eine andere Intention.
Vielleicht wollte sie mit ihrem Roman einfach nur gut unterhalten sowie gleichzeitig einen Anstoß zum Nachdenken und Diskutieren geben.
Und das ist ihr auf jeden Fall gelungen.
Ellen ist eine lebensfrohe Rentnerin Anfang 60. Sie ist verwitwet, ihr Mann Jock war selbstständig. Ellen hat lange in seinem Betrieb mitgearbeitet, ohne Rentenbeiträge zu entrichten. Dadurch reicht heute ihre eigene Rente nicht aus, so dass sie regelmäßig die Zeitungen austrägt und verschiedene Nachhilfeschüler unterrichtet. Über diesen Weg lernt sie Sina und ihren 8-jährigen Sohn Elvis kennen. Sina ist alleinerziehend. Sie lebt erst seit einigen Monaten mit ihrem neuen Partner Torsten zusammen. Auch er hat zwei Söhne, die bei deren Mutter leben. Sina arbeitet Vollzeit, muss auch oft Überstunden leisten oder am Wochenende ins Büro gehen, so dass sie froh ist, wenn Torsten sie unterstützen und Elvis betreuen kann. Als der leibliche Vater während der Ferien entgegen der getroffenen Absprachen ausfällt, ist Sina in Not. Zum Glück übernimmt Ellen die tägliche Betreuung des Jungen für die zwei Wochen. Dabei machen die beiden wunderbare Unternehmungen, bei denen sie sich näher kommen und eine Freundschaft entsteht. Eine große Rolle spielt dabei auch Ellens (namenloser) Hund, den Elvis in sein Herz schließt.
Das Buch wird meistens aus zwei Perspektiven erzählt: Der Ellens und der Sinas. Dadurch gelingt es anschaulich, die Konfliktfelder aufzuzeigen, denen moderne Familien ausgesetzt sind. Die junge Frau fühlt sich zerrieben zwischen dem schlechten Gewissen ihrem Sohn gegenüber, der fordernden Berufstätigkeit, ihrem Ex-Partner sowie einem zweifelhaften Freundeskreis. Wenn irgendetwas Ungeplantes passiert, ist sie auf fremde Unterstützung angewiesen. Ihr kleiner Sohn scheint das zu spüren. Er liebt seine Mutter, versucht sich ihren Wünschen anzupassen und unterzuordnen. Deshalb möchte er auch so gern die Empfehlung fürs Gymnasium bekommen, die letztlich der Grund für seine Nachhilfe ist. Elvis wirkt dabei fast zu reif für sein Alter.
Ellens Söhne sind längst erwachsen. Sie leben jedoch weit entfernt. Neben ihren Jobs hat Ellen einen netten Freundeskreis, mit denen sie gerne etwas unternimmt, Geld ist für sie zum Ausgeben da. Dadurch ergeben sich auch finanzielle Engpässe, weil das Leben in der Großstadt nicht preiswert ist. Als ehemalige Buchhändlerin liest sie gern und versucht diese Liebe auch dem kleinen Elvis zu vermitteln. Sie ist überzeugte Öko-Aktivistin, ernährt sich vegetarisch und lebt möglichst umweltkonform.
Durch die verschiedenen Perspektiven lernen wir die Protagonisten sehr gut kennen. Man nimmt auch an ihren Erinnerungen und Reflexionen teil, wodurch man ein gutes Gefühl für ihre aktuellen Verhaltensweisen und Entscheidungen bekommt.
An einem langen Wochenende gehen Torsten und Elvis eine Nacht zum Zelten, sie machen eine kleine „Männertour“. Am Sonntag darauf besucht Elvis seinen Freund Lukas und dessen Familie. Als Elvis am Montag wieder zu Ellen kommt, ist er krank. Was zunächst wie eine Magenverstimmung aussieht, entwickelt sich zusehends zu einer deutlichen Veränderung in Elvis´ Wesen. Woran liegt das, was ist passiert? Stammen die blauen Flecken am Körper des Jungen tatsächlich von einem Sturz, wie er behauptet?
In der Folge nimmt man als Leser*in daran teil, wie ein Geschehen seinen Lauf nehmen kann, ohne dass die beteiligten Personen etwas dazu tun. Es wird leider wenig miteinander gesprochen, stattdessen aber übereinander. Leider ziehen die Menschen, denen etwas an dem Kind liegt, nicht an einem Strang. Es wächst eher die Skepsis, die Eifersucht dem anderen gegenüber. Dadurch kommt eine Maschinerie in Gang, die ganz schnell Leben kolossal verändern kann.
Martina Borger ist ein sehr zeitgenössischer Generationenroman gelungen. Sie lässt zahlreiche brandaktuelle Themen mit einfließen, sie zeigt Probleme moderner Patchwork-Familien sowie der Rentnergeneration mit kleinem Einkommen auf. Sehr sensibel schildert Borger mit Ellen eine Frau, die sich Anfang 60 auch mit der Endlichkeit ihres Lebens in vielerlei Beziehungen auseinander setzen muss. Die Autorin vermittelt Liebe zu Tieren, thematisiert aber auch die Verantwortung, die mit einem eigenen Haustier einher geht.
Man sieht, dass der Roman viel mehr bietet, als das auf dem Klappentext Abgedruckte. Er gibt Raum zum Nachdenken, lässt auch Reflexion über das eigene Verhalten zu. Eine wichtige Lehre aus dem Buch ist ebenso einfach wie wichtig: Man darf nicht schweigen, man muss miteinander sprechen, sich um den anderen kümmern – über Generationen hinweg.
Der Roman ist in einem gefälligen Sprachstil verfasst, viele Dialoge lockern das Erzählte auf und lassen Einblicke in die verschiedenen Figuren zu. Für mich persönlich hätte manches ein bisschen weniger offensichtlich sein dürfen, ein bisschen weniger plakativ. Aber das ist Geschmackssache. Ich bin sicher, dass dieser Roman breite Leserschichten ansprechen wird und möchte ihn empfehlen.
3,5/5 Sterne
Das Leben eben
Eine große Vielzahl von Themen hat Martina Borger in ihren neuen Roman "Wir holen alles nach" gepackt: Altersarmut, Scheidung, Patchworkfamilien, Betreuungsnotstand, Mobbing und Misshandlung, Wohnungsmarkt, moderne Arbeitswelt und Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Ökologie und Nachhaltigkeit sowie Vorurteile und Zivilcourage, um nur die wichtigsten zu nennen.
Jede Menge Probleme
Ellen Wildner, Münchnerin Ende 60 und seit 25 Jahren verwitwet, muss sich zu ihrer kleinen Rente etwas dazuverdienen, will sie im Ruhestand nicht auf alle Annehmlichkeiten verzichten oder den Söhnen auf der Tasche liegen. Trotzdem ist sie meist guter Dinge und weitgehend zufrieden mit ihrem Leben. Neben dem frühmorgendlichen Zeitungsaustragen erteilt sie Nachhilfestunden. Einer ihrer Schüler ist der achtjährige Elvis, ein sensibles, ungewöhnlich stilles und freundliches Kind, das ihr schnell ans Herz wächst. Deshalb und wegen des angebotenen Lohns willigt sie ein, als sich für Elvis‘ alleinerziehende, voll berufstätige Mutter Sina Poschmann in den Sommerferien kurzfristig ein zweiwöchiges Betreuungsloch auftut und sie Ellen um Hilfe bittet. Schon in der ersten Woche taut Elvis sichtlich auf, nicht zuletzt dank Ellens Borderterrier-Mischling. Endlich kann jemand auf ihn und seine Bedürfnisse eingehen und hat Zeit:
"Er ist noch so jung, und dennoch ist sein Leben schon eine Abfolge von Trennungen, gebrochenen Versprechen, Zurückweisungen, er ist im Weg, muss untergebracht, wegorganisiert werden, er ist das wehrlose Unterpfand einer offensichtlich unschönen Trennung. Dennoch ist er rührend treu und loyal seinen Eltern gegenüber." (S. 98)
Doch als Elvis nach dem Wochenende, das er mit Sinas neuem Lebenspartner und bei einem Freund verbracht hat, wieder zu Ellen zurückkommt, ist er verändert, blass und krank. Außerdem bemerkt Ellen zu ihrem Entsetzen Verletzungen an ungewöhnlichen Stellen, über die er ihr keine Auskunft geben möchte. Sina, von Ellen darauf angesprochen, reagiert abweisend, und so muss Ellen selbst entscheiden, wie sie mit ihrer Beobachtung umgeht. Keine leichte Aufgabe, denn, wie ihr Sohn Vitus gerne sagt, gilt leider nur allzu oft: „Gut gemeint ist das Gegenteil von gut“.
Zwei Frauen – ein Ziel
Martina Borger legt den Fokus abwechselnd auf die ganz unterschiedlichen Lebenssituationen der beiden Frauen, wobei Ellen etwas häufiger im Mittelpunkt steht. Beide haben größtes Interesse an Elvis‘ Wohlergehen, lassen sich jedoch leider von gegenseitigem Misstrauen und Eifersucht leiten, anstatt am gleichen Strang zu ziehen. Erst als sie ihre Vorbehalte beiseite schieben, kommen sie endlich zum Wohle aller ins Gespräch.
Gute Unterhaltung
Auch wenn mir das ein oder andere Thema zu viel für einen knapp 300-Seiten-Roman war, es manches Klischees nicht bedurft hätte und mir Ellens plakative Vorträge zur Ökologie, zum Fleischkonsum und zur Nachhaltigkeit – obwohl auch mir diese Themen wichtig sind – etwas auf die Nerven gingen, hat mich das Buch mit seinem Ausgang doch überrascht und ich habe mich gefragt, wie ich mich verhalten hätte. Gute Unterhaltung also, verfasst in angenehm ruhigem Erzählton und in einem leicht lesbaren Stil, nicht mehr, aber auch nicht weniger.