Vaterländer
Auf dem Bahnhof in Köln wartet Béla auf seine Frau und seine Kinder. Zwei Jahre ist es her, das der Geiger von einer Konzertreise nicht nach Rumänien zurückgekehrt ist. Das war 1985. Seine Frau fühlt sich zunächst nicht wohl in dem fremden Land, sie musste Eltern und Freunde zurücklassen. Sie ist Musikerin wie ihr Mann. Auch die beiden Kinder, die ältere Alina und Sabin erhalten eine musikalische Bildung. Bèla hat in Deutschland eine Anstellung in einem Orchester, in dem er seine Frau auch gerne unterbringen möchte. Ihr wird jedoch von den Kollegen mit Ressentiments begegnet. Ein ethnischer Konflikt, der aus der Heimat herübergeschwappt ist.
Nicht nur von seinen eigenen Beobachtungen und Empfindungen erzählt der Autor Sabin Tambrea. Auch sein Großvater und sein Vater kommen zu Wort. Jede Erzählung für sich beleuchtet eine andere Ara. Der Großvater ist geprägt von seinen Erlebnissen kurz nach dem zweiten Weltkrieg als sich das Regime bildete auf Kosten des Volkes. Zu Bélas Zeit in den 1970ern war es nicht besser. Das Regime wirkte in die Familien hinein, presste ihnen beinahe eine unmögliche Arbeitsleistung ab, rationierte lebensnotwendige Leistungen. Die Staatspolizei hatte überall Zugriff. Das Alles zum Wohle des Regenten oder Diktators Ceauceșcu.
In einem Interview erzählte der eigentlich als Schauspieler bekannte Sabin Tambrea von seinem ersten schriftstellerischen Werk. Das klang so interessant, dass die Gelegenheit, das vom Autor selbst gelesene Hörbuch zu genießen, sofort ergriffen wurde. Mit feiner sanfter Stimme erzählt er von Ereignissen, die insbesondere dem Großvater widerfahren sind, welche alles andere als sanft zu nennen sind. Da geht es um Repressalien, gar Folter und keine Möglichkeit zur Flucht. Doch die Zeiten wandeln sich und Béla der Sohn findet den Mut, nach einer Konzertreise einfach in Deutschland zu bleiben. Doch auch die im Rahmen der Familienzusammenführung nachkommenden Frau und die zwei gemeinsamen Kinder, müssen feststellen, dass in Deutschland auch nicht alles einfach ist, auch wenn die Möglichkeiten größer sind und diese besonders den Kindern offensten. Es schaudert einen, wenn man hört, wie da Staaten mit den Mitgliedern ihre Volkes umgehen. Denkt man an die eigenen Vorfahren und dem Glück, dass diese eher zufällig (es waren schon welche da) in Westdeutschland gelandet sind. Man fragt sich nach der Lektüre, wie jemand auf die Idee kommen kann, ein totalitäres System sei zu bevorzugen. Da ist selbst die schlechte Politik derzeit noch besser als das, was zu erwarten wäre. Und doch geht es auch um eine tolle Familie, die durch ihren Zusammenhalt besticht und ihre wunderbare Musikalität. Ein lesens- und hörenswertes Buch.
4,5 Sterne
„Ein Mosaik aus seinen Farben ergoss sich durch das Zimmer, als wir die Kleidung ausräumten, schließlich der Kalender mit der Gravur 1990 aus der oberen Ablage herunterfiel, jeden Tag des Jahres bis zur letzten Seite mit der Zeichnung seiner Handschrift ausgefüllt, überschrieben mit den Worten: Memoiren, Horea Sava.“ (Zitat Seite 163)
Inhalt
In der Schule sitzt Béla Tambrea neben Rodica, beide sind ehrgeizig, abwechselnd Klassenbeste und beide wollen Violinisten werden. Später, als Ehepaar, kommen sie auf einer gemeinsamen Orchesterreise 1984 in die westdeutsche Stadt Marl. Erstmals spricht Béla es aus, dass er zuhause in Târgu Mureș in Rumänien keine Zukunft sieht und ein Jahr später trifft er während einer Konzerttournee in Frankreich im Juli 1985 eine Entscheidung. Es folgen schwierige Jahre der Trennung, bis am 19. März 1987 Rodica mit dem dreijährigen Sabin „Nuku“ und seiner acht Jahre alten Schwester Ai nach einer Reise über Ungarn und Wien in Köln eintrifft, wo Béla sie abholt und das neue Leben der Familie in Marl, Deutschland, beginnt.
Thema und Genre
Vaterländer ist ein autobiografischer Generationen- und Familienroman, gleichzeitig jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik in Rumänien, eine Schilderung des Alltagslebens der Menschen unter dem Druck und der Willkür der Securitate unter Gheorghiu-Dej, und anschließend im Ceauceșcu-Regime. Ein Thema sind Flucht und die Probleme eines Neubeginns in einem fremden Land, der teilweise Verlust der Heimat und das Leben in einem neuen Kulturraum, wo jedoch die Musik alle Grenzen überwindet. Es ist eine Geschichte über Familie, Mut, Zusammenhalt, Verzweiflung, Hoffnung und die Kraft der Liebe.
Erzählform und Sprache
Sabin Tambrea teilt seinen Roman in drei Abschnitte, im ersten Teil schildert der junge Sabin als Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend ab seiner Ankunft in Deutschland, den zweiten Teil bilden die persönlichen Aufzeichnungen seines Großvaters Horea Sava über die Jahre seiner Inhaftierung durch die Securitate. Der letzte Teil ergänzt den ersten Teil, nun erzählt Sabins Vater Béla die Geschichte der Familie aus seiner Sicht. Alle drei Teile verlaufen in sich chronologisch, um sich am Ende zu treffen und den Kreis zu schließen. Sabin Tambrea schreibt einfühlsam, poetisch, aber gleichzeitig lebhaft, packend und präzise.
Fazit
Ein beeindruckender, authentischer Generationenroman, spannend, interessant zu lesen und auch sprachlich überzeugend.
Rumänien - nicht nur für politisch Interessierte lesenswert
In drei Teilen geht es um mehr als nur um die rumänisch-ungarische Familiengeschichte dreier Generationen von Vätern. Auch das Alltagsleben in Rumänien während des Ceauceșcu-Regimes mit all ihren Entbehrungen wird besonders im zweiten Teil beschrieben, wo der Großvater Horea Sava als junger Mann ab 1949 in die politischen Intrigen dieses gnadenlosen Systems unverschuldet gerät. Die Lebensgeschichte von Sabins Vater Bela Tambrea erfährt mit seiner Entscheidung im Jahre 1985 eine wichtige Wende: Während einer Konzertreise in Frankreich flieht er mit einem Freund nach Deutschland, holt nach zwei Jahren voller Einsamkeit und Entbehrungen im Rahmen der Familienzusammenführung Ehefrau und Kinder nach. Ab vier Jahren bis zu seinem Stimmbruch erzählt der Autor Sabin Tambrea, 1984 in Rumänien geboren, über sein Familienleben in Marl. Sowohl der politische Wandel in Rumänien während dieser Zeit wird detailliert beschrieben, als auch die Sehnsucht nach Freiheit, nach Selbstbestimmung wird herausgestellt. Der Familienzusammenhalt insgesamt über einen langen Zeitraum und über einige Ländergrenzen hinweg ist beeindruckend. Die Schilderung der romantischen Liebesgeschichte von Sabins Eltern bringt positive, menschliche Momente in diese Beschreibung des doch politisch harschen Systems Rumäniens ohne Hoffnung auf Liberalisierung. Die frühe Vergangenheit Rumäniens wird auch angerissen. Das angehängte Familienverzeichnis ist besonders im ersten Teil hilfreich. Mit großer Willensstärke, mit Disziplin und langem Durchhaltevermögen – so werden die Hauptpersonen porträtiert. Der Schreibstil gefällt.
Musik kennt keine Grenzen
Der Vater Bela Tambrea, selbst Ungar, verlässt schweren Herzens seine rumänische Heimat um in Deutschland ein freies, friedlicheres Leben starten zu können. Doch der Preis ist hoch. Zunächst muss er dafür seine Frau, seine beiden kleinen Kinder und seine restliche Verwandtschaft zurück lassen. Zwei Jahre später können ihm dann endlich Rodica, seine Frau und seine Kinder, Sabin und Alina nachfolgen. Doch der Anfang ist schwer. Erst nach und nach kann seine Frau, ebenfalls Musikerin in dem neuen Land beruflich „Fuß fassen“. Auch die Kinder brauchen ihre Zeit. Aber gemeinsam als Familie schaffen sie es im neuen Land „anzukommen“.
Der Autor und Schauspieler Sabin Tambrea schreibt hier über seine eigene Familie, über einen eigenen Teil seiner Lebensgeschichte. Dies tut er so anschaulich wie nachtrüglich, dass man meinen könnte, man hätte alle im Buch erwähnen Personen persönlich kennengelernt und war live bei Familienfeiern, Konzerten, Prüfungen oder Spaziergängen dabei.
Man erfährt allerdings nicht nur etwas über Rumäniens politische Verhältnisse oder etwas über die Gepflogenheiten der damaligen Zeiten im Land, sondern auch etwas über die Einstellungen der Menschen aus dieser Region, diesem Land. So wusste ich z.B. nicht, dass manche rumänische Menschen Vorbehalte gegen ungarische Landsleute haben. Solche haltlosen Vorurteile gibt es einfach überall auf der ganzen Welt zwischen allen möglichen Gruppen. Furchtbar!
Darüber hinaus erhält man ein bisschen Hintergrundwissen um das Leben und Arbeiten am Theater bzw. in der Philharmonie. Das waren für mich die schönsten Passagen.
Sabin Tambrea lässt uns in seiner Geschichte aber auch noch an den Tagebuchaufzeichnungen seines Großvaters teilhaben. Dieser schildert hier nämlich seine Erlebnisse mit der Staatspolizei in einem Regime, das willkürlich und menschenverachtend handelte. Diese Schilderungen sind bedrückend und gingen mir sehr nahe!
Das gleichnamige Hörbuch wurde von Sabin Tambrea selbst eingelesen. Tzja, was soll ich schreiben? Ich habe mich in die Stimme verliebt. Der Autor liest sehr gefühlvoll, seine Stimme ist sehr einnehmend. Ganz ehrlich? Von mir aus hätte er auch ein Telefonbuch vorlesen können und ich hätte es ganz wundervoll gefunden. Ich nehme an, dass hier natürlich seine eigenen Erfahrungen sowie seine schauspielerische Ausbildung ihren Teil dazu beigetragen haben.
Fazit:
Eine sehr bewegende Geschichte, die man GEHÖRT haben sollte! Absolut empfehlenswert!