Ismail ist mit seinen 60 Jahren eine Koryphäe als Gehirnchirurg im marokkanischen Rabat und seit über 30 Jahren mit seiner Frau Medee verheiratet. Die beiden haben drei erwachsene Kinder und bereits Enkel. Die Familie hat kulturell eine große Bedeutung, man steht in wechselseitigem Kontakt mit allen Generationen. Medee ist das Herzstück der Großfamilie. Jahrzehntelang kümmerte sie sich liebevoll um das Wohlergehen ihres beruflich stark belasteten Mannes und stellte ihre eigenen Bestrebungen als Künstlerin hintenan.
Plötzlich bricht Ismail aus dieser Ehe aus, als er sich in die 25 Jahre jüngere, sehr ambitionierte Ärztin Meriem verliebt. Beide trifft die Leidenschaft wie ein Blitz. Ismail erträgt es nicht lange, ein doppeltes Spiel zu spielen, wie es in seinem patriarchisch geprägten Umfeld keine Ausnahme ist. Als Verfechter der Wahrheit bricht er mit seiner Ehefrau und hofft auf eine gemeinsame Zukunft mit der Geliebten. Doch so einfach ist das nicht…
Erzählt wird ausschließlich aus der Perspektive Ismails. Schon der erste Satz des Romans verfängt, man ist sofort im Thema und kann spüren, dass sich Ismails Hoffnungen auf ein erfülltes neues Liebesleben offenbar nicht erfüllen. „An dem Tag, als Ismail seine Frau Medee nach über dreißig Jahren verließ, um zu Meriem zu gehen, die ihn vor der Grenzkontrolle des internationalen Flughafens erwartete, hoffte er, den Knoten von Begehren, Verrat und Gewalt, der sie alle zu ersticken drohte, so ehrenhaft wie möglich zu zerschlagen.“ (Erster Satz)
Ismail reflektiert die Ereignisse selbstkritisch, beleuchtet verschiedene bedeutsame Ereignisse, die dem Leser (und Ismail selbst) Klarheit und Verständnis ermöglichen. Dabei werden verschiedene Zeitebenen miteinander verwoben, ohne dass je die Orientierung verloren ginge. Die Kapitel haben stimmungsvolle, poetische Überschriften, die das kommende Thema umreißen.
Ismail muss feststellen, dass er nicht nur seine Frau verloren hat, sondern auch der Zugang zu seinen Kindern, den Schwiegereltern und Geschwistern auf der Kippe steht. Die selbstverständliche Anerkennung ist aus seinem Leben gewichen. Er hat Hemmungen, seine junge Geliebte zu familiären Anlässen mitzunehmen. Indessen gelingt es Medee, sich aus dem Korsett ihrer weiblich tradierten Rolle zu befreien.
Auch die politischen Umwälzungen des islamischen Landes finden im Hintergrund Eingang. Als Ismail noch ein Junge war, wurde sein Vater vor seinen Augen verschleppt, man ging damals mit harter Hand gegen Freidenker vor. Brahim kehrte niemals zurück. Ein tragischer Bruch, der die gesamte Familie überschattet und unmittelbaren Einfluss auf den Werdegang des Sohnes hatte, der schnell Verantwortung übernehmen musste.
Dieser Roman hat mich von der ersten bis zur letzten Zeile begeistert! Ein Highlight ist die Sprache. Die Sätze sind ausdrucksstark, mitunter komplex, aber wunderbar austariert. Es steckt so viel Poesie, soviel Lebensweisheit darin. Ein großes Kompliment an dieser Stelle an die gekonnte Übersetzung von Claudia Steinitz. Man liest den Text mit großem Genuss. Ismail ist ein ambivalent angelegter Charakter. Er lässt kritisch Situationen Revue passieren, die durchaus auch ein schlechtes Bild auf ihn selbst werfen. Seine Frau Medee, die schließlich die Scheidung verlangt, diskreditiert er an keiner Stelle, sondern erkennt nüchtern, was sie über die Jahre für die Familie geleistet hat. Ebenso nimmt er die Generationenunterschiede zwischen sich und seiner Geliebten wahr. In ihrer Beziehung spielt insbesondere die körperliche Anziehungskraft eine immense Rolle. Das klingt wie ein Klischee, jedoch vermag es die Autorin, die erotische Komponente ohne dezidierte Sexszenen zu verdeutlichen: „Wie hatte eine seinem Leben bisher fremde, begabte, scharfzüngige junge Frau seinen Leib, seinen Geist, jede Falte seines Seins so einnehmen können, dass sie zur Obsession jedes Augenblicks wurde und in den Flammen eines unbändigen Verlangens die ganze Konstruktion seines Lebens zu Asche werden ließ?“ (S. 67)
Es geht in diesem Buch um viel mehr als um eine zerbrochene Ehe. Wir lesen die nüchterne, teilweise wehmütige Bilanz eines Mannes in den späten mittleren Jahren. Dabei bekommen wir tiefe Einblicke in die familiären Strukturen, in die Rollen- und Frauenbilder. Wir lernen verschiedene Mitglieder dieser Familie kennen, das vorangestellte Personenregister ist eine willkommene Hilfestellung. Das Ende des Romans ist ebenso überraschend wie brillant.
Viele Themen werden in diesem Beziehungsroman angesprochen, die uns einen Einblick in die marokkanische Lebenswirklichkeit der oberen Mittelschicht geben. Der Fokus, der Bruch einer langjährigen Ehe mit all ihren Konsequenzen, ist universell und zeitlos, der Einblick in die Psyche des Protagonisten intensiv. Beeindruckend sind auch die sinnesfreudigen Schilderungen der verschiedenen Schauplätze, die die weißen Strände, das orientalisch-künstlerische Wohnambiente, die Straßen von Rabat oder Tanger atmosphärisch transportieren und Lust auf einen Besuch des nordafrikanischen Landes machen. Das Thema mag nicht neu sein, die Aufbereitung empfinde ich als grandios.
Für mich sind sowohl die Autorin Yasmine Chami als auch der Verlag eine Entdeckung. Nicht nur inhaltlich, sondern auch äußerlich ist das liebevoll gestaltete, mit Lesebändchen ausgestattete Hardcover der Edition Converso eine Perle in jedem Bücherregal. Ich hoffe inständig, dass der Verlag den Vorgängerroman „Medee Cherie“, der die Perspektive der verlassenen Ehefrau Medee beleuchtet, möglichst schnell ins Deutsche übersetzen lässt.
Ein Ehebruch und seine Folgen grandios erzählt
Ismail ist mit seinen 60 Jahren eine Koryphäe als Gehirnchirurg im marokkanischen Rabat und seit über 30 Jahren mit seiner Frau Medee verheiratet. Die beiden haben drei erwachsene Kinder und bereits Enkel. Die Familie hat kulturell eine große Bedeutung, man steht in wechselseitigem Kontakt mit allen Generationen. Medee ist das Herzstück der Großfamilie. Jahrzehntelang kümmerte sie sich liebevoll um das Wohlergehen ihres beruflich stark belasteten Mannes und stellte ihre eigenen Bestrebungen als Künstlerin hintenan.
Plötzlich bricht Ismail aus dieser Ehe aus, als er sich in die 25 Jahre jüngere, sehr ambitionierte Ärztin Meriem verliebt. Beide trifft die Leidenschaft wie ein Blitz. Ismail erträgt es nicht lange, ein doppeltes Spiel zu spielen, wie es in seinem patriarchisch geprägten Umfeld keine Ausnahme ist. Als Verfechter der Wahrheit bricht er mit seiner Ehefrau und hofft auf eine gemeinsame Zukunft mit der Geliebten. Doch so einfach ist das nicht…
Erzählt wird ausschließlich aus der Perspektive Ismails. Schon der erste Satz des Romans verfängt, man ist sofort im Thema und kann spüren, dass sich Ismails Hoffnungen auf ein erfülltes neues Liebesleben offenbar nicht erfüllen. „An dem Tag, als Ismail seine Frau Medee nach über dreißig Jahren verließ, um zu Meriem zu gehen, die ihn vor der Grenzkontrolle des internationalen Flughafens erwartete, hoffte er, den Knoten von Begehren, Verrat und Gewalt, der sie alle zu ersticken drohte, so ehrenhaft wie möglich zu zerschlagen.“ (Erster Satz)
Ismail reflektiert die Ereignisse selbstkritisch, beleuchtet verschiedene bedeutsame Ereignisse, die dem Leser (und Ismail selbst) Klarheit und Verständnis ermöglichen. Dabei werden verschiedene Zeitebenen miteinander verwoben, ohne dass je die Orientierung verloren ginge. Die Kapitel haben stimmungsvolle, poetische Überschriften, die das kommende Thema umreißen.
Ismail muss feststellen, dass er nicht nur seine Frau verloren hat, sondern auch der Zugang zu seinen Kindern, den Schwiegereltern und Geschwistern auf der Kippe steht. Die selbstverständliche Anerkennung ist aus seinem Leben gewichen. Er hat Hemmungen, seine junge Geliebte zu familiären Anlässen mitzunehmen. Indessen gelingt es Medee, sich aus dem Korsett ihrer weiblich tradierten Rolle zu befreien.
Auch die politischen Umwälzungen des islamischen Landes finden im Hintergrund Eingang. Als Ismail noch ein Junge war, wurde sein Vater vor seinen Augen verschleppt, man ging damals mit harter Hand gegen Freidenker vor. Brahim kehrte niemals zurück. Ein tragischer Bruch, der die gesamte Familie überschattet und unmittelbaren Einfluss auf den Werdegang des Sohnes hatte, der schnell Verantwortung übernehmen musste.
Dieser Roman hat mich von der ersten bis zur letzten Zeile begeistert! Ein Highlight ist die Sprache. Die Sätze sind ausdrucksstark, mitunter komplex, aber wunderbar austariert. Es steckt so viel Poesie, soviel Lebensweisheit darin. Ein großes Kompliment an dieser Stelle an die gekonnte Übersetzung von Claudia Steinitz. Man liest den Text mit großem Genuss. Ismail ist ein ambivalent angelegter Charakter. Er lässt kritisch Situationen Revue passieren, die durchaus auch ein schlechtes Bild auf ihn selbst werfen. Seine Frau Medee, die schließlich die Scheidung verlangt, diskreditiert er an keiner Stelle, sondern erkennt nüchtern, was sie über die Jahre für die Familie geleistet hat. Ebenso nimmt er die Generationenunterschiede zwischen sich und seiner Geliebten wahr. In ihrer Beziehung spielt insbesondere die körperliche Anziehungskraft eine immense Rolle. Das klingt wie ein Klischee, jedoch vermag es die Autorin, die erotische Komponente ohne dezidierte Sexszenen zu verdeutlichen: „Wie hatte eine seinem Leben bisher fremde, begabte, scharfzüngige junge Frau seinen Leib, seinen Geist, jede Falte seines Seins so einnehmen können, dass sie zur Obsession jedes Augenblicks wurde und in den Flammen eines unbändigen Verlangens die ganze Konstruktion seines Lebens zu Asche werden ließ?“ (S. 67)
Es geht in diesem Buch um viel mehr als um eine zerbrochene Ehe. Wir lesen die nüchterne, teilweise wehmütige Bilanz eines Mannes in den späten mittleren Jahren. Dabei bekommen wir tiefe Einblicke in die familiären Strukturen, in die Rollen- und Frauenbilder. Wir lernen verschiedene Mitglieder dieser Familie kennen, das vorangestellte Personenregister ist eine willkommene Hilfestellung. Das Ende des Romans ist ebenso überraschend wie brillant.
Viele Themen werden in diesem Beziehungsroman angesprochen, die uns einen Einblick in die marokkanische Lebenswirklichkeit der oberen Mittelschicht geben. Der Fokus, der Bruch einer langjährigen Ehe mit all ihren Konsequenzen, ist universell und zeitlos, der Einblick in die Psyche des Protagonisten intensiv. Beeindruckend sind auch die sinnesfreudigen Schilderungen der verschiedenen Schauplätze, die die weißen Strände, das orientalisch-künstlerische Wohnambiente, die Straßen von Rabat oder Tanger atmosphärisch transportieren und Lust auf einen Besuch des nordafrikanischen Landes machen. Das Thema mag nicht neu sein, die Aufbereitung empfinde ich als grandios.
Für mich sind sowohl die Autorin Yasmine Chami als auch der Verlag eine Entdeckung. Nicht nur inhaltlich, sondern auch äußerlich ist das liebevoll gestaltete, mit Lesebändchen ausgestattete Hardcover der Edition Converso eine Perle in jedem Bücherregal. Ich hoffe inständig, dass der Verlag den Vorgängerroman „Medee Cherie“, der die Perspektive der verlassenen Ehefrau Medee beleuchtet, möglichst schnell ins Deutsche übersetzen lässt.
Dringende Lese-Empfehlung!