Schwindel: Roman
Ava ist die junge queere Frau, die früh von ihrem Vater verlassen wurde. Sie wuchs bei ihrer Mutter auf und lebt mittlerweile allein in einer Hochhaussiedlung. Gerade ist ihr Date Robin bei ihr, die aus Avas Sicht ihre Langzeitbeziehung vorschiebt. Obwohl Ava sich mehr Nähe von Robin wünscht, macht sie die emotionale Distanz auch irgendwie an und so nimmt sie sich von Robins Körper, was sie kriegen kann.
Als es an der Tür klingelt, haben Ava und Robin es sich bequem gemacht. Die erste Tüte ist inhaliert, die zweite in Arbeit. Die Sprechanlage kündigt Delia an. Mit Delia hat Ava eine wirklich gute Zeit erlebt, bis sie Delias Trägheit nicht mehr ertragen hat. Delia dagegen hängt immer noch an Ava, weil sie die erste ist, die Delia in ihrem transgender Körper nicht abstoßend fand. Die erste, bei der Delia loslassen konnte und sich traute eigene Fantasien ins Spiel zu bringen.
Als Ava den Türöffner drückt ist sie wenig später mehr als irritiert, dass hinter Delias Rücken Silvia erscheint. Silvia ist die queere MILF, die den Schwimmkurs geleitet hat, den Ava wegen ihres Rückenleidens aufgesucht hatte. Delia glaubt ihr Handy bei Ava vergessen zu haben und Silvia will reden. Immer wollen alle zum Schluss reden, dabei sollte doch eigentlich alles klar sein. Ava reagiert nicht mehr auf Silvias Nachrichten, vermeidet die Orte, an denen die sich aufhält. Warum sollte Ava ihr sagen, dass Silvia sie einfach nicht mehr so angeturnt hat, davon abgesehen, dass Silvia Avas Mutter sein könnte.
Robin, Delia und Silvia beschnüffeln sich argwöhnisch in Avas Diele. Ava, außen vor, spürt, wie sich ihre Atmung verstärkt, legt eine Kehrtwende hin und rennt mit fliegender Jogginghose auf das Dach des Wohnhauses. Die anderen rasen behände hinterher, öffnen die Tür und finden sich auf dem menschenleeren Dach. Die Tür fällt mit einem Scheppern ins Schloss und alle wissen instinktiv, dass sie jetzt verriegelt ist.
Fazit: Hengameh Yaghoobifarah hat vier Menschen gezeichnet, die mir einen intensiven Einblick in ihre Gefühlswelt verschaffen. Alle außer Ava erleben sich als Außenseiterinnen. Ich erfahre viel über ihre Vergangenheit und die Erfahrungen, die sie gemacht haben und ihre Kompensierungsversuche. Die burschikose Robin mit der großen Klappe, die sich für eine Powerlesbe hält. Die schwermütige Delia, die ihren Alltag am besten stoned erträgt. Silvia, die sich nicht immer zu Frauen hingezogen fühlte, sich mittlerweile gefunden hat und das mit ihrem Bohemian style zu unterstreichen weiß und Ava, die Angst vor zu intensiver Nähe hat, obwohl sie sich nichts mehr wünscht, aber da sind so viele andere Mütter mit interessanten Töchtern. Es geht um Körperlichkeit, das Recht, sich in seiner Haut wohlzufühlen, das Recht zu Begehren, um Zugehörigkeit und das Aushalten von Nähe. Die Autor*in gendert rigoros und ich durfte – allen Unkenrufen zum Trotz -erleben, wie schnell ich mich daran gewöhnt habe. Alle Sichtweisen sind in korrekter Grammatik geschrieben, außer Delias, hier hat sich die Autor*in für ausschließliche Kleinschreibung entschieden. Vielleicht um zu unterstreichen, wie klein sie sich fühlt und macht. Schreibstil und Idee haben mir gut gefallen. Ich muss gestehen, dass ich die Kommunikation und die Hysterie überzogen und etwas nervig fand. Das mag jedoch an mir liegen, meiner Welt, meiner Sichtweise, meinen Konventionen, die ich vielleicht nicht so gerne verlasse, wie ich mir das manchmal einrede.
Schwindelerregende Lektüre, die neue Perspektiven zeigt
In "Schwindel" sperren Ava und ihre drei Affären unfreiwillig auf dem Dach aus und müssen nun zwangsweise so viel Zeit miteinander verbringen bis irgendjemand sie vom Dach herunterlässt. Erzählt ist die Geschichte aus allen vier Perspektiven, so dass wir alle Figuren kennenlernen.
Ich gebe dem Buch eher 3,5 als 4 Sterne. Mir gefiel, dass auch ohne Kapitel oder Hinweisen immer klar war, welcher Charakter im Fokus stand. Einige lernte ich dabei tiefer kennen als andere. Manchmal war mir das Buch etwas zu oberflächlich. Trotz ihrer Hintergrundgeschichten steht das Beziehungsgeflecht und die -dynamik aber im Vordergrund, so dass ich das dem Buch nicht ankreiden will. Gleichzeitig fand ich Sylvia, über die die Leser:innen auch etwas über Lesbisch sein in den 80ern/90ern erfahren, genau aus diesem Grund die rundeste Figur.
Auch der sprachliche Umgang mit Delias Stimme, die nonbinäre Figur, gefiel mir sehr. Einerseits war dieser Part immer am eindeutigsten gekennzeichnet, andererseits aber sehr flüssig zu lesen, trotz "dey"/"demm"-Bezeichnungen, die ich bisher nicht gelesen hatte.
Den Schlussteil, mit einer neu auftretenden Figur, die ich nicht spoilern will, war mir persönlich etwas zu weit hergeholt. Auch ohne diese Wendung hätte "Schwindel" einen guten Abschluss finden können.
Insgesamt fand ich den Roman gut, besonders in dieses Beziehungsgeflecht einzutauchen. Es ist aber kein Musst read aus meiner Sicht.