Kurzmeinung: Es hat gedauert, bis ich uneingeschränkten Zugang fand.
Die nicht allzu große, aber auch nicht allzu kleine Stadt Vacca Vale, im Chastity Valley, Indiana gelegen, ist heruntergekommen. Die meisten Stadtviertel sind trostlos, manche noch trostloser. In einem dieser abgehängten Viertel steht ein Wohnklotz, heruntergekommen auch dieser, Wohnkomfort gering, Mieten günstig und/oder vom Amt bezahlt. Man nennt ihn im Volksmund den Kaninchenstall, weil er vor Leben wimmelt. Ein Ausdruck, der viel zu positiv besetzt ist, also noch einmal anders, weil dort, wie in einem Kaninchenstall, die Bewohner auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Die Wände sind dünn, die Isolierung marode, alles ist marode. Hier wohnen die absolut Abgehängten, die Asozialen und welche, die noch nicht asozial sind, es aber voraussichtlich bald werden, die Verzweifelten, die zu kurz Gekommenen, diejenigen, die von der Gesellschaft geächtet werden.
Das einzig hübsche, was Vacca Vale zu bieten hat, ist ein großer, wild wuchernder Grüngürtel, eine Mischung aus verwildertem Park und Wald. Dieser Grüngürtel ist einer der wenigen Freuden die Tiffany Joan Wilkes genießen kann. Sie ist eine siebzehnjährige Waise, die in einer Wohngruppe im Kaninchenstall lebt. Tiffany ist eine Naturliebhaberin, Vegetarierin und Tierfreundin. Sie hat Ideale, aber keine Zukunft. Jedenfalls sieht sie das so. Weil Vacca Vale keine Zukunft hat. Denn die Stadträte haben zur wirtschaftlichen Rettung Vacca Vales, zur sogenannte Revitalisierung, einen teuflischen Plan aufgelegt: Die Gentrifizierung des Kaninchenstalls und die dortige Ansiedlung von Industrie, wofür der breite Grünstreifen geopfert werden soll. Tiffany ist deprimiert, die Anwohner sollen verschwinden und Tiere und Pflanzen sollen zerstört werden. Als ob das nicht genug wäre an desolaten Lebensumständen, erliegt Tiffany der toxischen Beziehung zu einem älteren Mann.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Das LeseErlebnis kann ich nur als „reichlich strange“ bezeichnen. Die Bewohner des Romans leben nicht alle im Kaninchenstall, sie sind aber alle reichlich durchgedreht. Keiner tickt so richtig rund. Im Zentrum aber steht Tiffany, die blitzgescheit, jedoch emotional nicht stabil, zwar durchschaut, was mit ihr passiert, und sogar verbalisiert, dass ihr Verführer sie physisch wie psychisch ausnutzt, aber trotzdem nichts dagegen machen kann. Tiffany muss man lieb gewinnen, die Autorin führt alle Handlungsstränge am Ende zusammen, aber dennoch habe ich den Roman als ein wenig zerfasert erlebt. Hier ein Stückchen Puzzle und dort ein Puzzleteilchen und diese abgefahrenen Typen immer mittendrin, die alle irgendwelchen Obsessionen frönen, das ist, salopp gesagt, einfach nicht mein Ding gewesen, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Lektüre im englischen Original war mühsam; die Buchstaben in meiner Ausgabe so klein wie Mäuseköttel. Beides führte nicht zu einem ungeschmälerten Lesegenuß; aber man lebte sich ein, so wie sich die Bewohner des Kaninchenstalls einlebten: wohl oder übel.
Fazit: Die Ausführung des Romans ist im Prinzip gut gelungen, die ersten 100 Seiten empfinde ich jedoch als holprig, es dauert, bis ich mich zurechtfinde, die Ideen sind frisch. Der Roman hat einen Preis gewonnen, den National Book Award, 2022. Was will man mehr? Man sollte freilich etwas übrig haben für ungewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Gedanken und Hobbies, zum Beispiel Tiere quälen oder Hildegard von Bingen oder Verführung Minderjähriger. Ok, das ist zynisch. Den vierten Stern rücke ich etwas widerwillig heraus.
Kategorie: Anspruchsvoller Roman mit hohem Unterhaltungswert
Verlag: Oneworld Publications, 2023 /gelesen im englischen Original
Kiepenheuer & Witsch, 2023
National Book Award, Winner, 2022
Leben im Wohnsilo
Kurzmeinung: Es hat gedauert, bis ich uneingeschränkten Zugang fand.
Die nicht allzu große, aber auch nicht allzu kleine Stadt Vacca Vale, im Chastity Valley, Indiana gelegen, ist heruntergekommen. Die meisten Stadtviertel sind trostlos, manche noch trostloser. In einem dieser abgehängten Viertel steht ein Wohnklotz, heruntergekommen auch dieser, Wohnkomfort gering, Mieten günstig und/oder vom Amt bezahlt. Man nennt ihn im Volksmund den Kaninchenstall, weil er vor Leben wimmelt. Ein Ausdruck, der viel zu positiv besetzt ist, also noch einmal anders, weil dort, wie in einem Kaninchenstall, die Bewohner auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Die Wände sind dünn, die Isolierung marode, alles ist marode. Hier wohnen die absolut Abgehängten, die Asozialen und welche, die noch nicht asozial sind, es aber voraussichtlich bald werden, die Verzweifelten, die zu kurz Gekommenen, diejenigen, die von der Gesellschaft geächtet werden.
Das einzig hübsche, was Vacca Vale zu bieten hat, ist ein großer, wild wuchernder Grüngürtel, eine Mischung aus verwildertem Park und Wald. Dieser Grüngürtel ist einer der wenigen Freuden die Tiffany Joan Wilkes genießen kann. Sie ist eine siebzehnjährige Waise, die in einer Wohngruppe im Kaninchenstall lebt. Tiffany ist eine Naturliebhaberin, Vegetarierin und Tierfreundin. Sie hat Ideale, aber keine Zukunft. Jedenfalls sieht sie das so. Weil Vacca Vale keine Zukunft hat. Denn die Stadträte haben zur wirtschaftlichen Rettung Vacca Vales, zur sogenannte Revitalisierung, einen teuflischen Plan aufgelegt: Die Gentrifizierung des Kaninchenstalls und die dortige Ansiedlung von Industrie, wofür der breite Grünstreifen geopfert werden soll. Tiffany ist deprimiert, die Anwohner sollen verschwinden und Tiere und Pflanzen sollen zerstört werden. Als ob das nicht genug wäre an desolaten Lebensumständen, erliegt Tiffany der toxischen Beziehung zu einem älteren Mann.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Das LeseErlebnis kann ich nur als „reichlich strange“ bezeichnen. Die Bewohner des Romans leben nicht alle im Kaninchenstall, sie sind aber alle reichlich durchgedreht. Keiner tickt so richtig rund. Im Zentrum aber steht Tiffany, die blitzgescheit, jedoch emotional nicht stabil, zwar durchschaut, was mit ihr passiert, und sogar verbalisiert, dass ihr Verführer sie physisch wie psychisch ausnutzt, aber trotzdem nichts dagegen machen kann. Tiffany muss man lieb gewinnen, die Autorin führt alle Handlungsstränge am Ende zusammen, aber dennoch habe ich den Roman als ein wenig zerfasert erlebt. Hier ein Stückchen Puzzle und dort ein Puzzleteilchen und diese abgefahrenen Typen immer mittendrin, die alle irgendwelchen Obsessionen frönen, das ist, salopp gesagt, einfach nicht mein Ding gewesen, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Lektüre im englischen Original war mühsam; die Buchstaben in meiner Ausgabe so klein wie Mäuseköttel. Beides führte nicht zu einem ungeschmälerten Lesegenuß; aber man lebte sich ein, so wie sich die Bewohner des Kaninchenstalls einlebten: wohl oder übel.
Fazit: Die Ausführung des Romans ist im Prinzip gut gelungen, die ersten 100 Seiten empfinde ich jedoch als holprig, es dauert, bis ich mich zurechtfinde, die Ideen sind frisch. Der Roman hat einen Preis gewonnen, den National Book Award, 2022. Was will man mehr? Man sollte freilich etwas übrig haben für ungewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Gedanken und Hobbies, zum Beispiel Tiere quälen oder Hildegard von Bingen oder Verführung Minderjähriger. Ok, das ist zynisch. Den vierten Stern rücke ich etwas widerwillig heraus.
Kategorie: Anspruchsvoller Roman mit hohem Unterhaltungswert
Verlag: Oneworld Publications, 2023 /gelesen im englischen Original
Kiepenheuer & Witsch, 2023
National Book Award, Winner, 2022