Natürlich kann man hier nicht leben

Buchseite und Rezensionen zu 'Natürlich kann man hier nicht leben' von Özge İnan
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2 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Natürlich kann man hier nicht leben"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
Verlag: Piper
EAN:9783492071680

Rezensionen zu "Natürlich kann man hier nicht leben"

  1. Von der Heimat - politisch und privat

    Kurzmeinung: Ein Debüt mit Vertiefungsproblemen

    Özge Inan beschreibt in ihrem Debütroman am Beispiel zweier Familien Willkür und Verfolgung seitens der Staatsmacht in der Türkei. Selim und Hülya haben Unterschiedliches erlebt. Selim ist marxistisch-leninistisch orientiert und vertreibt verbotene Literatur, Hülya lebt in einer traditionellen Familie, muss sich mit der traditionellen Frauenrolle auseinandersetzen und erlebt, wie schwierig und gefährlich es wird, als ihre Schwester sich in einen Kurden verliebt.
    Als die Kutlosoys (Selim und Hülya) ihr erstes Kind erwarten, emigrieren sie nach Berlin. Der Roman spielt in Rückblenden weitgehend in den 1980er Jahren in Izmir.

    Der Kommentar.
    Die historischen Hintergründe und näheren Umstände, die zu dem Militärputsch 1980 in der Türkei führten, in deren Folge Ahmet Kenan Evren einige Jahre lang Präsident war, werden nicht näher beleuchtet oder gar kontrovers diskutiert. Dabei ist das die Zeit in die uns die Autorin in Rückblenden hineinversetzt, damals als das Ehepaar Kutlosoy (Selim und Hülya) jung gewesen ist und in Izmir lebte. Polizei und Militär griffen hart durch, sie duldeten keine widerständigen Aktivitäten. Die Kurden waren damals schon Feindbild Number One.

    Die Aufgabe des Militärs, die durch Kemal Atatürk ins Leben gerufene laizistische Verfassung des türkischen Staates zu bewahren und zu verhindern, dass nachfolgende Regierungen die Trennung von Staat und Religion wieder aufheben, wird in diesem dialoglastigen Roman nicht diskutiert. Und auch nicht, dass das Militär diese Aufgabe, Hüter der laizistischen Verfassung zu sein, in der Jetztzeit nicht mehr erfüllen kann, da durch Recep Tayyip Erdoğans systematische Infiltrierung des Militärs durch seine Gefolgsleute und Anhänger einerseits, der konsequenten Entfernung der kemalistischen Entscheidungsträgern andererseits der Tiger zahnlos wurde. Recep Tayyip Erdoğan ist derjenige Präsident, der bekanntlich sinngemäß sagte: “Die Demokratie ist ein Zug, auf dem wir mitfahren, bis wir das Ziel (Herrschaft = Einheit von Islam und Staatswesens) erreicht haben, danach brauchen wir den Zug nicht mehr.”
    Auch die Geschehnisse 2012/13 auf dem TaksimPlatz werden nur kurz angerissen, obwohl diese der Ausgangspunkt des Romans sind und man muss sie entweder parat haben oder bei Wikipedia nachlesen: „Ende des Jahres 2012 war der Taksim-Platz wegen Bauarbeiten gesperrt worden. Im April 2013 kam es zu massiven Protesten gegen den Abriss des als Weltkulturerbe qualifizierten Emek-Kinos und gegen eine Politik der Stadterneuerung, die bevorzugt Baudenkmale des Kemalismus und der Verwestlichung aufs Korn zu nehmen scheint. Ihre Fortsetzung fanden diese Ereignisse in der Kontroverse um den Gezi-Park, dessen Bäume die Stadtverwaltung Istanbul zu fällen plant(e), um dort ein Einkaufszentrum zu errichten.“ (Wiki).

    Der Roman konzentriert sich auf das individuelle Erleben seiner Protagonisten, das ist an und für sich nicht verkehrt, doch weil er es versäumt, die Widerfahrnisse der Familie Kutlosoy energisch an ein bestimmtes historisches Geschehen anzubinden, diese klar zu benennen und sie unter die Lupe zu nehmen, bleibt der Roman an der Oberfläche.
    Das ist wirklich schade, denn man erkennt den Versuch einer Auseinandersetzung mit der Türkei: aber er schürft nicht tief. Themen werden angerissen, aber es gibt keine Kontroverse, Themen werden nicht mit Hintergrund unterfüttert, nicht einmal abgeschlossen. So wird am Ende wird nicht einmal klar, wem die Eltern Kutlosoy ihre Geschichte eigentlich erzählen, klären sie ihre Kinder über ihre Vergangenheit auf und was könnte dies für Emre (Sohn) und Nihay (Tochter) hier in der Gegenwart nun bedeuten – oder erzählt das Ehepaar Kutlosoy von seinen politischen Ansichten, von seinem Engagement in der Jugend und dem Enthusiasmus, der sie damals bewog, die Welt zum Guten verändern zu wollen und von ihrer umfassenden Enttäuschung darüber, dass es unmöglich war - nur uns, den Lesern? Das alles bleibt offen. Am klarsten wird der Roman noch, wenn er von den Studentenunruhen berichtet, und sich selbst dort, wo Frauen für Frauenrechte demonstrieren, patriarchalische Strukturen durchsetzen.

    Der Roman arbeitet mit Dialogen, ist absolut dialoglastig, es gibt kaum Beschreibungen. Diese Dialoge sind allerdings recht lebendig, nicht gerade tiefschürfender Art, aber sie sind auch durchaus mehr als dick aufgetragene Informationsträger, deren Absicht man erkennt und dadurch genervt ist. Die Dialoge sind das Gute an dem Roman.

    Fazit: Dialoge allein reichen nicht aus. Die erzählerischen Mittel der Autorin sind momentan noch limitiert, die Wortwahl enthält Phrasen; stärker zu Buche schlägt jedoch das Fehlen von sachkundiger Einbettung ins Zeitgeschehen, Erläuterungen und historische Zusammenhänge.

    Kategorie: Eine Art historischer Roman
    Verlag: Piper, 2023