Mein kleiner Orangenbaum
Sesé kann es einfach nicht lassen, ständig fallen dem fantasievollen Jungen neue Streiche ein, für die er auch prompt zu Hause bestraft wird. Um seinem arbeitslosen Vater zu helfen, arbeitet er als Schuhputzer. Oder er schwänzt die Schule, um auf der Straße zu singen. Immer erobert er im Sturm die Herzen der Menschen. Und im Garten findet er in einem Orangenbaum seinen besten Freund, dem er sein Herz ausschütten kann. Eines Tages trifft er sogar 'den besten Menschen von der Welt', ein Glück, das nur von kurzer Dauer ist.
"Weißt du, man muss ein sehr großes Herz haben, damit alles reinpasst, was man gern hat."
Der Autor selbst ist es, der hier auf seine Kindheit zurückblickt - genauer gesagt auf ein prägendes Jahr seiner Kindheit. Als Fünfjähriger schon des Lesens mächtig und auch sonst ein pfiffiges Kerlchen, schummelt er bei seinem Alter ein wenig und darf deshalb schon früher in die Schule gehen. Seine Lehrerin ist begeistert von Sesés Arbeitseifer, ebenso wie von seinem Charme - und kann sich gar nicht vorstellen, dass seine Familie diesen liebenswerten kleinen Jungen so anders sieht.
Sesés Familie ist arm und zieht mit all den Kindern in ein noch kleineres Haus, in ein Armenviertel einer Stadt in Brasilien. Von vielen Kindern das zweitjüngste, scheint Sesé die Rolle des schwarzen Schafes zuzukommen. Sicher, Fantasie und Intelligenz lassen ihn so manchen Streich aushecken, und dass seine Begeisterung für neue Begriffe sich nicht nur auf komplizierte Fremdworte bezieht sondern ebenso auf alle Schimpfwörter, die er aufschnappt, das alles sorgt für ordentlich Trubel. Aber häufig genug wird Sesé auch zu Unrecht beschimpft und geschlagen und muss als Blitzableiter aller älteren Geschwister und seiner Eltern herhalten.
"Keiner von seiner Familie hat Verständnis für dieses Kind. Ich habe noch nie einen Jungen gesehen, der so sensibel ist."
Erstaunlich genug, dass Sesé sich lange sein sonniges Gemüt bewahren kann, nach Nischen im Leben sucht, die seine Neugier und seinen Lebenshunger befriedigen und seine Fantasie dazu nutzt, sich in andere Welten zu begeben. So hat er einen kleinen Orangenbaum im Garten des Hauses zu seinem eigenen auserkoren und führt mit diesem lebhafte Diskussionen. Sesé erzählt ihm von allen Vorkommnissen und von den Gedanken, die ihn bewegen. Dieser Orangenbaum ist für den kleinen Jungen so etwas wie ein Freund, ein Vertrauter, ein stets offenes Ohr.
Sesé nimmt seine Rolle als schwarzes Schaf der Familie lange recht stoisch hin, denn es lässt sich ja auch nichts daran ändern. Nur zu gut versteht er auch die Situation der anderen - die Arbeitslosigkeit des Vaters, die ständige Überarbeitung der Mutter, die Armut der Familie, die Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung. Trotz allem aber ist Sesé ein erst fünfjähriger Junge, der bitter enttäuscht ist, als es zu Weihnachten noch nicht einmal eine Süßtigkeit gibt - während die Reichen mit Geschenken überschüttet werden. Gott muss die Reichen also viel mehr lieben als die Armen...
"Jetzt erst wusste ich wirklcih, was Schmerz war. Schmerz war nicht, wenn man Prügel bekam bis man umfiel. (...) Schmerz war, wenn das ganze Herz so weh tat, dass man nur noch sterben wollte, ohne irgendjemand davon erzählen zu können."
Sesé macht schließlich die Erfahrung von wirklicher Zuneigung und Zärtlichkeit. Doch wenn solch ein Glück unerwartet zerbricht, zerbricht die ganze Welt...
Was für ein wunderschönes Buch! Naiv-kindlich erzählt und doch durchdrungen von einer erstaunlichen Reife, schafft der Roman Bilder einer wilden, armen, harten Kindheit und eines kleinen, intelligenten, sensiblen Jungen, der versucht, in dieser Welt mit Witz und Charme, Streichen und Fantasie zu überleben. Dabei ist der Junge dem Zauber der Welt so nah. Das Herz der Natur, die unerschöpfliche Welt der Sprache, die Geschichten, die täglich neu erfunden werden, der Zauber der Musik - all dem gegenüber öffnet sich Sesé reinen Herzens. Und doch muss er so viel Härte in seinem Leben ertragen, bis der Lebenswille als solcher hart auf die Probe gestellt wird...
Pralle Lebensfreude und bittere Melancholie durchziehen diese Kindheitserinnerungen des bekannten brasilianischen Autors. Eine kleine Perle, die ich einem Zufallsfund zu verdanken habe...
© Parden
Beeindruckend, poetisch
„Du heißt nicht umsonst José. Du wirst die Sonne sein, und die Sterne werden um dich leuchten.“ (Zitat Seite 21)
Inhalt
Als José, genannt Sesé, fünf Jahre alt ist, kann er lesen. Er hat es sich selbst heimlich beigebracht. Er ist neugierig auf das Leben, steckt voller Geschichten und hat ständig neue Ideen für Streiche, die er lustig findet. So wird er oft streng bestraft, auch für Dinge, die nicht er getan hat. Als sie in ein kleineres Haus ziehen müssen, weil der Vater arbeitslos ist, steht dort im Garten ein sehr kleiner Orangenbaum. Dieses Bäumchen, Sesé nennt es „Knirps“, wird sein bester Freund. Mit ihm erlebt er seine Phantasieabenteuer und ihm erzählt er alle seine Sorgen. Bis zur Sache mit der Glasscherbe, denn nun hat er wirklich einen Freund, Manuel „Portuga“ Valadares und wenn man sich seinen Vater hätte aussuchen können, dann hätte Sesé sich Portuga gewünscht.
Thema und Genre
In diesem autobiografischen Roman geht es um einen Jungen, der in sehr einfachen Verhältnissen in Brasilien aufwächst. Themen sind Kinderarmut, Kinderwelt und Erwachsenenwelt, Phantasie, die Natur, Zuwendung und Liebe.
Erzählform und Sprache
Der Zeitrahmen umfasst nur ein Jahr und es ist die Hauptfigur Sesé, der die Geschichte als Ich-Erzähler schildert. Er nimmt uns mit in seine eigene Welt, teilt mit uns die phantasievollen Geschichten, die er sich ausdenkt, seine Gedanken und seine eigene Auslegung für Geschehnisse aus der Welt der Erwachsenen, die durch Erklärungen in Form von Gesprächen ergänzt werden. Es sind Details und Alltagsereignisse, die sich so mit seinen Träumen, Wünschen, aber auch Ängsten verbinden. Die poetische Sprache beeindruckt durch ihre sanfte Intensität.
Fazit
Eine sehr zärtliche, gefühlvolle Geschichte, die sich mit der Traurigkeit der Realität verbindet und dennoch positiv nachklingt.