Lautlose Nacht: Roman
Der Klappentext klingt nach einem rasanten Thriller, aber wenn ich jetzt an "Lautlose Nacht" zurückdenke, kommt mir als erstes die kristalline Klarheit der Geschichte in den Sinn: zeitlos, schwerelos, oft beinahe poetisch, und dennoch mit einer ganz eigenen Art von Spannung.
Denn Rosamund Lupton erzählt mit dichter Atmosphäre von der archaischen Gnadenlosigkeit der Eiswüste, der Unbedeutsamkeit des Menschen in der unendlichen Weite der Polarnacht, der Qualität der Stille, aber es ist auch eine packende Geschichte von Verrat und Tod, Flucht und Jagd. Kein Thriller, aber durchaus ein fesselnder Roman, den ich nicht mehr weglegen konnte.
Zugegeben, die Geschichte ist nicht immer hunderprozentig glaubwürdig. Denn im Mittelpunkt stehen Yasmin und Ruby, eine junge Mutter und ihre gehörlose Tochter, die sich aufmachen, mitten im arktischen Winter im Norden Alaskas nach Matt zu suchen - Rubys Vater, der angeblich bei einem Brand zu Tode gekommen sein soll, was sie aber nicht glauben wollen. Die beiden überwinden die unglaublichsten Gefahren, und Yasmin, die in ihrem Leben noch nie einen LKW gefahren hat, steuert einen 40-Tonner über vereiste Flüsse, durch Lawinen und Schneestürme... Im echten Leben wäre ihr das schwere Gefährt wohl schon nach 500 Metern in den Graben gerutscht.
Aber das hat mich weit weniger gestört, als ich selber erwartet hätte, denn dadurch verstärkte sich für mich das Gefühl, ein spannendes modernes Märchen zu lesen.
Die Autorin spricht viele interessante, ganz unterschiedliche Themen an: Fracking (ein sehr umstrittenes Verfahren der Erdgas- und Erdölförderung), Gehörlosigkeit (nicht als Behinderung, sondern als andere und ebenso reiche Form der Wahrnehmung), die aussterbende Kultur der Inupiat, (indigener Ureinwohner der Polarregionen Nordamerikas) und vieles mehr. Die Mischung fand ich sehr originell und gelungen.
Die Geschichte wird zum Teil in der Ich-Perspektive aus Rubys Sicht erzählt, und durch sie gewinnt man einen wunderbaren Einblick in das Leben eines gehörlosen Kindes. Obwohl sie sich weigert, laut zu sprechen, empfindet sie sich nicht als sprachlos, denn sie sieht ihre Gebärdensprache als ihre Stimme. Ihre Sicht auf die Welt ist keine eingeschränkte - nur eine andersartige. Genau das ist aber ein häufiger Streitpunkt zwischen ihr und ihrer Mutter, denn Yasmin glaubt, Ruby müsse sich an die Welt der Sprechenden anpassen, um in ihr bestehen zu können.
Ehrlich gesagt fand ich dieses Thema fast spannender als die Frage, ob Matt noch lebt und was wirklich hinter der Brandkatastrophe steckt, die ihn angeblich getötet hat! Das Sahnehäubchen waren für mich die Tweets, in denen Ruby beschreibt, wie sie verschiedene Wörter wahrnimmt.
Zitat:
@Words_No_Sounds
650 Follower
LÄRM: Sieht aus wie eine blinkende Neonwerbung, fühlt sich an wie herunterrieselnder Schutt, schmeckt wie die ausgeatmete Luft anderer Leute.
Auch Yasmin ist in meinen Augen ein gut geschriebener, komplexer Charakter. Die anderen Charaktere bleiben eher blass, aber das liegt meines Erachtens daran, dass sich die Handlung zu großen Teilen ausschließlich um Yasmin und Ruby dreht, denn die verbringen viel Zeit ganz alleine im Cockpit eines Trucks.
Zitat:
Die Kälte war ein Schock. Sie hatte gedacht, Kälte sei weiß wie Schnee oder vielleicht blau wie der Punkt auf einem Kaltwasserhahn. Aber diese Kälte entsprang einem Ort der Nacht und war schwarz, ohne jegliche Farbe oder Licht. Ein gellendes Kreischen ertönte, dann begriff sie, dass es der Wind war, der Neuschnee über den festgefahrenen Schnee am Boden trieb, weiße Geister, die über Straße und Ödnis tanzten.
Den Schreibstil fand ich wunderbar, mit starken und dabei oft lyrischen Bildern. Für mich sind besonders die Passagen sehr gelungen, die aus Rubys Sicht erzählt werden. Oft finde ich in Büchern die "Stimmen" von Kindern nicht glaubhaft oder authentisch, aber Rosamund Lupton hat mich mit Ruby überzeugt.
Fazit:
"Lautlose Nacht" ist in meinen Augen vielleicht kein Thriller, aber dennoch auf ganz eigene Art und Weise spannend. Die Autorin erzählt von einer Extremsituation, beschreibt aber nicht nur Bedrohung und Gefahr sehr fesselnd, sondern auch die einzigartige, harsche Schönheit Nordalaskas im Polarwinter - und die Geschichte, wie sich eine Mutter und ihre kleine gehörlose Tochter in der endlosen Stille aneinander annähern, denn das Schweigen der Tochter und ihr Beharren auf der Gebärdensprache waren bisher ein steter Streitpunkt.
Eigentlich wollte Yasmin zusammen mit ihrer gehörlosen Tochter Ruby ihren Mann Matt in Alaska besuchen. Er arbeitet dort als Tierfilmer, sie sehnt sich nach langer Abwesenheit Matts auch nach einer Aussprache. Doch statt von ihrem Mann wird sie am Flughafen von der Polizei erwartet, die von einem tragischen Unfall spricht. In der kleinen Ansiedlung Anaktue im Norden Alaskas wurde durch einen Brand die ganze Bevölkerung ausgelöscht und Matt hat sich dort aufgehalten.
Doch alles in Yasmin wehrt sich gegen die Nachricht, sie ist sich sicher dass Matt lebt und macht sich zusammen mit Ruby auf die Reise in den Norden Alaskas, zuerst als Beifahrer auf einem Truck, dann später allein, durch Dunkelheit, Stürme und Minustemperaturen weit unter vorstellbaren Graden.
Drei Ebenen strukturieren diesen spannenden, mitreißenden Roman: Yasmins Erinnerungen an den Beginn ihrer Liebe zu Matt und die beginnende Entfremdung. Rubys Gedankenwelt, ihr Umgang mit der Gehörlosigkeit und ihr Sträuben gegen Einengung durch ihre Mutter. Ihre Welt ist auch ohne Sprache vielseitig und mit ihren Sinnen nimmt sie viel an Stimmungen wahr, hat so viele Ausdrucksmöglichkeiten, dass ihre Welt dem Leser ebenso reich erscheint, wie dem Sprechenden. Dann die Realität, die Gefahr durch die lebensfeindliche Umwelt und ganz akut durch einen geheimnisvollen Verfolger, der mit allen Mitteln verhindern will, das Yasmin und ihre Tochter Anaktue erreichen.
Die Geschichte fesselte mich durch die facettenreiche Beschreibung der Erinnerungen und der Gedanken von Yasmin und Ruby, aber auch durch die tollen Schilderungen des arktischen Winters. Dunkle, menschenleere Tundra, durchzogen vor einer Eisstraße, auf der nur die Scheinwerfer des Trucks einen Lichtstrahl durch die dunkle Welt schicken. Stürme, Schnee, Eis und eisige Temperaturen von minus 40° werden für mich auch beim Lesen fast erlebbar, so plastisch und lebendig ist die Sprache von Rosemary Lupton, so atmosphärisch dicht ihr Stil.
Ein tolles, spannendes Buch, ein Thriller mit einer wichtigen Botschaft, das ich nicht mehr aus der Hand legen konnte und das mich tief beeindruckt hat.
Auch das Cover passt zur Atmosphäre des Romans, eine Nacht mit dem kalten Grün des Polarlichts, passend auch der deutsche Titel.
Tweet Tweet
Yasmin fliegt mit ihrer zehnjährigen Tochter Ruby nach Alaska. Matt, ihr Mann, soll sie vom Flughafen abholen. Doch statt ihres Ehemannes wartet die Polizei. Eine Polizeibeamtin teilt Yasmin mit, dass es einen schweren Brand in dem Inuit-Dorf gegeben habe, in dem Matt sich aufgehalten hat, um einen Naturfilm zu drehen. In Yasmins Kopf dreht sich alles, das kann nicht sein. Matt hat doch versucht, sie anzurufen als die Katastrophe schon ihren Lauf genommen hatte. Yasmin muss das mit eigenen Augen sehen, sie glaubt einfach nicht, dass ihr Mann unter den Toten sein soll. Gegen alle Vernunft und Widerstände machen Yasmin und Ruby sich auf den Weg nach Norden.
Wenn man schon einmal eine Dokumentation über die Lkw-Fahrer gesehen hat, die ihre fahrenden Festungen durch die Eiswüste steuern und allen Gefahren trotzen, kann man sich recht bildhaft vorstellen, was Yasmin und ihrer gehörlosen Tochter bevorsteht. Eine Fahrt durch eine gleißende weiße Stille, in der Mutter und Tochter dasselbe hören. Yasmin, die damit hadert, dass ihre Tochter lieber mit den Händen spricht, die sich nach ihrem Mann sehnt und fürchtet, ihre Ehe könne am Absterben sein. Mit viel Glück schaffen die Beiden auch ohne große Hilfe der Behörden ein Stück auf ihrem Weg voranzukommen. Bald schon aber wissen sie nicht mehr, wer ihnen hilft oder wer ihnen eher Steine in den Weg legen möchte.
Ein Lkw fährt sich nicht von selbst, auch wenn eine Mutter in der Gefahr über sich selbst hinauswächst, um ihr Kind und ihren Mann zu beschützen oder zu retten, wirkt es doch etwas weit hergeholt, dass sie mit einem unbekannten Fahrzeug in unbekanntes und unwirtliches Gelände fährt. Das ist allerdings auch der einzige Kritikpunkt, der sich ein wenig aufdrängt. Davon abgesehen ist die Höllenfahrt von Yasmin und Ruby einfach nur packend und dramatisch ohne Ende. Man verschlingt eine Seite nach der anderen unfähig aufzuhören. Man begegnet hilfsbereiten Menschen und solchen, die nur so tun. Nicht immer ist es leicht zu unterscheiden, wer auf welcher Seite steht und welches die Seiten überhaupt sind. Man fragt sich anhand der bekannten Tatsachen, ob es überhaupt eine Hoffnung für Matt geben kann oder ob Yasmin und Ruby schließlich doch die leidvolle Erfahrung machen müssen, dass er keine Chance hatte. Während der ganzen Zeit hört man förmlich das Brummen der Motoren oder man fühlt es wie Ruby. Man hält den Atem an, man zittert und bangt. Man versinkt in dem Buch, klasse.
4,5 Sterne