Inhaltsangabe zu "Hast du uns endlich gefunden"
Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen.
Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinandersetzungen, die seine älteren Brüder mit Vater und Mutter am Esstisch führen. Aber er bleibt Zuschauer. Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Phantasie.
Dieser Junge, den der Autor als fernen Bruder seiner selbst betrachtet, erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den eigenen Blick auf die Welt. Wenn sich der dreiundsiebzigjährige Edgar Selge gelegentlich selbst einschaltet, wird klar: Die Schatten der Kriegsgeneration reichen bis in die Gegenwart hinein.
Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich. Voller Witz und Musikalität. Ob Bach oder Beethoven, Schubert oder Dvořák, Marschmusik oder Gospel: Wie eine zweite Erzählung legt sich die Musik über die Geschichte und begleitet den unbeirrbaren Drang nach Freiheit.
Nachkriegszeit - eine Jugend in Ostwestfalen
Edgar Selge, den wir als Schauspieler mit kantigem Aussehen in anspruchsvollen Rollen kennen, hat sich mit „Hast Du uns endlich gefunden“ während der Coronazeit schriftstellerisch betätigt und seine Jugend im ostwestfälischen Herford schreibend aufgearbeitet. Nun muss man kein Fan von schreibenden Schauspielern sein. Und es muss auch nicht jeder seine Jugend erzählen und von einem allgemeinen Interesse daran ausgehen. Aber Edgar Selge gelingt es, seiner Jugend allgemeingültige Themen abzugewinnen und so wird seine Geschichte eben auch zur Zeitgeschichte und verliert einen ausschließlich individuellen Charakter.
Edgar wächst in einem kultivierten bürgerlichen Milieu auf. Sein Vater, ein Jurist, ist Gefängnisdirektor mit musikalischen Ambitionen. Wir sind in der Nachkriegszeit, in den 50ern in unserer Republik. Und hier bewegen den kleinen Edgar vor allem zwei Themen:
• Warum ist der Vater ihm gegenüber so gewaltbereit und -tätig, während er doch an sich feingeistig und sozial engagiert unterwegs ist?
• Wie kann die Wahrheit über die Vergangenheit, den Krieg und das Dritte Reich an den Tag kommen?
Edgar leidet unter den regelmäßigen Schlägen des Vaters, ringt um seine Liebe und kann die verschiedenen Seiten des Vaters einfach nicht zusammenbringen.
Edgar und seine Brüder stoßen immer wieder auf Ungereimtheiten in den Narrativen über die Nazizeit, erkennen, wo und wann es wohl Lügen und Schweigen gibt, kommen aber an die Wahrheit nicht heran, denn dafür wäre die Kooperation der Eltern und deren Generation von Nöten, die aber nicht gewährt wird. So werden sie unfreiwillig zu Komplizen gemacht für die Verdrängung und das Schweigen der Eltern.
Mit diesen beiden Themenkomplexen gestaltet Edgar Selge sehr genau eine glaubwürdige Atmosphäre der deutschen Nachkriegszeit, in der die Gedankenwelt der späteren 68er Bewegung bereits im Keim angelegt war, sich aber nicht entfalten konnte und deshalb in Kindergedanken und in Familienkreisen eingeschlossen blieb und von Verdrängung und Vorgaukeln von Normalität verdeckt werden konnten.
„Wir kämpfen hier täglich hart um ein Zusammenleben, in dem Fröhlichkeit und gute Laune oberstes Gebot ist. Unsere Eltern wollen beweisen, dass der Krieg und die sogenannte schlechte Zeit vorbei sind. Jetzt muss Glanz her. Auch in den Gesichtern muss es glitzern vor Optimismus. Das ist Arbeit und hat eher mit Zubeißen zu tun als mit Genuss. Musizieren ist Anstrengung, Drill, manchmal auch Erniedrigung. Die Freude kommt vielleicht am Schluss in Form einer Belohnung dazu.“
Edgar Selge konnte mich sehr gut in diese vorgespielte Atmosphäre hineinversetzen und deshalb habe ich den Roman auch mit Freude gelesen und gebe ihm sehr gern 4 Sterne.