Every
Der Nachfolger vom „Circle“ ist „Every“ – ein Konzern, der alles und jeden überwacht und trackt, der das Leben „verbessert“, in dem er Romane von ungewünschten Handlungsverläufen oder politisch inkorrekten Wortlauten befreit, der das Konsumverhalten optimiert – gern auch unter dem Deckmantel des Klimaschutzes – und die Menschen durch öffentliche Zurschaustellung ihres Fehlverhaltens – und sei es noch so klein – zu einer überlegeneren Version ihrer selbst machen will. Delaney Wells will diese Form der Unfreiheit und Überwachung nicht länger hinnehmen und bewirbt sich bei „Every“, um die Firma von innen heraus zu zerstören.
Hatte ich beim „Circle“ vor einigen Jahren schon das ungute Gefühl, dass alles, was Dave Eggers als (hoffentlich) dystopisches Szenario entwirft, gar nicht so weit ab von einer möglichen, zukünftigen Realität ist, so habe ich bei „Every“ den Eindruck, dass die Welt sich bereits unaufhaltsam in die hier aufgezeigte Richtung bewegt. Natürlich übertreibt Dave Eggers mit seinen Ideen und Darstellungen, selbstverständlich sind einige Einfälle, wie die von „Thoughts Not Things“ so abstrus, dass sie kaum je umgesetzt werden könnten – allerdings: in „Every“ finden sich auch viele Ansätze, die leider gar nicht so unwahrscheinlich klingen. In der Fülle, in der Eggers sie in seinem Roman detailliert vorstellt, muss man fast schon Angst vor der Kreativität des Autors selbst bekommen….
Eggers legt all diese fantastisch anmutenden Ansätze in die Hand seiner Figur Delaney, die hofft, irgendwann eine Idee zu präsentieren, mit der die Öffentlichkeit nicht mehr einverstanden ist, sodass „Every“ an seinen eigenen Taktiken zugrunde geht. Das Perfide an all diesen Innovationen ist, dass sie so, wie Delaney sie präsentiert, auch immer eine gute Seite zu haben scheinen, die sogar so weit reicht, dass man sich selbst durchaus bei der ein oder anderen Idee fragt, ob diese nicht vielleicht in modifizierter Version umgesetzt werden sollte.
Gleichzeitig hält Eggers uns einen schonungslosen Spiegel vor. In eindringlicher und überspitzer Art und Weise konfrontiert er den Leser mit einer Gesellschaft, der Entscheidungen abgenommen werden (dafür gibt es jetzt ein Programm), die zu regelmäßigem Sport verpflichtet ist (dafür gibt es ein Monitoring-Programm), ein Schlafziel zu erreichen hat (dafür gibt es ebenfalls ein Programm) und die z.B. ihren Wortschatz erweitern muss (auch dafür gibt es ein Programm). Die Menschen sind vollkommen abhängig von ihren Smart Devices, arbeiten sich täglich durch unzählige Likes, Smiles, Frowns und Kommentare und leben für ihre virtuelle Präsenz und ihr Social Media-Image. So viel Nähe an der jetzigen Zeit, vor allem auch was Shitstorms und Public Shaming angeht, gibt es selten.
Auch wenn Eggers Anliegen sehr durchsichtig ist und seine Kritik an großen Internet-Konzernen plakativ und überdeutlich daherkommt, kann man sich dem Roman nicht entziehen. Die Parallelen, die sich zu unserer Lebenswelt bereits finden, sind nicht von der Hand zu weisen – es reicht, dass das Szenario nicht vollkommen abwegig ist, um zumindest einen Denkprozess in Gang zu setzen. Dadurch entsteht trotz einiger Längen, in denen Delaneys Mission sich immer wieder im Kreis zu drehen scheint, ein spannendes und faszinierendes Porträt des „Every“-Konzerns – Eggers entwirft hier ein bis in die letzte Kleinigkeit durchdachtes Firmenuniversum, dessen Erschaffung ihm spürbar Freude bereitet. Auch wenn sich der Text bisweilen in Details verliert, wird der Nervenkitzel hochgehalten – lediglich im letzten Viertel gerät die Spannungskurve etwas aus dem Takt. Bei all der von „Every“ propagierten Transparenz erscheinen die Figuren vielfach undurchsichtig genug, um zusätzlich für Anspannung beim Leser zu sorgen. Insgesamt ein sehr spannender, lesenswerter und auf eine beunruhigende Weise unterhaltender Zukunftsroman, bei dem die Frage bleibt, wieviel von der Zukunft schon unsere Gegenwart ist.
Kurzmeinung: Ist es wirklich noch 5 vor 12?
Als ich heute auf ZDF.info die Sendung „Weltmacht Amazon, Das Reich des Jeff Bezos“ anschaute, dachte ich, mindestens die Hälfte ist schon wahr beziehungsweise verwirklicht und wir stehen am Rande des Abgrunds. Amazon kauft Unternehmen auf, verschluckt sie und keins ward mehr gesehen. Die Monopolstellung von Every ist natürlich größer und gewaltiger, aber gar nicht so weit von der Realität entfernt wie wir es gerne hätten. Die von Dave Eggers ausgeschmückte ubiquitäre und omnipotente sanfte Gewalt von Every nimmt mit wenigen nullsteuerzahlenden Monopolisten in der Welt mehr und mehr Gestalt an. Eine Utopie ist es schon lange nicht mehr, was Eggers uns mit Absicht natürlich völlig überzogen ins Stammbuch schreibt.
Wenn es nach Every geht, gibt es kein Privatleben mehr, keine Privatsphäre. Keine Privatgedanken. Alles wird publik und miteinander verglichen, ob es um die Qualität des Sex geht oder darum, schon die Kinder ein Ranking untereinander veranstalten zu lassen. Selbst, ob es dir schmeckt, sagt dir die App anhand deiner gemessenen Körperfunktionen!
Dave Eggers versprüht Witz und Ideen wie immer. Es ist ein Vergnügen „Every“ zu lesen und sich zu gruseln. Natürlich ist das Satire, was Eggers macht. Und dennoch läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Weil auch Eggers keinen Ausweg sieht. Seine Protagonistin Delaney probt den Aufstand. Was dabei heraus kommt, möchtest du nicht wissen oder du liest den Roman!
Was dem Roman „Every“ fehlt, ist ein wenig Wagemut und ÜberdieStränge schlagen, ein wenig Bond oder Superwoman hätten nicht geschadet. Oder, ich traue mich kaum, es zu sagen, Sex. Eine verbotene Affäre. Was wir dagegen bekommen, ist ein kranker Hund. Mit dem wir natürlich Mitleid haben. Und den Abgrund. Den bekommen wir auch.
Was die Atmosphäre angeht und das politische Klima: Mit unserer political correctness, in der heute diskriminierende (aber sehr lustige) Witze über Ostfriesen und Blondinen nicht mehr denkbar wären (sind?) - sind wir schon sehr nahe an der Meinungsdiktatur, die durch Every abgebildet ist, angelangt.
Fazit: Ein Spieglein wird einem vorgehalten, in das man nicht gucken möchte. Wie immer ein wunderbar zu lesendes Feuerwerk an Einfällen.
Kategorie: SF. Dystopie
Verlag: Kiwi, 2021
Wohltätige Algorithmen
Endlich ist es geschafft, das bedeutendste Social Media Unternehmen, die größte Suchmaschine und das größte Versandhaus sind endlich vereint, zu Every, der allumfassenden Maschine zum Wohl der Menschheit. Gibt es jemanden, der die Machenschaften dieses Konzerns durchschaut? Zumindest Delany Wells fasst den Entschluss, Every muss von innen heraus bekämpft werden. Sie durchläuft das Assessment und bekommt tatsächlich ein Stellenangebot. In verschiedenen Abteilungen lässt sie Every an ihren Ideen teilhaben, von denen eine die Freiheit des einzelnen mehr einschränkt als die andere. Delany hofft, dass die Menschen sich irgendwann dagegen wehren müssen und Every zerschlagen wird.
Kann Delany allein gegen eine Riesenfirma antreten? Zumindest versucht sie es. Doch Delany hat nicht mit der Dummheit der Menschen gerechnet, die ihre Freiheit und das letzte bisschen Privatsphäre auch noch gerne aufgeben, wenn sie meinen, dass sie es freiwillig tun, es dem Umweltschutz dient oder dem Schutz der Gesundheit. Es scheint so, dass je abwegiger ihre Ideen sind, desto mehr springen die Kunden darauf an. Es gibt für alles eine App, die überwacht und mit Handlungsanweisungen zur Stelle ist. Wo bleibt die Revolution? Niemand steht auf. Nur ihr Freund Wes unterstützt Delany von außen. Was hat es dann zu bedeuten, dass auch er bei Every anfängt?
Ob man in der Welt von Every leben möchte, sollte man sich echt überlegen. Am besten sollte man dann auch gleich ein paar Gedanken daran verschwenden, wie weit es schon ist. Vielleicht auch gleich ein paar Apps und Konten löschen und wieder ganz oldschool im Laden einkaufen. Leider lässt sich die Zeit nicht zurückdrehen, aber schön wäre es doch, wenn die Menschen etwas weniger technikgläubig währen. Die Bosse irgendwelcher Firmen wollen genau eines, Geld scheffeln. Mit welchen Mitteln sie das schaffen, ist ihnen großen Teils egal. Wäre es anders, gäbe es noch eine Art von Menschlichkeit und Etikette. Alles irgendwelchen Algorithmen zu überlassen, zeugt nicht gerade von Mitgefühl. Man wünscht bei diesem gut vorgetragenen Hörbuch, nie in so einer Welt leben zu müssen und schaudert so manches Mal beim Hören.
3,5 Sterne