Die unheimliche Bibliothek
Wer das dünne Büchlein öffnet, landet in einem Alptraum bzw. in einem gleichermaßen poetischen wie verstörenden Horrormärchen, das mit fabelhaften Zeichnungen von Kat Menschik illustriert wird.
„Die unheimliche Bibliothek“ hat mich rasch in ihren Bann gezogen. Ich las dieses Werk mit fantastischen und unlogischen Elementen in einem Zug und war am Ende fasziniert und gleichzeitig etwas ratlos.
Über den Inhalt möchte ich nicht allzu viel verraten - das würde das schaurige Lesevergnügen mindern.
Nur soviel: ein Junge, der eigentlich nur ein Buch in einer Bücherei ausleihen will, landet in einem gruseligen Kellerverlies. Dort erlebt er schaurige Geschehnisse und trifft auf skurrile Gestalten.
Murakami gelingt es, mit einer einfachen und schnörkellosen Sprache, eine dichte, düstere und unheimliche Atmosphäre zu schaffen. Vor dem geistigen Auge spielt sich ein Film ab, in den man emotional hineingezogen wird.
Ein echtes Lesevergnügen, wenn man sich darauf einlässt.
Ein Junge gibt zwei Bücher in der Bibliothek ab, die er bereits von vorhergehenden Besuchen kennt und möchte sich ein neues ausleihen. Dazu sucht er einen alten Herrn auf, der ihm zwar weiterhilft, ihn jedoch in einem Labyrinth unterhalb der Bibliothek einkerkert. Zwar sind die Überlebenschancen düster, doch die Verpflegung ist überraschend gut. Und der merkwürdige Schafsmann sowie das wunderhübsche stumme Mädchen, die sich um ihn kümmern, scheinen ihm wohlgesonnen.
Es ist mein erster Marukami, den ich hiermit gelesen habe und die Geschichte hat mir sehr gefallen. Zwar ist der Text recht schlicht gehalten, doch dies entspricht durchaus dem Stil eines ca. 12jährigen, dem ungefähren Alter des Protagonisten. Rätselhaft sind die Dinge, die sich in der Bibliothek abspielen ebenso wie die Personen, die dort auftreten und die begleitenden Illustrationen sind bestens dazu geeignet, diesen Effekt zu verstärken. Da sich nichts von allem aufklärt und alles unergründlich bleibt, empfinde ich diese Erzählung als durchaus geeignet zum wiederholten Lesen.
Der Preis mag happig erscheinen für 30 min Lesezeit. Aber die Gestaltung des Büchleins ist überdurchschnittlich: gedruckt auf hochwertigem Papier, was den Illustrationen geschuldet sein mag.
Fazit: Wer schöne Geschichten und schöne Bücher mag, liegt hier richtig.
Traum oder Wirklichkeitt
Inhalt
Eine Bücherei an einem unbekannten Ort zu einer unbekannten Zeit. Ein Junge betritt die Bücherei, um seine ausgeliehenen Bücher fristgerecht dort abzugeben. Er äußert den Wunsch, noch ein wenig nach weiterem Lesestoff zu stöbern. Die Frau an der Theke nennt ihm die Zimmernummer 107 im Untergeschosses der Bibliothek, wo er sich melden soll, damit sein Bücherwunsch herausgesucht werden kann. Er trifft in dem Raum. Auf einen seltsamen Bibliothekar, der ihn, statt in den Lesesaal zu bringen, durch ein dunkles Labyrinth unterhalb der Bücherei führt und ihn in ein Verlies einsperrt. Er soll solange dortbleiben, bis er die von ihm ausgesuchten Bücher gelesen hat und auswendig kann. Er wird von einem kleinen Mann in der Gestalt eines Schafes, dem „Schafsmann“ angekettet, der ihn während seines Aufenthalts dort versorgt. Ein hübsches junges Mädchen steht ihm ebenfalls sehr freundlich zur Seite, das zwar stumm ist, aber mit Gesten sich verständigen kann. Im Laufe der Zeit gewinnt er das Vertrauen der beiden und sie planen gemeinsam die Flucht aus der seltsamen Bücherei.
Sprache und Stil
Die Kurzgeschichte wird aus der Sicht des Jungen beschrieben. Dieser betritt die Bücherei mit neuen Lederschuhen, die auf dem Linoleum „ein seltsames Klackern“ hervorrufen. Er hat das Gefühl, als würde er nicht selbst laufen, sondern es wäre jemand anders.
„Wie immer war es sehr still in der Bibliothek. Meine nagelneuen Lederschuhe riefen ein seltsames Klacken hervor, als ich über das graue Linoleum ging.“ (S.5)
Die Merkwürdigkeiten steigern sich allmählich weiter. Die Frau an der Ausleihe ist neu und liest ein Buch, wobei es den Anschein hat, als ob sie mit dem linken Auge die linke und mit dem rechten Auge die rechte Seite des Buches lesen würde.
Schließlich erreicht die Unheimlichkeit ihren Höhepunkt, als der alte, sonderbare Mann ihn durch ein Labyrinth führt und in ein Verlies einsperrt. Dort wird er von ungewöhnlichen, aber keinesfalls unfreundlichen Gestalten versorgt. „Der Schafsmann“ klärt ihn auf, warum er eingesperrt wurde.
„Nachdem der Junge das Wissen der Bücher in seinem Gehirn vollgestopft hat, will der alte Mann ihm das vollgestopfte Gehirn aussaugen, weil es dann angeblich sehr delikat und reichhaltig ist.“ (S. 27)
Der Autor Murakami setzt in seiner Kurzgeschichte das Labyrinth als Metapher ein.
„Das Labyrinth in der Literatur dient als ein verbreitetes Motiv für ein schwieriges, unübersichtliches und dunkles Problem.“
(Quelle: vgl .https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-476-00091-0_290.pdf, 30.07.2021.)
Mit dem Begriff „Labyrinth“ lassen sich zudem auf Anhieb vielerlei Assoziationen verbinden. In der Vielgestaltigkeit zeigt das Symbol „Labyrinth“ einen ambivalenten Charakter auf: Tod, Leben, Angst, Chaos, Gefahr, Suche, Geborgenheit, Überwindung und vieles mehr. Das Ziel, die Mitte des Labyrinths zu erreichen, ist nur über einen Weg möglich und dieser führt nicht direkt dort hin, sondern über Wendungen und Umkehrungen.
Auch in der Kurzgeschichte versucht der Junge sein Ziel zurück zu erreichen. Er muss den Weg, so wie er hineingekommen ist, wieder zurückgehen. Die beiden Gestalten, der „Schafsmann“ und das Mädchen, helfen ihm. Doch er merkt, dass er in Welten eintaucht, die er nicht sehen kann. Die Grenzen zwischen Dingen, Menschen und Orten verschwimmen.
Sind der Schafsmann und das Mädchen eine Person? Hat er nur geträumt?
„«Das war ich, den du gesehen hast, kein schönes Mädchen».“ (S.35)
Murakami lässt offen, ob es nur ein Traum war oder Realität. Am Ende ist der Junge alleine.
„Keine Mutter, kein Star, kein Schafmann, kein Mädchen.“ (S.63)
Die Erzählung von Haruki Murakami wird durch Illustrationen, die in schwarz, gold und beige gehalten sind, in einen mysteriös-klaren Stil unterstützt. Umgesetzt wurden diese Zeichnungen von der Berliner Zeichnerin Kat Menschik.
Fazit
Die unheimliche Bibliothek von Haruki Murakami ist surreal, verstörend und von überbordender Fantasie. Der Leser wird buchstäblich in die kafkaeske Erzählung entführt. Mit einfachen Worten schafft Murakami eine Welt, die auf den ersten Blick normal erscheint, doch bereits nach kurzer Zeit die Frage aufwirft, was ist Wirklichkeit und was ist Traum. Fragen bleiben offen: Wohin soll das Labyrinth im Keller der Bibliothek tatsächlich führen? Warum will der Junge etwas über Steuereintreibung im Osmanischen Reich lesen? Warum wollen Bibliotheken das Wissen, was sie verleihen, wieder zurückhaben? Wer ist der Schafsmann? Wer ist das Mädchen?
Murakami gibt keine Antworten auf diese Fragen. Die Interpretation bleibt dem Leser überlassen.
Obwohl die Kurzgeschichte „Die unheimliche Bibliothek“ auf den ersten Blick einfach erscheint, gerät der Leser doch in ungeahnte Tiefen. So wie der Junge es ausdrückt:
„Deine Welt, meine Welt und die vom Schafsmann. Es gibt Orte, an denen sie sich überschneiden.“ (S. 37)