Die Lungenschwimmprobe
Pegau in Sachsen, 1681: Der renommierte Arzt Dr. Johannes Schreyer ist eigentlich auf dem Weg zur Leipziger Messe, als er vom Amtmann Abraham Walther beauftragt wird, den Leichnam eines neugeborenen Säuglings zu begutachten. Die 15-jährige Anna Voigt wird verdächtigt, ihre kleine Tochter gleich nach der Geburt getötet zu haben. Die Stichwunden am Körper des Babys sprechen Bände, doch um auf Nummer sicher zu gehen, legt Schreyer ein Teilchen der Lunge in einen Behälter mit Wasser. Als die Lunge sinkt und nicht oben schwimmt, ist für Schreyer klar: Das Kind hat nie geatmet und war bei der Geburt folglich schon tot. Vorhang auf für die Lungenschwimmprobe - und damit für den neuen Roman des Norwegers Tore Renberg, der in der deutschen Übersetzung von Karoline Hippe und Ina Kronenberger bei Luchterhand erschienen ist.
"Die Lungenschwimmprobe" ist der erste Historische Roman Renbergs, der sich bisher der zeitgenössischen Literatur verschrieben hatte. Auf gut 700 Seiten entfaltet er ein buntes und sprachgewaltiges Panorama des Hochbarock, das sich nicht nur mit der Geburt der modernen Gerichtsmedizin befasst, sondern auch einen detaillierten Blick auf Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg und die Entwicklung des Rechtssystems wirft. Dass dies keine einzige Seite langweilig wird, liegt an der Erzählkunst des Autors und an der ungewöhnlichen Form des Romans.
Wer nämlich einen schlichten Historischen Schmöker erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein, denn Renberg spielt mehr als einmal mit den erzählerischen Konventionen. Hier streut er den Text des damaligen Strafgesetzbuches ein, dort eine Ballade, dann ein Märchen, ein paar Tagebucheinträge und Briefe. Die wohl größte Überraschung ist aber, dass sich der Autor als Ich-Erzähler immer wieder selbst an die Leserschaft wendet. Das kommt am Ende des ersten Kapitels völlig unvermittelt und zieht sich später durch ganze eigenständige Abschnitte. Am brillantesten gelingt ihm die Verbindung zwischen Autor und Materie im bemerkenswerten Kapitel "Der Korridor", als sich bei einem Besuch im Nürnberg der Gegenwart eine Art Zeitfenster öffnet und Renberg plötzlich seinen Romanfiguren gegenüberzustehen glaubt.
Wobei die meisten Figuren des Buches auf historischen Personen beruhen. Allen voran die vermeintliche Kindsmörderin Anna und ihr Anwalt Christian Thomasius, einer der späteren Gründungsväter der Universität von Halle an der Saale. Wenn es so etwas wie eine Hauptfigur in diesem an Personal reichen Roman gibt, dann ist es der umtriebige Jurist, der als einer der ersten Vertreter:innen der Aufklärung eine gewaltige Unruhe in die damals vor sich hin dösende und vom Krieg noch immer traumatisierte Stadt Leipzig brachte. Nicht von ungefähr bezieht sich der Untertitel des Romans auf Thomasius' Wirken: "Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde".
Ein nicht minder bedeutender Verteidiger ist allerdings Tore Renberg selbst, der auf einer Lesung zugab, er fühle sich immer als Anwalt seiner Figuren. Mit großer Empathie nähert sich Renberg der jungen Beschuldigten, über deren Leben es gerade einmal zwei historische Quellen gab - von Thomasius und von Dr. Schreyer. Auch seine Bewunderung für Christian Thomasius ist stets spürbar, ohne dessen Eitelkeit und Narzissmus zu verschweigen.
Ohnehin ist es die Ambivalenz der Figuren, die ein weiteres Qualitätsmerkmal des Romans ausmacht. Anna Voigt ist genauso wenig nur Opfer, wie beispielsweise der Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze nur grausam oder emotionslos ist. Da hätte es bei all dieser thematischen und formalen Vielfalt die blutige und explizit grausame Rachegeschichte von Annas Vater Hans Heinrich in meinen Augen gar nicht mehr gebraucht.
Zu erwähnen ist auch noch die umfangreiche Recherche, die Renberg für das Schreiben des Romans betreiben musste - nachzulesen in einem knapp 50-seitigen digitalen Anhang mit Quellenangaben und historischen Karten. Da ist es schon verwunderlich, dass der Autor "nur" etwa fünf Jahre daran schrieb.
Insgesamt ist "Die Lungenschwimmprobe" ein berührendes, kluges und auch in seiner Form hochspannendes Epos, das nicht nur die Bürger:innen Leipzigs ihre Stadt mit anderen Augen sehen lässt, sondern auch deutlich macht, dass nicht das Mittelalter die grausamste aller Zeiten war.
In der letzten Zeit kommen mir immer mehr Bücher unter, die nicht ganz eindeutig einem Genre zuzuordnen sind, und damit meiner Meinung nach die literarische Landschaft sehr bereichern - aber gleichzeitig die Lesenden herausfordern, sich auf sie tief einzulassen. Um so ein Buch handelt es sich auch bei dem neuen Wälzer von Tore Renberg - das Buch umfasst mehr als 700 Seiten, noch ohne den Anhang, den man sich online runterladen kann - und bewegt sich an den Grenzen zwischen guter Literatur, historischem Roman und Sachbuch.
"Die Lungenschwimmprobe" basiert in vielen Teilen auf realen historischen Tatsachen, die der Autor in jahrelanger akribischer Arbeit in Archiven zusammengetragen, durch viele Details zu den einzelnen Personen ausgeschmückt und zu einem spannend zu lesenden historischen Roman entwickelt hat. Ich habe mich beim Lesen des Buches sehr gut unterhalten gefühlt und gleichzeitig viel über das Leipzig an der Schwelle zwischen Mittelalter und Aufklärung sowie über die Grundlagen der frühen wissenschaftlichen Medizin und Rechtsgeschichte gelernt.
Worum geht es? Die jugendliche Anna, 14 oder 15 Jahre alt, so genau geben das die historischen Quellen nicht her, Tochter eines Gutsbesitzers, wurde vom Knecht geschwängert und hat ein Kind zur Welt gebracht und dieses gemeinsam mit ihrer Mutter in der Erde vergraben. Die Leiche des Kindes wurde vom Dienstpersonal gefunden und Anna als Kindsmörderin angezeigt. Anna bestreitet dies vehement, beteuert ihre Unschuld und gibt an, dass das Kind schon tot zur Welt gekommen sei. Und dass sie außerdem von ihrer Schwangerschaft nichts gewusst habe und von der Geburt, zu diesem Zeitpunkt alleine zu Hause, völlig überrascht worden sei.
Wir befinden uns zeitlich in den letzten Ausläufern des Mittelalters, in einer zutiefst religiös geprägten Gesellschaft, Ende des 17. Jahrhunderts, eineinhalb Jahrhunderte nach Martin Luther und in protestantischem Gebiet, und einige Jahrzehnte nach dem 30-jährigen Krieg, der in der Erinnerung der Menschen immer noch sehr präsent ist. So ist auch das Rechtssystem noch sehr stark durch den Einfluss der Kirche geprägt, Folter, Kerker, letzte Hexenprozesse und die Todesstrafe sind weit verbreitet und werden als vereinbar mit der Religion, ja, sogar als von Gott gewollt angesehen und durch Bibelpassagen gerechtfertigt. Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist verboten, ein uneheliches Kind wird als große Schande für die betroffenen Frauen angesehen, und mit den meisten Frauen, die des Kindesmordes bezichtigt werden, wird kurzer Prozess gemacht, sie werden - ob unschuldig oder nicht - unter Folter zu einem Geständnis gezwungen und danach enthauptet.
Wird es Anna auch so ergehen? Zwei Faktoren sind auf ihrer Seite: einerseits ist sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen mit ähnlichem Schicksal, als Tochter eines Gutsbesitzers aus einer reichen Familie und hat einen liebenden Vater, der sich mit aller Kraft für sie einsetzt und einen Anwalt für sie engagiert, um sie zu verteidigen. Und andererseits zeigen sich neben den letzten Ausläufern des Mittelalters auch schon die ersten Vorboten der Aufklärung und einer rationalen, wissenschaftlichen Herangehensweise, die allerdings erst noch dafür kämpfen muss, sich zu behaupten.
Der Anwalt ist ein junger Mann namens Christian Thomasius, eine reale historische Persönlichkeit, der sich später im Sinne der Aufklärung und der Rechtsgeschichte einen Namen machen wird. Dieser holt unter anderem medizinische Gutachten ein, unter anderem eines des angesehenen Arztes Dr. Schreyer, der bei dem verstorbenen Säugling eine sogenannte "Lungenschwimmprobe" durchgeführt hatte. Dazu gibt es ein reales historisches Dokument, auf das sich der Autor stützt. Der Arzt hatte also das tote Baby obduziert, ihm die kleine Lunge entnommen und diese in Wasser eingelegt und über die Ergebnisse berichtet.
Dahinter stand die Annahme, dass ein Kind, das im Mutterleib verstorben sei, nie geatmet hätte, dadurch die Lunge schwerer sei und im Wasser sofort sinken würde. Während ein Kind, das lebendig zur Welt gekommen und erst danach verstorben sei, eine Lunge hätte, die sich erstmalig mit Luft gefüllt hätte, wodurch diese bei der Lungenschwimmprobe schwimmen und nicht sinken würde. Also ein wissenschaftlich-experimentelles Denken, das für die damalige Zeit sehr innovativ und neu war und dadurch noch nicht von allen anerkannt, auch in medizinischen Kreisen und umso mehr vor den stark religiös beeinflussten Gerichten.
Die Lungenschwimmprobe von Annas Baby geht - das erfahren wir schon ziemlich zu Anfang des Buches - zu Annas Gunsten aus: die kleine Lunge sinkt im Wasser, was auf ein totgeborenes Baby hindeutet. Nur wird das in einer noch so stark vom Mittelalter geprägten Zeit reichen, um die junge Frau vor dem Tode zu bewahren? Damit beschäftigt sich das Buch auf den folgenden vielen hundert Seiten. Und mit noch so vielem mehr.
Wir erleben die Gesellschaft in Leipzig und Umgebung Ende des 17. Jahrhunderts aus vielen Perspektiven mit und begleiten nicht nur das Leben von Anna und ihrer Familie, sondern blicken auch durch die Augen von Annas Strafverteidiger und seiner Familie, lernen den Arzt Dr. Schreyer etwas näher kennen, ebenso wie den Scharfrichter, seine Familie und Lebensumstände, diverse Priester und noch so einige andere Personen. Dadurch entsteht insgesamt ein lebendiges und facettenreiches Gesellschaftsporträt einer spannenden Zeit, das so viel mehr ist als nur die Abhandlung eines Gerichtsfalls.
Mir persönlich hat das Buch außerordentlich gut gefallen, weil es mich eben nicht nur unterhalten, sondern auch gebildet hat und ich das Gefühl habe, dank der umfangreichen Recherche des Autors und des in vielen Bereichen auf historischen Tatsachen beruhenden historischen Romans auch meine Geschichtskenntnisse deutlich erweitert zu haben. Auch zum Nachdenken darüber, was es bedeutet, wenn eine Epoche endet und die nächste beginnt, aber auch, was wir durch den wissenschaftlichen Ansatz gesellschaftlich alles gewonnen haben, regt das Buch sehr an. Von mir bekommt das Buch deshalb verdiente 5 Sterne!
Wem würde ich das Buch empfehlen? Zuerst einmal allen, die sehr an Geschichte, insbesondere Rechts- und Medizingeschichte, interessiert sind, die generell anspruchsvolle Bücher mögen und die sich von Literatur weit mehr erwarten, als nur unterhalten zu werden. Nur mit Vorbehalt empfehle ich es Menschen, die ansonsten fast nur historische Romane, Krimis und ähnliches lesen und bei denen der reine Unterhaltungsaspekt im Vordergrund steht - diese könnten das Buch durchaus an manchen Stellen als langatmig empfinden. Es ist eben deutlich mehr Gesellschaftsporträt als Krimi, und das behandelte Thema und die Epoche werden ausführlich und von vielen Perspektiven umkreist. Für mich macht das eine der herausragenden Qualitäten des Buches aus.
Wer aber mit der Erwartung an das Buch herangeht, einen "typischen" historischen Roman (diese sind oft sehr spannend geschrieben, was aber zulasten geschichtlicher Detailtreue und vielfältiger Perspektiven geht) zu lesen, könnte möglicherweise enttäuscht werden. Es empfiehlt sich jedenfalls, sich vor der Anschaffung genau darüber zu informieren, um was für ein Buch es sich handelt und zu reflektieren, ob man persönlich solche Bücher mag und sich auf so eine umfangreiche und tiefgehende Lektüre einlassen will.
Leipzig/Sachsen im Jahre 1681, der Dreißigjährige Krieg ist vorbei, die Pestwelle überstanden, die Zeit der Aufklärung steht bevor. Doch noch sind die Strukturen verkrustet, die alte, konservative Denkweise vorhanden. Fortschrittlich denkende Menschen werden skeptisch beäugt, ihrem Vorwärtsstreben werden Steine in den Weg gelegt.
In diesen Zeiten steht die fünfzehnjährige Anna Voigt vor Gericht. Sie soll ihr Neugeborenes ermordet und vergraben haben. Es droht ihr das Todesurteil, wie auch den vielen anderen Kindsmörderinnen. Doch Anna hat einen gut betuchten Vater, der sich für sie einsetzt. Als dieser von einem jungen, fortschrittlich denkenden Anwalt hört, engagiert er diesen. Christian Thomasius ist eitel, ein wenig stürmisch und will alte Strukturen aufbrechen. Er übernimmt den aussichtslosen Fall.
Ein Arzt, Dr. Schreyer, wird gefunden, der eine neue wissenschaftliche Methode - die Lungenschwimmprobe - anwenden will, die aber in jener Zeit sehr umstritten ist. Diese Methode soll nachweisen, dass es sich wirklich um eine Totgeburt handelt und nicht um eine Kindstötung.
Doch der Prozess zieht sich hin, ist zermürbend für die Familie Voigt und ihr Geld schwindet. Neid und MIssgunst schüren die Gerüchteküche, zumal Voigt das Gutshof geerbt hat, obwohl er kein Adliger, kein Nachfahre ist.
Tore Renbergs akribisch recherchierter historischer Roman liest sich spannend und informativ. Die Charaktere sind lebendig und die meisten historisch belegt. Am Ende des Buches gibt es einen QR-Code, der einen 46-seitigen Anhang enthält mit Kurzbiographien aller historisch belegten Personen.
Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven, die Lebensumstände der damaligen Zeit sind sehr anschaulich dargestellt. Auch die Zeitebenen wechseln, passagenweise geht es in die Vergangenheit und einmal sogar in die Zukunft, wo der Autor von seiner Reise nach Nürnberg berichtet, um ein Museum über den Scharfrichter Franz Schmidt zu besuchen.
"Die Lungenschwimmprobe, auch Schreyer-Schwimmprobe genannt, gilt als Anfang der modernen Rechtsmedizin.
Die Aufmachung des Buches ist sehr schön, so ist die Innenseite des Buchcovers bebildert.
Die Einteilung des Buches besteht aus Buch 1 bis 6, insgesamt 41 Kapiteln, Prolog, Epilog und Nachschrift, sowie einem Auszug aus dem Strafgesetzbuch von 1532, die sogenannte Carolina.
Der Roman ist ein auch sprachlich anspruchsvoller historischer Roman, gründlich recherchiert und informativ. So wusste ich unter anderem bislang nicht, dass Scharfrichter auch als Heiler fungierten, da sie über anatomisch-medizinische Kenntnisse verfügten.
Ich nenne noch zwei interessante links:
https://www.campus-halensis.de/artikel/die_lungenschwimmprobe/
https://ptaforum.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-092012/der-henker-al...
Vorboten einer neuen Zeit
Während meiner Norwegen-Reise im Sommer 2024 stand ein Buch im Schaufenster nahezu jeder Buchhandlung: "Lungeflyteprøven" von Tore Renberg, erschienen 2023, geschmückt mit durchgängig sechs Punkten auf dem Wertungswürfel bedeutender Feuilletons und monatelang auf der nationalen Bestsellerliste. Nun ist der historische Roman des in Norwegen sehr bekannten Autors, der in Sachsen im ausgehenden 17. Jahrhundert spielt, von Karoline Hippe und Ina Kronenberger fein ausbalanciert zwischen Lesbarkeit und Barockflair auf Deutsch erschienen.
Die Carolina
1681: Das finstere Mittelalter ist vorbei, die Epoche des Hochbarocks jedoch kaum weniger grausam. Noch schmerzen die Wunden des 30-jährigen Kriegs und der Pest, die Macht liegt bei Adel und Klerus. Seit 1532 gilt die Constitutio Criminalis Carolina, das Straf- und Prozessrecht Kaiser Karls V. Diese sieht für Kindsmörderinnen Tod durch lebendiges Begraben, Pfählen oder Ertränken vor, bei Fehlen des unabdingbaren Geständnisses die Folter.
„Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“
Der Untertitel erklärt, worum es in Tore Renbergs 700 Seiten umfassendem Roman geht, zu dem ein 46-seitiger Anhang online verfügbar ist. Im Oktober 1681 brachte die 15-jährige Gutsbesitzertochter Anna Voigt auf Gut Greitschütz am Westufer der Weißen Elster nahe Leipzig ein uneheliches Kind tot zur Welt, ohne dass sie oder ihre Eltern von der Schwangerschaft wussten. Angezeigt von Hausangestellten, die die von Annas Mutter vergrabene Säuglingsleiche fanden, kam der Fall zum Pegauer Amtmann, dem der nicht-adelige Gutsbesitzer und Parvenü Hans Heinrich Voigt schon lange nicht behagte.
Unter den nicht seltenen Fällen angeklagter Kindsmörderinnen sticht der Fall Anna Voigt vor allem aus drei Gründen hervor: Bei der Obduktion der Säuglingsleiche war der angesehene Stadtphysikus von Zeitz, Johannes Schreyer (1631 – 1694) zugegen, der mit dem später nach ihm benannten forensischen Verfahren der Lungenschwimmprobe nachwies, dass es sich um eine Totgeburt handelte:
"Dass derselbe Tag auch den Beginn der modernen Gerichtsmedizin begründen würde, sollte Schreyer nie erfahren." (S. 60)
Außergewöhnlich war auch, dass Annas Vater die finanziellen Mittel und den Willen besaß, einen begabten, kämpferischen jungen Verteidiger zu beauftragen: Christian Thomasius (1655 – 1728). Dieser unbeugsame Rechtsgelehrte, Sohn des Leiters der Leipziger Thomasschule, der seine Heimatstadt später verlassen musste und Mitbegründer der juristischen Fakultät der Universität Halle wurde, scheute nie den gefährlichen Konflikt mit verbohrten Klerikern oder universitären Blockierern und war sofort von der Bedeutung der Lungenschwimmprobe elektrisiert:
"Sobald ein Wissenschaftler mit frischen Gedanken Licht ins Dunkel brachte, kamen die Traditionalisten und verdunkelten wieder alles, sie riefen Ketzer und Atheist, insbesondere in Leipzig, das gerade erst mit Mühe und Not begonnen hatte, ein paar Lichtstrahlen hereinzulassen." (S. 125)
Die dritte Besonderheit war die jahrelange Dauer des für alle Beteiligten grauenvollen Verfahrens.
Ein außergewöhnlicher Historienroman
Tore Renberg hat für seinen ersten historischen Roman fünfeinhalb Jahre lang umfassend recherchiert, oft vor Ort, unterstützt von Experten und Expertinnen verschiedener Disziplinen und weit über den eigentlichen Fall hinaus. Hauptquellen waren die umfangreichen Originalschriften von Johannes Schreyer und Christian Thomasius, ergänzt durch schriftstellerische Fantasie, die sich aus spürbar tiefem Eintauchen in die Zeit und Empathie für die Hauptfiguren bis hin zur Leipziger Scharfrichterfamilie speist. Das Ergebnis hat mich begeistert. "Die Lungenschwimmprobe" nutzt die Geschichte nicht – wie gängige Historienschmöker – als Hintergrundkulisse für Liebesdramen, Ränkespiele und Heldenabenteuer. Vielmehr liest man ein detailreiches, multiperspektivisch erzähltes Gesellschaftspanorama, in dem sogar der Autor selbst über sein Schreiben berichtet.
Am Ende hat man auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise viel über die Gerichtsbarkeit des 17. Jahrhunderts und die Vorboten der Aufklärung am konkreten Beispiel eines tragischen Frauenschicksals erfahren – mit durchaus aktuellen Bezügen zu Wissenschaftsskepsis und Faktenleugnung heute.