Die Flüchtigen

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Flüchtigen' von Alain Damasio
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Flüchtigen"

Sahar und Lorca führen mit ihrer Tochter Tishka ein glückliches Familienleben. Als Tishkas Bett eines Morgens leer ist, obwohl alle Fenster und Türen fest verschlossen sind, verändert sich alles. Während Sahar sich zurückzieht und zunächst an eine Entführung glaubt, geht Lorca einer urbanen Legende nach: Er vermutet, dass Tishka bei den sogenannten Flüchtigen ist, Wesen, die angeblich unerkannt in den toten Winkeln unserer Wahrnehmung leben. Als merkwürdige Symbole an der Wand ihres Kinderzimmers erscheinen, steht fest: Tishka lebt, und sie versucht, zu kommunizieren. Gemeinsam mit Freunden und Weggefährten versuchen Sahar und Lorca Kontakt aufzunehmen, und dringen in eine fremdartige Welt vor, die sich immer dort befindet, wohin wir gerade nicht schauen. Doch je näher sie ihrer Tochter kommen, desto größer wird das öffentliche Interesse an dem Fall, denn bald wird klar, dass die Flüchtigen die Fähigkeit haben, vermeintliche Notwendigkeiten radikal umzudeuten. Tishka wird zur meistgesuchten Person des Landes. Ob sie überhaupt noch eine Person ist oder schon etwas ganz anderes, ist nicht klar. Alain Damasio zeigt einen vom Lobbyismus geprägten Kapitalismus im Endstadium: Überwacht werden wir nicht, um unterdrückt zu werden, sondern damit man uns Dinge verkaufen kann, die uns das Leben in der Überwachung erträglicher machen. Allein die Flüchtigen weisen den Weg aus dem Konsumzwang. Ihre Wandel- und Formbarkeit bildet sich in der Typografie ab, hinter der der Text immer mehr zum Rätsel wird.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:838
EAN:9783751800396

Rezensionen zu "Die Flüchtigen"

  1. Schwindelerregendes Feuerwerk der Ideen

    Damasio hat ein unglaublich vielseitiges, von Ideen nur so berstendes, monumentales Werk verfasst, das mich immer wieder aufs neue überrascht, über weite Passagen angestrengt, dann wieder tief in seinen Bann gezogen, mich emotional berührt und mich nachhaltig beschäftigt hat.

    Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft (2040). Zahlreiche Städte wurden von Konzernen gekauft, Überwachung und Konsum bestimmen das Leben der Menschen in Orange. Die Stadt ist in unterschiedliche Tarifbereiche unterteilt - nur wer über die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten verfügt, hat Zugang zu bestimmten Straßen, Verkehrsmitteln und Plätzen.

    Eines Tages verschwindet die kleine Tishka spurlos aus ihrem Kinderzimmer, zugleich tauchen seltsame Zeichen auf der Wand des Zimmers auf. Zwei Jahre später haben sich die Eltern Sahar und Lorca aufgrund ihrer unterschiedlichen Art mit Schmerz und Trauer umzugehen, auseinandergelebt. Sahar hat die Hoffnung, ihre Tochter zu finden längst aufgegeben, während Lorca besessen von der Idee ist, Tishka könnte zu einer Flüchtigen geworden sein. Bei einer kleinen militärischen Spezialeinheit lässt er sich zum Flüchtigen-Jäger ausbilden und erhofft sich dadurch einen Zugang zu diesen kaum greifbaren Wesen. Damasio nähert sich auf unterschiedliche Weise dem Phänomen der Flüchtigen, die sich der unmittelbaren Beobachtung stets entziehen, sehr wohl aber präsent und mit anderen Sinnen erfahrbar sind. Welchen Vorteil hat Flüchtigkeit in einem Überwachungsstaat? Was bedeutet Leben und Lebendigkeit? Klang, aber auch Haptik erweisen sich als wichtige Zugänge, Flüchtige zu begreifen. Einige Abschnitte lesen sich wie wissenschaftliche Abhandlungen, andere lassen uns eintauchen in die Welt der Philosophie, der Mythologie und der Legenden. Actiongeladene Szenen wechseln sich mit informativen Abrissen über die historische Entwicklung, bildlichen, manchmal skurrilen Alltagsszenen, populistischer Medienberichterstattung und Passagen voll leiser Poesie ab. Stück für Stück lässt Damasio eine dystopische Welt entstehen, die erschreckend, aber gar nicht so weit von unserer Gesellschaft entfernt erscheint. Neben der Suche nach Tishka rücken auch die vielfältigen Widerstandsgruppen und damit gesellschaftskritische Themen, Umgang mit Geflüchteten, Xenophobie, Konsumwahn, Gentrifizierung, Medienkritik, Klimawandel und Naturschutz immer wieder in den Fokus. Das Buch besticht durch seinen Ideenreichtum, seine ungewöhnliche Geschichte und eine Vielfalt der Perspektiven, durch die mehr als eine Deutung möglich ist. Die zahlreichen klugen Wortneuschöpfungen haben mich begeistert; sie eröffnen beim Lesen neue Sichtweisen. Alle Hauptprotagonist:innen haben eine individuelle Ausdrucksform, eine besondere Tonalität, die zeigt, wie versiert Damasio und auch die Übersetzerin mit Sprache umgehen können. Auch die Flüchtigen hinterlassen im Schriftbild und im Text ihre Spuren; sie schleichen sich als Punkte, Bögen, Sonderzeichen ins Schriftbild, fallen durch Wortverdrehungen auf. Die Fülle und Komplexität dieses Romans, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form und im Stil zeigen, macht dieses mehr als 800 Seiten dicke Buch zu einer anspruchsvollen, äußerst fordernden, teilweise sehr anstrengenden Lektüre, die konzentriertes Lesen erfordert. „Die Flüchtigen“ ist kein Buch für zwischendurch, aber ein Werk, das nachhallt und mich in seiner Kreativität, Neuartigkeit und Vielfalt begeistert hat.

  1. Auf der Jagd nach dem perfekten Roman

    Frankreich, im Jahre 2040: Die Großstädte sind überwiegend in den Händen von Privatunternehmen, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Der Widerstand gegen diese Verhältnisse ist klein, aber laut. Auch Lorca und seine Frau Sahar sind Gegner des Systems. Doch viel mehr als die Politik beschäftigt die beiden das Verschwinden ihrer Tochter Tishka, von der es seit mittlerweile zwei Jahren kein Lebenszeichen mehr gibt. Lorcas Verdacht: Tishka ist bei den Flüchtigen. Dabei handelt es sich um für das menschliche Auge nahezu unsichtbare Wesen, die sich in nicht einsehbaren Verstecken befinden. Um Tishka zurückzugewinnen, schließt sich Lorca einer militärischen Einheit von Flüchtigenjäger:innen an - nicht ohne Folgen für sein weiteres Leben und die Ehe mit Sahar...

    Es ist schwierig, etwas über Alain Damasios "Die Flüchtigen" zu schreiben, ohne auf die zahlreichen Überraschungen einzugehen, die dieser Roman bereithält. Der erste ganz offensichtliche Vorteil dieses fast 850 Seiten starken Werks ist schon einmal der Klappentext: Selten zuvor habe ich einen Klappentext gelesen, der so wenig über den Roman verrät. Man kann ihn sogar vor der Lektüre des Buches studieren und weiß wahrscheinlich trotzdem nicht, in welche Richtung sich "Die Flüchtigen" entwickeln wird.

    Im Roman selbst entpuppt sich Damasio als ideenreicher, kreativer Irrwisch, dessen positivem Wahnsinn ich größtenteils sehr gern gefolgt bin. In den Text geworfene Symbole in Form kleiner Punkte, Bögen oder Klammern geben den Leser:innen nicht nur einen Hinweis darauf, welche Figur wir gerade begleiten, sondern machen auch die Befindlichkeiten der Charaktere deutlich. So verwischen die Buchstaben schon mal, werden von traurigen Bögen nach unten begleitet oder stocken, wenn sich die Figur in einer Stresssituation befindet. Das ist tatsächlich atemberaubend, einzigartig und hat eindrucksvolle Auswirkungen auf das eigene Lesen. Denn ich merkte, dass sich auch mein Leseverhalten änderte, ich schneller las, wenn die Figuren außer Atem waren. Schon allein dieses Spiel mit der Schrift, die Möglichkeiten mit der Sprache umzugehen, rechtfertigt die Lektüre von "Die Flüchtigen". Es ist zwar anstrengend, aber man wird für das Durchhaltevermögen belohnt.

    Doch auch inhaltlich weiß Damasios Werk über weite Strecken zu überzeugen. Denn "Die Flüchtigen" ist nicht nur Science Fiction, sondern auch ein Familien- und Gesellschaftsroman, eine Mischung aus Dystopie und alternativer Realität, eine Parabel auf die Ausbeutung der Natur und auf den Umgang mit dem Fremden - in welcher Art auch immer es uns begegnet. Meistens trifft der Autor dabei den richtigen Ton. Seine großen Stärken hat der Roman in den Szenen, in denen sich Lorca und Sahar auf die Suche nach ihrer Tochter machen, aber auch bei der (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Erforschung der Flüchtigen. Trotz der durchweg ernsten Themen schafft es Damasio ganz vorzüglich, immer wieder auch Witz und ein Augenzwinkern in die Handlung zu integrieren.

    Wunderbar ist in dieser Hinsicht zum Beispiel die Szene, als sich Lorca in einem selbstfahrenden "Isotaxi" eine Künstliche Intelligenz als Gesprächspartner bestellt und deren Grenzen mit viel Ironie aufzeigt.

    Bemerkenswert auch eine Sexszene zwischen Sahar und Lorca. Während ich normalerweise kein Freund dieser Szenen in der Literatur bin, da ich sie selten für sinnlich oder erotisch halte, gelingt Damasio tatsächlich etwas ganz Besonderes, indem er die Sprechanteile der beiden Liebespartner:innen einfach mal ineinanderfließen lässt und somit die körperliche Vereinigung auch literarisch ausdrückt.

    Auch die Figurenzeichnung ist gelungen. Insbesondere Sahar mit ihrer Mischung aus Skepsis, vollkommener Liebe zu ihrem verschwundenen Kind und einer gehörigen Prise Rebellentum ist ein starker Charakter. Glaubwürdig auch die unterschiedlichen Tonfälle der Figuren, bei denen man mit der Zeit auch ohne die Symbole fast immer wusste, wen wir gerade begleiten.

    Das klingt im Grunde alles so, als hätte Alain Damasio den perfekten Science Fiction-Roman geschrieben, ein Referenzwerk mit Klassikerpotenzial. Dass dies in meinen Augen dann doch nicht zu 100 Prozent greift, liegt vor allem am letzten Drittel des Buches. Während ich die zärtlichen und poetischen Momente des Romans sehr zu schätzen wusste, gab es mir auf der anderen Seite jedoch viel zu lange actionlastige Abhandlungen über Jagden, Fluchten, politische Angriffe und Gegenangriffe, Verfolgungen und Gewalt. Über einige Stellen bin ich förmlich hinübergerauscht, um sie hinter mich zu bringen. Ein Makel, der bei entsprechender Straffung der Action den Roman bestimmt um mindestens 100 Seiten hätte kürzen können. Einigen Figuren würde ich zudem eine gewisse Geschwätzigkeit unterstellen.

    Als bedauerlich habe ich die zahlreichen sprachlichen Übersetzungsfehler inklusive einiger Wortdoppelungen empfunden. Ich glaube, ich habe zuvor noch keinen Verlagstitel gelesen, in dem so häufig "das" und "dass" verwechselt wurde. Zugute halten muss man dem Verlag und der Übersetzerin aber, dass es wohl äußerst schwierig gewesen sein muss, diesen in Sprache und Darstellung so komplexen Roman angemessen auf Papier zu bringen.

    Kleinere Kritikpunkte eines aber ansonsten in jeder Hinsicht außergewöhnlichen und aufregenden Romans, der nicht nur Science Fiction-Fans, sondern auch literarisch anspruchsvolle Leser:innen begeistern dürfte, die sich mehr Mut und Originalität in der Gegenwartsliteratur wünschen.