Der Reisende: Roman
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Inhaltsangabe zu "Der Reisende: Roman"
Deutschland im November 1938. Otto Silbermanns Verwandte und Freunde sind verhaftet oder verschwunden. Er selbst versucht, unsichtbar zu bleiben, nimmt Zug um Zug, reist quer durchs Land. Inmitten des Ausnahmezustands. Er beobachtet die Gleichgültigkeit der Masse, das Mitleid einiger Weniger. Und auch die eigene Angst.Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Noch nie hat man die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit auf so unmittelbare Weise nachempfinden können. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage.
Erschütternd
Otto Silbermann ist Jude, ein geachteter Geschäftsmann, der jäh erkennen muss, dass er ein Rechtloser, ein Ausgestoßener ist. Lange wollte er es nicht wahrhaben, seinem Sohn gelang noch die Ausreise nach Frankreich. Er zögerte – zu lange! Wer früher ein honoriger Geschäftspartner war, zeigt nun sein wahres Gesicht. Für lächerliche Summen kaufen sie ihm sein Geschäft ab und verhöhnen ihn dabei noch. Eine Woche lang reist Silbermann mit dem Zug durch Deutschland, immer auf der Flucht, er weiß nicht wohin, seine Wohnung verwüstet, eine Ausreise nicht mehr möglich, die Hatz auf Juden in vollem Gang. Die Verzweiflung überkommt ihn, immer mehr verliert er sich. „Ich werde mich verhaften lassen, dachte er. Ich werde zur Polizeiwache zurückgehen. Man soll mich festnehmen. Der Staat hat mich ermordet, er soll mich auch beerdigen.“
Alexander Boschwitz hat diesen Text schon 1939 verfasst. Er wurde in Deutschland nie veröffentlich, denn Boschwitz war selbst Jude und auf der Flucht. Das gibt diesem Roman eine Authentizität und Dichte, der ich mich nicht entziehen konnte. Auch Boschwitz‘s Flucht führte ihn durch ganz Deutschland und Europa, bis er bei einem Torpedoangriff ums Leben kam. Er kannte die Angst des Gejagten, des Heimatlosen aus eigener Anschauung, sicher ist vieles davon in seinen Roman eingeflossen.
Besonders beeindruckt hat mich die Beschreibung der Verfolgung. Was in Geschichtsbüchern und Dokumentationen beschrieben wird, bleibt oft abstrakt. Hier, mit dem Schicksal eines Einzelnen bekommen der Wahn, die aberwitzigen Vorurteile und die Ausflüchte ein Gesicht. Wenn langjährige Geschäftspartner ihren wahren Charakter zeigen, sein Judentum als Ausrede für Betrug herhalten muss und Silbermann sich nicht wehren darf, spürt man die Verzweiflung. Nicht nur seine materielle Grundlage wurde zerstört, man hat ihm sein Recht auf eine Existenz genommen. Seine Bahnfahrten werden immer verzweifelter, die Persönlichkeit des Protagonisten wird zerstört.
Dieser Eindringlichkeit konnte ich mich nicht entziehen. Manchmal musste ich das Buch sinken lassen und für einige Minuten pausieren. Es ist gut, dass dieser Text nun endlich bei uns erschienen ist.