Der Geliebte der Mutter (detebe)

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Geliebte der Mutter (detebe)' von Urs Widmer
5
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Inhaltsangabe zu "Der Geliebte der Mutter (detebe)"

Der Geliebte der Mutter (detebe) * Aufl. 2000 * Versand innerhalb 24h, Rechnung mit ausgewiesener MwSt, zuverlässiger Service

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:144
EAN:9783257233476

Rezensionen zu "Der Geliebte der Mutter (detebe)"

  1. 5
    06. Okt 2016 

    Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben

    Urs Widmer ist ein 2014 verstorbener Schweizer Schriftsteller, der ein sehr vielseitiges Werk hinterlassen hat. Der hier beschriebene recht kurze Roman ist Teil einer pseudo-autobiografischen Trilogie, dessen zwei andere Bände sich mit Vater (Das Buch des Vaters) und dem eigenen Ich des Schriftstellers(Ein Leben als Zwerg) befassen – erschienen im Zeitraum 2000 bis 2006. Etwas Pseudoautobiografisches zu schreiben ist sicher nichts, was mich persönlich als Leser anzieht. Allzu oft stellt sich mir dann die Frage nach Dichtung und Wahrheit. Und so habe ich es wohl gut getroffen, dass ich das Buch nicht im Wissen der pseudoautobiografischen Wurzeln gelesen habe, sondern als zeitgeschichtlich stimmige Lebensbeschreibung einer fiktiven Person.
    Die Hauptfigur des Romans – die Mutter – bleibt ihr Leben lang im Bann ihrer innigen Liebe zu einem berühmten Dirigenten. Sie lernt ihn kennen in den 20er Jahren in der Schweiz, als er noch erfolglos, im Banne der Kunst und Musik ein Orchester aufbaut und leitet, das sich Musikstücken abseits des klassischen Musikkanons verschrieben hat. Sie erledigt Organisatorisches und Administratives für dieses Orchester und zieht so mit ihm und den Musikern durch die Lande. Sie erlebt die sich einstellenden Erfolge des Orchesters genauso wie eine kurze menschliche Annäherung an den immer berühmter werdenden Dirigenten. Die wenigen gemeinsam verbrachten Nächte sind für sie zukünftig Sternstunden ihres Lebens, für ihn aber wohl eher etwas nebenbei Erlebtes. Noch als der Dirigent längst reich und berühmt ist und verheiratet mit einer anderen in einer Villa am See wohnt, bleibt sie - selbst verheiratet mit einem Mann aus einem ganz anderen gesellschaftlichen Umkreis - fasziniert von diesem Mann und beobachtet ihn von der anderen, der weniger reichen Seite des Sees aus so intensiv, dass sie sich immer mal wieder bis zum Bauch im Wasser stehend wiederfindet. Der Sohn, aus dessen Sicht dieses Leben der Mutter erzählt wird, kennt diese immerwährende Leidenschaft der Mutter sein Leben lang und beobachtet zum Beispiel die jährliche Anlieferung einer Geburtstagskarte mit einer einzelnen Orchidee als Indiz für die Ernsthaftigkeit des Gefühlsbandes zwischen Mutter und dem „geliebten“ Dirigenten. Da allerdings hat der Leser den Erzähler schon längst überholt und hat aus den Schilderungen erkannt, dass es sich hier um ein vollkommen einseitiges Gefühlshoch auf Seiten der Mutter handelt. Und als dann plötzlich in einem Jahr die Blume zum Geburtstag ausbleibt, ist das – so erfahren Erzähler und Leser später - nicht Ausdruck einer nach Jahren dann doch erkaltenden Leidenschaft, sondern schlicht und einfach Resultat eines Personalwechsels im Sekretariat des Dirigenten. Und so weiß der Leser schon sehr bald, dass der Roman auf keinen Fall auf ein Happy End zusteuern kann. Das voneinander entfernte Leben der beiden bleibt bis zum Ende voneinander entfernt. Beide sterben ohne eine Annäherung zueinander zu erleben und so wird der Roman zu einem Roman über Gefühle und deren Auswirkungen, aber eben nicht zur Liebesgeschichte. Und das alles ist er auf eine sehr sachliche und unterkühlte Art und Weise. Das Leiden der Mutter hat der Sohn eben nicht mit dem Blick auf „was wäre wenn“ erlebt und beschrieben, sondern in seiner Sichtweise auf seine augenscheinlich leidende und sehnsüchtige Mutter.
    Die Lebensgeschichte der Mutter ist dabei vom Autoren sehr kunstvoll eingebunden in die zeitgeschichtlichen Ereignisse des 20ten Jahrhunderts ab den 20er Jahren, die immer wieder den farbigen und anregenden Hintergrund bilden. Widmer schafft dabei Sätze, in denen die Zeit zu verfliegen und gleichzeitig eingefroren erscheint. Das Tempo des Romans ist so schwer zu greifen, hält den Leser aber immer sehr stark im Bann.
    „Ab und zu stand sie am Fenster und sah zum Wald hinüber. Selten aber, eher selten. – So lebte sie. Hitler griff Rußland an, und die Mutter setzte Zwiebeln. Hitler näherte sich Moskau. Die Mutter riß Rüben aus. Rommels Panzer jagten die Panzer Montgomerys durch die Sahara. Die Mutter stand im Rauch eines Feuers, das alten Ästen den Garaus machte. Hitler erreichte den Don. Die Mutter zwischen hohen Maisstauden.“
    Mein Fazit:
    Die Faszination des Buches liegt in der Stärke des Autoren Widmer und an seiner aus der Distanziertheit heraus zielgenau treffenden Sprache. Die Geschichte ist es wohl eher nicht, die den Leser stark in den Bann ziehen kann. Aber wenn ein Roman beginnt mit den Worten:
    Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben. Er war steinalt, kerngesund noch im Tod. Er sank um, während er, sich über ein Stehpult beugend, eine Seite der Partitur der Sinfonie in g-Moll von Mozart umblätterte.“
    Dann ist der Sog hergestellt schon ab der ersten Seite und er hält an zu wirken bis ans Ende, wenn der Roman schließt mit:
    „Später saß ich noch ein paar Stunden lang vor dem Fernseher und sah mir die Sondersendung zum Ableben Edwins an. Die Stationen seines Lebens, seine Leiden und Triumphe. ‚Eine Jahrhundertfigur‘ Ich sah Edwin mit Bartok, Edwin mit Strawinsky, Edwin mit der jungen Queen of England, und einmal in einem Schwenk über das Publikum der Stadthalle, in der Mitte des Balkons, fern, sekundenschnell, einen Schatten, der meine Mutter sein mochte.“
    Ich vergebe 5 Sterne.
    Der Roman ist wie das weitere Werk Widmers erschienen im Diogenes Verlag (detebe 23347).