In den Wald
Eines Tages verschwand Silvia spurlos, nachdem sie in die Zeitung geschaut hatte. Darin war vom Tod ihrer Schülerin Giovanna zu lesen. Mit knapp zwölf Jahren war die vom Leben in der Pubertät überfordert gewesen.
„Giovanna fühlte sich, als hätte sie jemand reingelegt. Sie hatte nicht absichtlich angefangen zu wachsen; getrieben, versuchte sie, sich im Gleichgewicht zu halten, es war nicht ihre Schuld, wenn sie stolperte. An einem Tag steckte sie sich eine Kippe in den Mund, am nächsten fügte sie sich folgsam dem Nachhilfeunterricht der Lehrerin“ (Seite 41)
Silvia hatte sich dem Mädchen besonders angenommen, fühlte sich jetzt jedoch schuldig. Während die Menschen aus ihrem Heimatdorf sie erfolglos suchten,
„tat sie gar nichts, sie blieb sogar völlig reglos, sie verwandelte sich langsam in eine Pflanze, ein Stück Wald.“ (Seite 107)
Als Martino, ein aus Turin zugezogener Junge sie zufällig fand, bat sie ihn, nichts zu verraten und brachte ihn damit in schwere Gewissenskonflikte.
Der Blick ins Innenleben der Protagonisten ist die Stärke dieses ungewöhnlichen, in Piemont spielenden Debüts. Wie die Autorin am Ende anmerkt, hat sie sich von realen Geschehnissen inspirieren lassen.
Für mich war es ein ungewohntes Leseerlebnis. Die kurzen Kapitel erleichterten und erschwerten das Lesen gleichzeitig, da sie mich jedes mal in andere Situationen warfen. Doch ebenso schnell stellte sich die neuerliche Orientierung wieder ein. Die bildhafte Sprache ließ mich die Gefühle der Personen nachvollziehen und baute gleichzeitig eine diffuse Spannung auf, die es mir schwer machte, das Buch zur Seite zu legen.
Fazit: Ein Buch, das einen guten Einblick in die Köpfe von Menschen gibt, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind und Familienbeziehungen beleuchtet. Für Leser, die neben der Natur eine poetische Sprache lieben!
Als die Lehrerin Silvia aus der Tageszeitung vom Tod ihrer elfjährigen Schülerin Giovanna erfährt, gibt es für sie nur eine Entscheidung: Sie kann jetzt nicht in die Schule gehen, sondern sucht Unterschlupf im Wald. Dort, wo sie selbst schon als kleines Mädchen mit ihrem Cousin Anselmo gespielt hat, jeden Baumstumpf kannte, jedes Tier. Sie fühlt sich schuldig, hatte sie doch noch kurz zuvor einen Anruf bei der Mutter Giovannas getätigt. Wie lebt es sich mit diesen Schuldgefühlen? Und wie verschwindet man als Erwachsener eigentlich am besten, wenn man gar nicht gefunden werden möchte? Darüber und über so viel mehr schreibt Maddalena Vaglio Tanet in ihrem Debütroman "In den Wald", der in Italien für den Premio Strega nominiert war und in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki bei Suhrkamp erschienen ist.
Sofort ins Auge sticht die stilvolle Covergestaltung mit dem herbstlichen Wald und der überproportional großen Schrift, die an den italienischen Giallo erinnert und die Leserschaft damit unmittelbar in den Herbst 1970 katapultiert, den Zeitpunkt der Romanhandlung. Wer nun allerdings auf Thriller- oder gar Horrorelemente hofft, wird enttäuscht, denn Maddalena Vaglio Tanet setzt vielmehr auf eine sich still und langsam entwickelnde Handlung. Auch wenn Silvia durchaus ihre Gespenster sieht.
Dabei ist es nicht nur der Wald als Handlungsort, der dem Roman eine märchenhafte Komponente verleiht. Wenn Silvia und Anselmo als Kinder allein durch ihn streifen, um Pilze zu sammeln, meint man im Hintergrund die Hexe in ihrem großen Lebkuchenhaus zu wittern. Und natürlich gibt es auch einen Helden: Vorhang auf für den elfjährigen Martino, dessen magische Fähigkeiten sich allerdings darauf beschränken, auf seine innere Stimme zu hören und sich mit Herz und Verstand den zahlreichen Gefahren des Waldes - und des Lebens - zu stellen.
Denn so viel sei verraten: Letztlich ist es Martino, der die Lehrerin im Wald findet. Ein kleiner Asthmatiker aus Turin, der wegen seiner Krankheit und der besseren Luft seinen Weg in diese ländliche Umgebung des Piemont gefunden hat und sich nun dem Dilemma ausgesetzt sieht: Was macht man mit einem Menschen, der gar nicht gefunden werden möchte? Noch dazu eine Lehrerin...
Wie Maddalena Vaglio Tanet dieses Dilemma in Szene setzt, wie sie sich hineinfühlt in Martino, Silvia und die zahlreichen anderen Nebenfiguren, ist ganz große und herzerweichende Kunst. Ganz besonders erstaunlich ist dabei ihr Gefühl für die Kinderfiguren, deren Zweifel und Ängste sie in jedem Moment greifbar macht. So ganz nebenbei gelingt ihr mit Martino dabei eine der wohl liebenswertesten Jungenfiguren der jüngeren zeitgenössischen Literatur. Hier spürt man, dass Vaglio Tanet in Italien bereits Kinderbücher veröffentlicht hat. So vorsichtig wie zärtlich nähern sich die beiden Hauptfiguren einander an: sie, die alleinstehende Lehrerin, die für die Schule lebt und er, der Junge, der die große Stadt und seine Freunde vermisst. Zwei einsame Außenseiter:innen, deren Leben durch die Begegnung im Wald eine dramatische Wendung nimmt.
Auch sprachlich hervorragend ist zudem die Schilderung des Waldes, der wie eine eigene Figur Raum einnimmt. Dieser Wald, zugleich Schutz und Gefahr, wird nicht nur durch seine Bewohner, die Tiere und Pflanzen, charakterisiert, sondern repräsentiert in seiner Undurchdringlichkeit auch so etwas wie die inneren Kämpfe Silvias, ihre Zweifel, Schuldgefühle, aber auch ihre Verantwortung gegenüber Martino.
"In den Wald" glänzt zudem durch enorme doppelschichtige Erzählkunst. So sind es die Geschichten, die sich die Figuren gegenseitig erzählen, die im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig sind. Aus ihnen zieht Martino seine Kraft, sie sind es auch, die den Lebensmut Silvias nicht versiegen lassen. Insgesamt schafft Vaglio Tanet ein so buntes und liebenswertes Potpourri aus Figuren und Geschichten, dass es "In den Wald" mühelos auf die Liste meiner Lieblingsbücher des Jahres geschafft hat.
Möchte man etwas kritisieren, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass der Roman das Todesopfer Giovanna, das charakterlich an die "Malnata" von Beatrice Salvioni erinnert, etwas zu früh aus den Augen verliert. Doch letztlich ist es natürlich Martino, der auch hier die passende Antwort parat hat. Schließlich sind es die Lebenden, die wichtig sind und um die man sich kümmern muss. Wie ein echter Held aus dem Märchen.
"In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet ist in seiner Gesamtheit ein hinreißender und warmherziger Roman, der unter den jetzt zahlreich erscheinenden Übersetzungen aus dem Italienischen hoffentlich auch auf der Frankfurter Buchmesse für Furore sorgen wird. Verdient hätte er es allemal.
Das Buch "In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet heißt im italienischen Original "Tornare dal bosco", also "Aus dem Wald zurückkehren".
Genau darum geht es in diesem atmosphärischen Buch: über das metaphorische und tatsächliche Verschwinden in den Wald, nachdem etwas Schreckliches passiert ist. Und die Möglichkeit, irgendwann wieder zurück zu kehren in die Gesellschaft - oder nicht.
Das Buch spielt in ländlichen Gebieten im Piemont, im Nordwesten Italiens, und in den 1970er Jahren. Hier lebt und arbeitet die engagierte Lehrerin Silvia, sie ist zwar durch Verwandte sozial gut eingebunden im Ort, aber selbst unverheiratet, ohne Partner und kinderlos. Umso mehr steckt sie all ihre Energie in ihren Beruf und die Förderung und liebevolle Begleitung ihrer Schülerinnen und Schüler ist ihr ein Herzensanliegen.
Besonders am Herz liegt ihr die elfjährige Giovanna, die es noch nie leicht hatte im Leben, aus einer eher armen, kinderreichen Familie stammt, wenig gefördert wird, piemontesischen Dialekt spricht und sich mit Standarditalienisch sehr schwer tut und generell jedes Schuljahr darum kämpfen muss, dieses zu bestehen. Silvia fördert und unterstützt ihre Schülerin schon seit vielen Jahren zusätzlich zum Unterricht. Frühzeitig in der Pubertät angekommen, beginnt Giovanna gegen alles und jeden zu rebellieren, nimmt die Schule nicht mehr ernst... und dann geschieht das Unglück.
Zutiefst bestürzt über diese Nachricht, gibt sich die Lehrerin Silvia eine Mitschuld daran und verschwindet, von Emotionen überwältigt, in den Wald. Die Menschen aus dem Ort stellen Suchtrupps zusammen, um ihre geschätzte Lehrerin wieder zu finden, doch Silvia will nicht gefunden werden und bleibt unauffindbar. Je länger dieser Zustand andauert, umso unwahrscheinlicher scheint eine Rückkehr zu sein...
Das Buch ist sehr leicht und angenehm zu lesen. Es ist in kurze Kapitel unterteilt und die Autorin schreibt auf eine Art und Weise, die einen sofort packt und den Lesenden das Gefühl gibt, tatsächlich im Piemont der 70er Jahre dabei zu sein. Nebenbei lernt man noch so einiges über diese Region und diese Zeit, zum Beispiel über die immer noch spürbaren Nachwirkungen des 2. Weltkrieges, über soziale Unterschiede und solche zwischen Stadt und Land und vieles mehr.
Neben Silvia werden auch einige weitere Personen vorgestellt und es wird auch aus deren Perspektive erzählt, etwa der etwa 11-jährige Martino, der wegen seines Asthmas gemeinsam mit seiner Mutter aus Turin in diese ländliche Gegend mit besserer Luft ziehen musste und die Großstadt und seine Freunde sehr vermisst.
Ich mag auch die Metaphern sehr, mit denen dieses Buch spielt. Es lässt sich einerseits auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens lesen. Andererseits ist das "in den Wald gehen" und "sich aus der Gesellschaft rausnehmen" aber auch eine sehr treffende Metapher für das Trauma und die grenzenlose Überforderung, die Menschen nach einem plötzlichen Todesfall völlig überwältigen können, umso mehr, wenn es ein Kind ist, das gestorben ist.
Thematisiert wird auch die Rolle der Lehrerin und was von einer solchen erwartet wird - und der Bruch, der damit einhergeht, diesen auf einmal nicht mehr zu entsprechen, nicht mehr für die Schülerinnen und Schüler da zu sein, sondern ohne Erklärung spurlos in den Wald zu verschwinden.
Sehr interessant sind auch die verschiedenen sozialen Rollen in den 70er Jahren, die dargestellt werden: es gibt verheiratete Frauen, die mehr oder weniger glücklich und mehr oder weniger treu sind... eine ältere Frau, die auf die baldige Legalisierung der Scheidung hofft, um sich endlich offiziell von ihrem Mann trennen zu können... und eben die Lehrerin Silvia, die ein unabhängiges Leben ohne Mann an ihrer Seite und ohne Kinder führt, und sich nur ihrem Beruf verschrieben hat.
Das Buch regt also auf vielen Ebenen zum Nachdenken und Mitfühlen an. Besonders spannend ist, dass es, wie man im Nachwort erfährt, auf einer wahren Geschichte aus der Familie der Autorin beruht. Ich kann es allen, die sich für gute Literatur interessieren, wärmstens empfehlen.
Im inneren Wald verschwinden
Der Grundschullehrerin Silvia liegt Giovannas Schicksal besonders am Herzen. Liebend gerne würde sie ihrer Lieblingsschülerin nur gute Noten geben, sie so zum Lernen motivieren. Doch die Teenagerin scheint keine Lust mehr auf Schule zu haben, scheinbar gleichgültig reagiert sie auf ihre schlechten Noten, obwohl sie genau weiß, dass ihr Vater sie dafür hart bestrafen wird.
Das Gespräch der besorgten Lehrerin mit Giovannas Mutter hat fatale Folgen; die 11-jährige Giovanna nimmt sich das Leben. Und ihre Lehrerin Silvia verschwindet danach spurlos. Die Suche nach ihr bleibt erfolglos.
Eine außergewöhnliche Geschichte erzählt Maddalena V. Tanet in ihrem Debütroman „In den Wald“. Giovannas Selbstmord erschüttert ihre Familie und die ganze Schulgemeinschaft. Auch Silvias spurloses Verschwinden wirft viele Fragen auf, die erfolglose Suche nach ihr zerrt an den Kräften der ratlosen Bewohner der kleinen Ortschaft im Piemont. Mit viel Feingefühl erzählt die Autorin über die außergewöhnlichen Ereignisse, die die kleine Ortschaft in Aufruhr gebracht haben. Der tragische und zugleich mysteriöse Plot fesselt und die wunderbare, bildgewaltige Sprache lässt einen in die Geschichte versinken.
Sowohl die lebendigen Bilder der Natur, wie auch die authentisch wirkenden Charaktere machen neugierig auf den Fortgang der Geschichte, die eine unglaubliche Sogwirkung entwickelt. Genauso wie Silvia wollte ich in dem ruhig wirkenden, friedlichen Wald länger verweilen, zusammen mit ihr in ihre spannenden Erinnerungen eintauchen.
Sehr interessant fand ich die übrigen Charaktere des Romans; alle zusammen bilden sie ein gelungenes Porträt einer Gemeinschaft, die seit Jahren in dem kleinen Ort zusammenlebt, Freuden und Schicksalsschläge miteinander teilt.
Fazit: ein großartiger Roman über ein tragisches Ereignis, das tiefe Spuren im Leben der Protagonisten der Geschichte hinterlassen hat. Emotional und tiefgehend, meisterhaft erzählt, ein wahrer Lesegenuss!