Das eiserne Herz des Charlie Berg: Roman

Kurzmeinung: Der Autor kann was. Aber es gibt eine Menge aber.
Charlie Berg hat eine Menge Probleme, die er mehr oder weniger stoisch abarbeitet. Die Idee des Buches ist wunderbar. Ein olfaktorisch außerordenlich begabter Protagonist, das zieht! Charlie ist ein sehr sonderbarer junger Mann, herzkrank, mit der Nase eines Spürhundes versehen, mit vielen sonderbaren Freunden und Liebeswehen, der Schriftsteller werden will, aber eine durchgeknallte Familie an der Backe hat. Der Weg zum Erfolg führt über ein Leseevent, bei dem er mitmachen und womöglich gewinnen muss.
Der Autor beweist reichlich Fantasie in der Erschaffung von schrägen Typen und schiefen Situationen. Ich amüsiere mich sehr. Allerdings nimmt mein Lesevergnügen mit der Zeit ab, wenn Charlie zum xten Mal am Schritt der Frauen und Männer riecht, wer mit wem Sex hatte. Das ist die ersten Male lustig, wird aber schnell langweilig. Meine Augenbrauen könnten nicht höher wandern.
Der Autor strickt seine Geschichte geduldig und ausufernd. Die Geschichte zieht sich jedoch wie Kaugummi. „Ich atme tief durch“. Nicht, dass der Autor nicht originell dabei wäre oder die rote Linie verlieren würde– er ist originell und er hat die Story im Griff, aber er scheint auch selbstverliebt in jeden Satz, in jede Szene. Hätte er seinen Roman gekonnt einkürzen lassen, so wie Charlie seine Kurzgeschichte für den Lesewettbewerb hat kürzen lassen, es wäre so viel besser geworden!
Der Stil ist flippig. Teilweise ein Lesegenuß, aber teilweise auch drüber. Gelegentlich zotig. Oft zotig. Viel zu oft zotig. Viel zu oft drüber. Von allem zu viel. Und zu viel nutzt sich ab. Meine Lieblingsfloskel wird bestimmt hundert Mal verwandt. Floskeln, leere Redewendungen, haben in einem guten Buch nichts zu suchen. Aber auch rein gar nichts. Inhaltlich ist ist der Roman nicht nur skurril. Im Skurrilen wird Ernstes erzählt. Na ja, was heißt ernst? Im Prinzip wird der Literaturbetrieb auf die Schippe genommen. Das ist ein Mega-Plus. Das Zotige ist ein Mega-Minus! (Regieanweisung: das ganze Kapitel 4 ist für die Tonne. Masturbierende Jugendliche interessieren mich Null). Der Schluss ist überkonstruiert - wie könnte es auch anders sein. Etwas anderes hätte nicht zum Buch gepasst, hat mir aber nicht zugesagt.
Fazit: Moderne, zum Teil wirklich originelle Erzählweise mit skurrilem Personal und zynischer Kritik am Literaturbetrieb. Allerdings ein furchtbar ausufernder Roman, der mich als Leserin deshalb im Fortgang der Erzählung vollkommen verloren hat. Der Elan war weg. Die Geschichte trug nicht mehr. Sehr schade.
Kategorie: Belletristik: 1 Punkt
Kategorie: Gute Unterhaltung: 4 Punkte
Verlag: Berlinverlag 2020
Supernase und Kleinstadtidylle
Das eiserne Herz des Charlie Berg, oder wie eine Supernase aus kaputter Familie auf ein Rasseweib mit lockerem Schlüppergummi trifft und das Herz eines Wortkünstlers klaut. Naja, nicht ganz so plakativ, aber doch schon ganz schön nah dran, nur viel unterhaltsamer!
Charlie Berg ist auf dem Weg, erwachsen zu werden. Mit einem Gewehr kann er schon umgehen, seine Eltern sind ständig anderweitig beschäftigt und so nimmt ihn sein Opa kurzerhand mit auf die Jagd. Dumm nur, dass es dort zu einem Unfall mit einem Wilderer kommt, sein Opa dabei draufgeht und der totgeglaubte Wilddieb noch ins Auto klettern kann und eine Menge Kohle im Handschuhfach spazieren fährt.
Eigentlich wollte Charlie ja seinen Ersatzdienst auf einem Leuchtturm im Wattenmeer antreten und in Ruhe ein Buch schreiben, jetzt aber muss er erst einmal vortäuschen, nicht im Wald gewesen zu sein. Zuhause wartet noch eine kleine Schwester mit Savantbegabung und ein stets bekiffter Vater im Keller auf ihn. Er hat alles im Wald gefilmt und muss dieses delikate Beweisstück unbedingt außer Landes zu seiner mexikanischen Brieffreundin schicken. Sein ganzes Leben teilt er so mit Mayra, seit er sie als Kind in seinen Sommerferien kennengelernt hat, jetzt aber irgend so einen blöden Machomexikaner heiraten will.
Nun, es kommt alles anders, als man denkt und auf siebenhundert Seiten erfahren wir nicht nur mehr über Charlies bemerkenswerter Familie, sondern auch über den ereignisreichen Sommer mit Mayra im Baumhaus (und darunter), über Charlies außerordentlicher Riechbegabung, einem sprachgewandten Freund und überhaupt allen Beteiligten in seiner näheren Umgebung. Denn die scheinen wie aus der Gilmore-Girls-Kleinstadt geklaut und bilden eine Bilderbuch-Idylle, samt Baumhaus und Hirschgulasch-Abenden. Die Dramazutaten sind eine saufende Mutter und Charlies allzu schwaches Herz. Der Höhepunkt läuft auf ein Talentwettbewerb für Autorendebüttant*innen hinaus. Hier trifft alles zusammen, was im Laufe der Zeit verschmäht, bereut, vernachlässigt und geplant wurde.
Vielleicht kann man dem Roman ein bisschen zuviel Schmuddelzeug, Unwahrscheinlichkeiten und Kriminalität, die sich in Wohlgefallen auflöst, vorwerfen (schließlich ist da auch noch Charlie, der mit dem Tod ziemlich locker umgeht), aber wenn man ihn ein wenig in die reale Phantasitk rückt, nicht alles bierernst nimmt, dann ist dieses Werk ein gelungener Sex-Drugs-'n'-Rock-'n'-Roll-Schmöker für die Junggebliebenen unter uns.
Ich habe das Buch trotz ein paar "verschämt-die-Augen-zuhalte"-Momenten gern gelesen und mich gut unterhalten gefühlt. Imponiert haben mir die Wortfindungen von Charlies Freund, Charlies Supernase und was er alles "herausgerochen " hat und die ganze Belegschaft, die über die ganze Geschichte (bis auf wenige Abgänge) zusammengehalten hat.