Obwohl Gibson nie Interesse an Science Fiction hatte (aber dafür mehr an Kleidung, Accessoires, Dekoration und Raumgestaltung) ist er mit seinem Roman Neuromancer zum Erfinder des Cyberpunks geworden: einer Welt durchwachsen mit gesetzlosen Sprawls und multinationale Großkonzernen, welche die wahre Macht innehaben. Aber wenn es wirklich notwendig war, einen neuen Begriff für Gibsons Science-Fiction zu erfinden, dann war Cyberpunk eine schlechte Wahl, denn - Fun Fact! - Computer waren für ihn nie wichtig, und der Name wurde zu einem weiteren Faktor, der potenzielle Nachahmer in die Irre führte, die versuchten, seinen Erfolg zu kopieren. “Technology Fiction", das den Schwerpunkt seines Romans auf die Produkte der Wissenschaft und nicht auf die Ideen dahinter legt, wäre vielleicht angemessener gewesen. Mit einer Selbstoffenbarung antwortete im April 2010 Gibson auf seinem Blog auf eine Leserfrage: "Ich bin eher ein Interpret von Technologien, ein Amateur-Anthropologe. Ich bin so etwas wie ein viktorianischer Wochenend-Naturforscher der Technologie.” (https://web.archive.org/web/20100418124053/https://williamgibsonbooks.co...)
Und so wurde der Cyberspace für Gibson, was die Raumschiffe von anderen waren - denn er konnte sich nie mit Außerirdischen anfreunden, außer als Hilfsmittel, um unser Verständnis der Menschheit zu verbessern. Andererseits wusste Gibson, dass Künstliche Intelligenz und außerirdisches Leben Themen waren, die vom typischen Science-Fiction-Leser geschätzt wurden. Nach dem außerordentlichen Erfolg seines ersten Romans Neuromancer hatte es der selbstbewusstere Gibson weniger nötig, seine Romane mit solchen überdrehten Konzepten auszuschmücken. Auch der Weltraum war für ihn ein untergeordnetes Thema: Der zweite Roman der Sprawl-Trilogie war der letzte Roman, in dem William Gibson einen Protagonisten in den Weltraum schickte. Für Gibson war das Tagesgeschäft der Protagonisten wichtiger und so konzentrierte er sich in den nachfolgenden Romanen mehr auf die Charaktereigenschaften und -beschreibungen.
Und so kommen wir nun zum zweiten Band der Sprawl-Trilogie, der, wie auch schon der erste Roman, ein Rubikwürfel ist, der nach und nach langsam wieder in seine ursprüngliche Form gedreht wird. Ist es anfangs noch ein Rätsel, was die drei Handlungsfäden um den blutigen Anfänger Bobby Newmark alias Count Zero, den Superprofi-Söldner Turner und eine ambitionierte Kleinkunst-Agentin namens Marly Kruschkowa verbindet, schafft es William Gibson die Neugier des Lesers zu fangen und wieder in die Welt der Zukunft zu werfen. Sieben Jahre später nach den Ereignissen des ersten Romans folgen wir diesen drei Protagonisten. Turner ist hier ein deutlich selbstbewusster und erwachsener Charakter als Case im ersten Roman. Bobby Newmark hingegen ist das pure Gegenteil von Case: als blutiger Anfänger wird er durch einen Test der Oberbosse plötzlich in das Profigeschäft der Cyberspace Gangster hineingezogen und beginnt zu verstehen, dass selbst diese ihn leben lassen, weil sie wissen wollen, was passiert ist. Wie jetzt der Auftrag des ultra-reichen Josef Virek an Marly Kruschkowa, den Erfinder eines Kästchens zu finden, in diese Geschichte passt, ist ein wesentlicher Kunstgriff, der diese Geschichte interessant macht.
Um den zweiten Roman zu verstehen, muss ich hier einen weiteren Aspekt einbauen, den Gibson im Nachfolger zu Neuromancer klar stellt: Es ist eine Revision seines ersten Romans. So spekulieren die Protagonisten, was denn die Voodoo Götter seien, und wer den ersten Roman gelesen hat, der weiß, es handelt sich um die künstliche Intelligenz, die aus Wintermute und Neuromancer entstand. Sie ist fragmentiert und die einzelnen Fragmente geistern als eben jene Splitter in der Matrix herum. Und Bobby Newmark bekommt zumindest eine Erklärung, worum es sich bei diesen Voodoo (Göttern) handelt: Es hat nichts mit Erlösung oder Transzendenz zu tun, es geht darum, Dinge zu erledigen. Und so kommt Fritz Leibers Einfluss auf Gibson (und damit H.P. Lovecraft Design) in den Cyberspace: Dass es etwas Größeres gibt, was nichts mit den Protagonisten zu tun hat. Damit erschaffte Gibson ein übergeordnetes Element, was es ihm ermöglichte, weiterhin Einfluss zu nehmen, und ist damit ein wesentliches Verbindungsstück zu Josef Virek. Es erklärt einen wichtigen Punkt des Cyberspace, und damit die Lösung des Gesamtromans.
Die am Ende offene Frage ist also nicht, ob du Count Zero liest, sondern wann. Man muss das Gesamtkunstwerk kennen, und die Sprawl-Trilogie ist ein solches. Es wäre ungefähr so, als ob man Herr der Ringe nur am ersten Teil (“Die Gefährten”) misst. Und der zweite Roman ist um so viele Facetten reicher und in der Prosa besser als der erste Roman.
Ein absolut würdiger zweiter Band!
Obwohl Gibson nie Interesse an Science Fiction hatte (aber dafür mehr an Kleidung, Accessoires, Dekoration und Raumgestaltung) ist er mit seinem Roman Neuromancer zum Erfinder des Cyberpunks geworden: einer Welt durchwachsen mit gesetzlosen Sprawls und multinationale Großkonzernen, welche die wahre Macht innehaben. Aber wenn es wirklich notwendig war, einen neuen Begriff für Gibsons Science-Fiction zu erfinden, dann war Cyberpunk eine schlechte Wahl, denn - Fun Fact! - Computer waren für ihn nie wichtig, und der Name wurde zu einem weiteren Faktor, der potenzielle Nachahmer in die Irre führte, die versuchten, seinen Erfolg zu kopieren. “Technology Fiction", das den Schwerpunkt seines Romans auf die Produkte der Wissenschaft und nicht auf die Ideen dahinter legt, wäre vielleicht angemessener gewesen. Mit einer Selbstoffenbarung antwortete im April 2010 Gibson auf seinem Blog auf eine Leserfrage: "Ich bin eher ein Interpret von Technologien, ein Amateur-Anthropologe. Ich bin so etwas wie ein viktorianischer Wochenend-Naturforscher der Technologie.” (https://web.archive.org/web/20100418124053/https://williamgibsonbooks.co...)
Und so wurde der Cyberspace für Gibson, was die Raumschiffe von anderen waren - denn er konnte sich nie mit Außerirdischen anfreunden, außer als Hilfsmittel, um unser Verständnis der Menschheit zu verbessern. Andererseits wusste Gibson, dass Künstliche Intelligenz und außerirdisches Leben Themen waren, die vom typischen Science-Fiction-Leser geschätzt wurden. Nach dem außerordentlichen Erfolg seines ersten Romans Neuromancer hatte es der selbstbewusstere Gibson weniger nötig, seine Romane mit solchen überdrehten Konzepten auszuschmücken. Auch der Weltraum war für ihn ein untergeordnetes Thema: Der zweite Roman der Sprawl-Trilogie war der letzte Roman, in dem William Gibson einen Protagonisten in den Weltraum schickte. Für Gibson war das Tagesgeschäft der Protagonisten wichtiger und so konzentrierte er sich in den nachfolgenden Romanen mehr auf die Charaktereigenschaften und -beschreibungen.
Und so kommen wir nun zum zweiten Band der Sprawl-Trilogie, der, wie auch schon der erste Roman, ein Rubikwürfel ist, der nach und nach langsam wieder in seine ursprüngliche Form gedreht wird. Ist es anfangs noch ein Rätsel, was die drei Handlungsfäden um den blutigen Anfänger Bobby Newmark alias Count Zero, den Superprofi-Söldner Turner und eine ambitionierte Kleinkunst-Agentin namens Marly Kruschkowa verbindet, schafft es William Gibson die Neugier des Lesers zu fangen und wieder in die Welt der Zukunft zu werfen. Sieben Jahre später nach den Ereignissen des ersten Romans folgen wir diesen drei Protagonisten. Turner ist hier ein deutlich selbstbewusster und erwachsener Charakter als Case im ersten Roman. Bobby Newmark hingegen ist das pure Gegenteil von Case: als blutiger Anfänger wird er durch einen Test der Oberbosse plötzlich in das Profigeschäft der Cyberspace Gangster hineingezogen und beginnt zu verstehen, dass selbst diese ihn leben lassen, weil sie wissen wollen, was passiert ist. Wie jetzt der Auftrag des ultra-reichen Josef Virek an Marly Kruschkowa, den Erfinder eines Kästchens zu finden, in diese Geschichte passt, ist ein wesentlicher Kunstgriff, der diese Geschichte interessant macht.
Um den zweiten Roman zu verstehen, muss ich hier einen weiteren Aspekt einbauen, den Gibson im Nachfolger zu Neuromancer klar stellt: Es ist eine Revision seines ersten Romans. So spekulieren die Protagonisten, was denn die Voodoo Götter seien, und wer den ersten Roman gelesen hat, der weiß, es handelt sich um die künstliche Intelligenz, die aus Wintermute und Neuromancer entstand. Sie ist fragmentiert und die einzelnen Fragmente geistern als eben jene Splitter in der Matrix herum. Und Bobby Newmark bekommt zumindest eine Erklärung, worum es sich bei diesen Voodoo (Göttern) handelt: Es hat nichts mit Erlösung oder Transzendenz zu tun, es geht darum, Dinge zu erledigen. Und so kommt Fritz Leibers Einfluss auf Gibson (und damit H.P. Lovecraft Design) in den Cyberspace: Dass es etwas Größeres gibt, was nichts mit den Protagonisten zu tun hat. Damit erschaffte Gibson ein übergeordnetes Element, was es ihm ermöglichte, weiterhin Einfluss zu nehmen, und ist damit ein wesentliches Verbindungsstück zu Josef Virek. Es erklärt einen wichtigen Punkt des Cyberspace, und damit die Lösung des Gesamtromans.
Die am Ende offene Frage ist also nicht, ob du Count Zero liest, sondern wann. Man muss das Gesamtkunstwerk kennen, und die Sprawl-Trilogie ist ein solches. Es wäre ungefähr so, als ob man Herr der Ringe nur am ersten Teil (“Die Gefährten”) misst. Und der zweite Roman ist um so viele Facetten reicher und in der Prosa besser als der erste Roman.