Brooklyn soll mein Name sein: Roman
„Brooklyn soll mein Name sein“ des spanischen Autors Eduardo Lago ist ein Buch, das sich schwer beschreiben lässt. An der Qualität dieses Romans liegt dies definitiv nicht. Ganz im Gegenteil!!! Denn "Brooklyn soll mein Name sein" ist ein literarischer Hochkaräter. Eduardo Lago erhielt für seinen Debütroman im Jahr 2006 in seiner Heimat den Premio Nadal des Novela, dem ältesten und renommierten Literaturpreis Spaniens, der bisher fast ausschließlich an bedeutende Persönlichkeiten der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts verliehen wurde. (Dies nur zum „Warmwerden“ für den nachfolgenden Versuch, dieses Buch zu beschreiben und um dem Leser ein Gefühl dafür zu geben, welche literarische Besonderheit im Alfred Kröner Verlag erschienen ist, der diesen Roman vor Kurzem und erstmalig im deutschsprachigen Raum veröffentlicht hat.)
Titel und Titelbild dieses Romans deuten darauf hin: Schauplatz der Handlung ist Brooklyn, ein Stadtbezirk von New York, der heutzutage u. a. für seine multikulturelle Bevölkerungsmischung bekannt ist.
Doch Brooklyn ist nur einer der Schauplätze dieses Romans, genauso wie es unterschiedliche Handlungsstränge, Zeitebenen, Erzählperspektiven und – man glaubt es kaum – Ich-Erzähler und Protagonisten gibt.
Einer dieser Protagonisten und derjenige Charakter, um den sich die Handlung hauptsächlich dreht, ist Gal Ackerman, ein Schriftsteller, der vor Kurzem gestorben sein muss, das erfährt der Leser zumindest gleich zu Beginn des Romans.
„Gestern Vormittag haben wir Gal beerdigt.“
Wir schreiben gegenwärtig das Jahr 1991. Derjenige, der diesen Satz äußert ist Néstor Oliver Chapman, einer der Ich-Erzähler und Freund von Gal Ackermann, der mit dessen Tod die Aufgabe hat, Gals Nachlass zu sichten und zu verwalten. Diese Information hört sich einfach an, ist von mir jedoch hart erarbeitet worden. Hilfestellung hat dabei ein Personenregister am Ende des Romans geleistet, genauso wie es eine chronologische Übersicht der Ereignisse gibt und ein Glossar. Ohne diese Hilfestellungen wäre man aufgeschmissen, denn in diesem Roman begegnen uns eine Flut an Haupt- und Nebenfiguren, Zeitebenen sowie historische und fiktive Ereignisse. Man sollte meinen, dass der Autor Eduardo Lago mit dieser bunten Mischung in seinem Roman ein Pendant zu Brooklyn, dem bevölkerungsreichsten Stadtteil New Yorks, schaffen wollte.
Ich-Erzähler Néstor Oliver Chapman befasst sich also mit dem Nachlass seines verstorbenen Freundes, den er als einen Menschen kennengelernt hat, der eine Leidenschaft für das Schreiben besaß. Dabei ging es ihm nicht um das Ergebnis, sondern um den Schaffensprozess als solchem. Gal Ackerman war also nicht darauf aus, für andere zu schreiben, sondern in erster Linie schrieb er für sich. Sein Arbeitszimmer über einer Bar in Brooklyn ist über die Jahre zu einem „Manuskript-Friedhof“ geworden, einer wilden und chaotischen Sammlung an Gedanken, Geschichten und Erinnerungen, die nicht nur von Gal stammten, sondern auch von anderen Verfassern. Alles, was Gal jemals an Texten in die Finger bekommen hat, fand Einzug in diesen gigantischen „Blätterwald“.
„Mit beiden Armen hast du in den Papieren gewühlt, unfähig, mit dem Lachen aufzuhören. Dutzende und Aberdutzende von Manuskripten! Hier gibt es alles, Ness: Romane, Märchen, Theaterstücke, Essays, Memoiren, unerträgliche Texte, die überhaupt niemanden interessieren. Unglaublich, nicht wahr, sie haben alle eines gemeinsam: Niemand wird sie jemals lesen, und niemals wird einer von ihnen eine Druckerei von innen sehen. So viele Träume: Ruhm, Geld und Eitelkeit. Das sind die Dinge, von denen all diejenigen träumen, die unbedingt etwas veröffentlichen wollen.“
Was macht man nun mit diesen Texten? Wohin mit den Geschichten und Erinnerungen? Diese Fragen hat sich auch Gal Ackerman gestellt und daher zu Lebzeiten den Versuch gestartet, ein Buch zu schreiben – eine Hommage an Brooklyn. Denn in Brooklyn hat er gelebt und geliebt. Er liebte nicht nur die Stadt und seine Menschen, sondern hier lernte er auch seine große Liebe kennen. Brooklyn spielte also eine wichtige Rolle in seinem Leben.
Inmitten der Entstehung dieses Buches stirbt Gal Ackerman und sein Freund fühlt sich verpflichtet, das Buch anhand der Notizen seines Freundes zum Abschluss zu bringen.
Während sich Néstor also durch die Unterlagen seines Freundes arbeitet, bereits fertiggestellte Geschichten aus diesem Buch liest, eigene Geschichten formuliert und diesen Roman fortsetzt, begleiten wir ihn durch die Lebensgeschichte seines Freundes und seiner Stadt.
Wir werden uns dabei häufig in den Gedankengängen von Nestor und Gal verlaufen. Denn es gibt weder eine chronologische Reihenfolge noch eine klare Abgrenzung zwischen Ich-Erzähler Nestor und Ich-Erzähler Gal. Erzählt wird über einen Zeitraum von fast 250 Jahren, denn auch diejenigen Generationen aus Gal Ackermans Familie, die vor ihm gelebt haben, gehören zu seiner Lebensgeschichte dazu. Genauso, wie seine spanischen Wurzeln in diesem Roman eine Rolle spielen sowie die Ära Spaniens zur Zeit des Bürgerkrieges.
Man muss viel Geduld haben mit diesem Roman. Seinen Reiz macht die unstrukturierte Erzählweise aus, die den Leser zwingt, sich die Handlung nach und nach zu erarbeiten. Doch dafür wird er mit intensiven Geschichten über Freundschaften, Liebe und Leidenschaft belohnt. Oft ist es schwierig zu unterscheiden, ob die Geschichten, die Einzug in Gals Buch halten, seiner Fantasie entsprungen sind oder auf tatsächlich Erlebtem basieren. Genauso, wie sich kaum unterscheiden lässt zwischen Gals bzw. Nestors Erzählungen.
Neben den beiden Hauptcharakteren gibt es eine Protagonistin, die eine gleichsam große Rolle spielt: Brooklyn – der Schauplatz dieses Romans.
Der Autor dieses Romans, Eduardo Lago, lebt in New York und hat daher eine besondere Verbindung zu diesem Schauplatz. Diese Verbundenheit ist durch seinen Protagonsiten Gal Ackerman mit jeder Silbe in diesem Roman spürbar. Zu Lebzeiten streifte Gal Ackerman durch Brooklyn, widmete seine Aufmerksamkeit den bekannten und weniger bekannten Orten. Er hatte eine Blick für die Bewohner dieses Stadtteils, unabhängig welcher Herkunft sie waren, wobei er den Hispano-Amerikanern durch seine eigenen Wurzeln sicherlich näher stand als anderen Bevölkerungsgruppen. Die Beschreibungen der Umgebung sind sehr akribisch und detailliert. Wenn Eduardo Lago einmal anfängt, den Schauplatz und damit verbundene Stimmungen zu beschreiben, lässt er nicht locker, bis die kleinste Kleinigkeit der Szenerie dargestellt ist und der Leser in die Atmosphäre dieses Schauplatzes eingetaucht ist. Eduardo Lago macht Brooklyn also spürbar. Und wer bis jetzt noch nicht in Brooklyn war, findet sich durch die Lektüre dieses Romans zumindest gedanklich in dem Brooklyn eines Eduardo Lago wieder.
Fazit:
Ein faszinierender Roman, der die Lebensgeschichte eines charismatischen, leider fiktiven Mannes erzählt und dabei gleichzeitig eine Hommage an Brooklyn darstellt. In Verbindung mit seiner eigenwilligen Konstruktion ist dieser Roman eine Besonderheit, die mit nichts vergleichbar ist, was ich bisher gelesen habe.
© Renie
Ein beeindruckendes Leseerlebnis
„Ich weiß nicht, nach was ich suche, ich weiß nur, dass es sich hinter den Tausenden von Wörtern verbirgt, die ich nicht aufhören kann zu schreiben. Ich weiß nicht, was es ist, was es sein kann, aber ich würde es gerne herausfinden und ihm eine Form verleihen, nur für dich. Für dich werde ich dieses Buch schreiben, Brooklyn.“ (Zitat Seite 266, 267)
Inhalt
Der Journalist Néstor Chapman entdeckt eines Abends bei einem Spaziergang durch Brooklyn Heights zufällig das Lokal „Oakland Bar & Grill“. Neugierig geworden, betritt er einen erstaunlichen Ort und an einem Tisch in einer Ecke sieht er einen Mann, der völlig unbeeindruckt von dem Trubel der anderen Gäste in ein Heft schreibt. So lernt er den Schriftsteller Gal Ackerman kennen und sie treffen einander regelmäßig im Oakland. Eines Tages nimmt Gal ihn in sein Studio mit und zeigt ihm eine Fülle von voll beschriebenen Heften, darunter auch das besondere „Brooklyn-Heft“, die Notizen für den Roman, den er für seine große Liebe Nadja Orlov schreiben wollte. Doch Gal weiß bereits, dass er nicht in der Lage ist, dieses Buch zu beenden. Néstor „Ness“ soll dies für ihn tun. Kurze Zeit später ist Gal tot und Néstor weiß, er hatte im Grunde nie eine Wahl, als das ihm anvertraute Archiv zu übernehmen und Gals Bitte zu erfüllen.
Thema und Genre
In diesem Roman geht es um das Leben, um Literatur, um Freundschaft und Liebe. Wir treffen unterschiedliche Protagonisten und ihre Geschichten, die diesen Roman tragen. Natürlich geht es auch um New York, vor allem jedoch um Brooklyn und das Oakland, eine Bar in den Docks von Brooklyn, die für viele Menschen eine Art von Heimat geworden ist. „Sieh mal, dieses Licht, Néstor. Es ist das Licht, über das Louise in ihrem Gedicht spricht. Das Licht Brooklyns.“ Zitat Seite 26)
Charaktere
Es sind viele unterschiedlichen Protagonisten, die diese Geschichten beleben, jede Person ist auf ihre Art einzigartig und besonders. Manche tauchen nur kurz auf, stehen im Mittelpunkt einer Episode, eines Ereignisses, andere bleiben und begleiten uns durch das gesamte Buch.
Handlung und Schreibstil
Der Roman wird nicht chronologisch erzählt, die einzelnen Kapitel reisen kreuz und quer zwischen den Jahren und Personen. Im Anhang findet sich eine genaue Chronologie der Ereignisse und ein ausführliches Personenregister. Die Rahmenhandlung, die alle weiteren Geschichten immer wieder eint und sich zwischen die einzelnen Episoden setzt, trägt Néstor als Ich-Erzähler. Er verbindet die Geschichten der einzelnen Hefte, erinnert sich an die Gespräche mit Gal, an Ereignisse, die Gal ihm aus seinem Leben und seiner Vergangenheit erzählt hat. Vor allem schildert Néstor diese besondere Zeit, die er selbst mit dem Sichten der Unterlagen, weiteren Recherchen und Gesprächen, und dem Schreiben verbracht hat. Diese Art des Erzählens in Verbindung mit den eindrücklichen, bunten, lebhaften Beschreibungen der Menschen und prägenden Orte, macht den besonderen Sog und Charme dieses außergewöhnlichen Romans aus.
Fazit
Es ist schwer, dieses beeindruckende Leseerlebnis zu beschreiben, die Vielfalt der Figuren, Schicksale, Orte, die tiefe Freundschaft, welche die Personen verbindet und sich durch die Geschichten zieht. Ich hatte das Buch gerade erst erhalten, wollte nur kurz die ersten Seiten lesen und geriet sofort in den Bann dieser faszinierenden Erzählform und Sprache. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und es reihte sich sofort in die Liste meiner zeitlos gültigen Lieblingsbücher ein.