Aenne und ihre Brüder
Reinhold Beckmann lässt den Leser teilhaben ein einem Teil seiner Familiengeschichte. Es ist der Teil seiner Mutter Anna Maria, genannte Aenne, die im 2. Weltkrieg vier ihrer Brüder verlor. Den Verlust und das fehlende Wissen um den Verbleib von Angehörigen, haben viele Familien nach dem Ende des 2. Weltkrieges verarbeiten müssen. Viele haben nie über diese schmerzhaften Wunden gesprochen, Aenne Beckmann jedoch nicht. Sie hat den Briefwechsel ihrer Brüder über Jahrzehnte aufbewahrt, hat immer wieder über ihre Brüder gesprochen und so die Erinnerung an ihre Liebsten aufrecht erhalten.
Entstanden ist so ein sehr berührendes und aufwühlendes Buch, welches die Lebenswege dieser Geschwister nachzeichnet. Die abgedruckten Briefe geben einen lebendigen Eindruck dieser jungen Menschen, die um einen großen Teil ihres Lebens gebracht wurden, weil sie in einen barbarischen und aussichtslosen Krieg gerissen wurden. Die Briefe erzählen von ganz unterschiedlichen Charakteren, von Träumen, Wünschen und Hoffnung; von Niedergeschlagenheit, Ängsten und Desillusionierung. Von Kriegshochzeiten und Weihnachtsfeiern. Von zwischen den Zeilen versteckten Aussagen zum Kriegsgeschehen, den unsäglichen Zuständen an der Ostfront.
Aber auch Aennes Leben wird erzählt und ihrem Heimatort Wellingholzhausen. Dem Zusammenhalt der Dorfgemeinde, dem kirchlichen Einfluss auf das alltägliche Leben und Aennes schwierigem Start ins Leben.
Ich war von dem Buch sehr ergriffen, auch von den zwischendurch gesetzten, sehr persönlichen Kommentaren Beckmanns zu dem Geschehen.
Anrührend, aber letztlich nicht überzeugend
Reinhold Beckmann hat einen anrührenden Roman über die Jugend seiner Mutter und deren vier Brüder geschrieben, die alle vier im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen sind.
Beckmann hat sich viel vorgenommen. Auf der einen Seite stellt er die Geschichte des Nationalsozialismus von ca. 1930 bis 1945 dar, auf der anderen Seite schildert er das einfache Leben in seinem ländlich geprägten Heimatdorf. Ich glaube, sein Vorhaben war es, den Einfluss der „ großen“ Politik auf das Leben der einfachen Leute zu verdeutlichen. Und nicht zuletzt will er das Schicksal der vier jungen Soldaten anhand der vielen Feldpostbriefe aufarbeiten, die seine Mutter aufbewahrt hat.
Ich glaube, dass Vorhaben ist nicht so gelungen, wie Beckmann es sich am Beginn des Schreibprozesses vorgestellt haben mag. Die Feldpostbriefe sind, was das Kriegsgeschehen angeht, sehr unergiebig. Dafür mag zum einen die Zensur verantwortlich sein. Zum anderen könnte auch sein, dass die Brüder ihrer Schwester, an die die Briefe gerichtet sind, die genaue Beschreibung des Kriegselends ersparen wollten. Natürlich zeugen sie aber von der Sehnsucht, nach Hause zu dürfen, in die Heimat. Aber sie machen doch nicht recht deutlich, was es hieß, im zweiten Weltkrieg in Russland kämpfen zu müssen.
Das Dorf Wellingholzhausen, in dem seine Mutter und seine Onkel aufgewachsen sind, ist in vielerlei Hinsicht eine Enklave. Es gibt keine Juden, also haben die Nürnberger Gesetze und die Judenverfolgung keine praktischen Auswirkungen. Sie werden folglich auch kaum erwähnt. Die Reichsprogomnacht erleben die Dörfler nur als weit entfernten Feuerschein aus der Richtung von Osnabrück wahr.
Die Menschen sind auch nicht sehr politisch. Ihre Haltung gegenüber Hitler und seinem Regime ist nicht von Widerstand geprägt. Folglich kommt auch das Unterdrückungssystem der Nazis mit der totalen Überwachung durch die Gestapo nicht zur Sprache (ich erinnere mich nicht, dass der Begriff Gestapo überhaupt fällt). Überzeugte, ausgesprochene Nazis sind eher rar. Die Konsequenz ist, dass der unmenschliche Unrechtsstaat der Nazis letztlich nur angedeutet wird.
Reinhold Beckmann schreibt in einem sehr einfach gehaltenen Sprachstil. Der einfache Hauptsatz überwiegt als Satzkonstruktion. Nur in seltenen Fällen umfasst ein Satz einmal mehr als zwei Zeilen. Das erleichtert auf der einen Seite die Lektüre, führt auf der anderen Seite aber auch zur Simplifizierung.
Viel Mühe hat sich Beckmann damit gegeben, den Weg der vier Brüder als Soldaten im zweiten Weltkrieg zu rekonstruieren. Und anhand offizieller Aufzeichnungen kann auch etwas von der Grausamkeit und Unmenschlichkeit des Krieges deutlich werden.
Beckmann vermeidet es, Fragen zu stellen. Inwieweit waren seine Onkel in die Kriegsereignissen involviert: Haben sie Menschen erschossen? Haben sie sich an der Verbrechen der Wehrmacht beteiligt? Beckmann vermeidet die Fragen, da damit die Onkel aus der Opferrolle, in der Beckmann sie sieht, herausfallen würden.
Überhaupt neigt Beckmann dazu, sich auf die Seiten der Deutschen zu stellen. So wird etwa die Stadt Duisburg von den Bombern der Alliierten „heimgesucht“, wie eine Plage.
Allen Bedenken zum Trotz ist das Buch lesenswert: Als Beispiel für die extreme Schwierigkeit von jungen Frauen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und als leicht zu lesende Geschichte der politischen Ereignisse zur Zeit des Nationalsozialismus.
Als Schullektüre aber mag ich den Roman nicht empfehlen, sowie andere Rezensenten dies tun.