Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre

Buchseite und Rezensionen zu 'Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre' von Monika Zeiner
3.9
3.9 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre"

Nach langer Zeit kehrt Nikolas Finck, ein Schulmöbelfabrikantensohn, in sein Elternhaus bei Nürnberg zurück. Aus dem Wochenende wird ein Jahr. Einquartiert in der Dachkammer der Villa Sternbald, steigt er in die Vergangenheit der Familie hinab und beginnt zu erzählen: von seiner Kindheit und der ersten Liebe, von der Erfindung der Columba-Schulbank, dem traurigen Insektenforscher Jean und der glasflügeligen Edith, von nächtlichen Flugstunden mit dem heiligen Sebald und den beiden Frauen die er vielleicht noch immer liebt. Während im Haus eine Ausstellung übers »Klassenzimmer im Wandel der Zeit« ud das Firmenjubliläum vorbereitet werden, stört er das Treiben. Wie früher verfolgt der selbsternannte Aerophonautiker und Schnurologe eigene Pläne – um das Dunkle in der Familiengeschichte ans Licht zu bringen, vor allem aber zur Verteidigung der Kindheit seiner Neffen.

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:703
Verlag: dtv
EAN:

Rezensionen zu "Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre"

  1. Feuerwanzen, Schubert, Isaak und Menschenrechte

    Mein Lese-Eindruck:

    Vor 100 Jahren erschien "Der Zauberberg" von Thomas Mann, und dieses Jahr erscheint Frau Zeiners Reverenz an Thomas Mann: "Villa Sternbald". Frau Zeiner versetzt ihre Handlung in das fränkische Unternehmermilieu, die Entlehnungen sind aber unübersehbar und auch gewollt, seien es einzelne Handlungselemente, Personengestaltungen oder auch nur kleinere Situationszitate.

    Wie ihr Vorbild umfasst der Roman mehrere Generationen der Familie Finck. Diese große Zeitspanne bindet die Autorin zusammen durch den Protagonisten Nik - dazu nachher mehr - und verschiedene Motivgruppen.

    Immer ist es der Großvater, der sich mit dem Nachfolger-Enkel befasst; immer ist es die alltestamentarische Parabel von der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham, der die Allmacht der väterlichen Gewalt, den Gehorsam und zugleich die Bändigung der väterlichen Aggression schildert; immer sind es die Insekten, denen die Liebe der Söhne gehört, und immer wird eine Feuerwanze zum Gefährten erkoren, und immer ist es der Gegensatz Unternehmertun vs Künstlertum. Gerade letztes Motiv - ein Lieblingsthema des Altmeisters - baut die Autorin deutlich aus. Es zeigt sich in den Kinderfreundschaften, bei der Berufswahl des Protagonisten und sehr sinnfällig bei der ritualisierten abendlichen Darbietung der "Träumerei" von Schumann, denn ebenso immer sind es auch bei Frau Zeiner die Frauen, die die Liebe zur Musik antreibt.

    Es ist die Musik der Romantik, die hier reproduziert wird, und sie wird im Geist der Romantik und auch Thomas Manns verbunden mit den Themen Nacht + Todessehnsucht bzw. Tod. Diese Motivkette taucht unübersehbar häufig auf, aber es fehlt ihr der innere Zusammenhang mit dem Geschehen. Die Motivkette bleibt oberflächlich und bietet keine Tiefe.

    Ähnlich verhält es sich mit der Fülle an literarischen Anspielungen, die die Autorin wie Streublümchen über den ganzen Roman verteilt. Die Autorin ist belesen, das ist unbestritten, und sie bietet zitatähnliche Formulierungen aus den unterschiedlichsten Werken der Literatur und Philosophie. Aber zu welchem Zweck, fragt sich der Leser. Die Anspielungen bleiben Wortspielereien und reine Dekoration, sie lassen einen wie auch immer gearteten Bezug zum Inhalt vermissen.

    Eine weitere Klammer über die Generationen hinweg sind die religions-philosophisch-weltanschaulichen Gespräche, wie sie auch im "Zauberberg" zu finden sind. Die Autorin spannt einen großen Bogen von Kants Pflichtethik und Herders Überlegungen zur Kulturnation über Luthers Antisemitismus bis hin zu Heidegger und Hanna Arendt. Das ist alles sehr informativ und auch anregend. Die Gespräche belegen auch die gründliche Durchdringung des Themas, aber auch hier wäre weniger mehr gewesen.
    Dazu kommt, dass diese Gespräche situativ inszeniert sind und daher unnatürlich konstruiert wirken; ganz abgesehen davon, dass das so unverhofft zutage tretende philosophische Wissen des Sprechers sehr überrascht.

    In dieses Grundgerüst des "Zauberberg" setzt Frau Zeiner nun einen Inhalt hinein, der seit den 70er Jahren mehrfach erzählerisch bearbeitet wurde: das braune Erbe deutscher Familien. Die Frage drängt sich auf, wo und wie die Autorin diesem altbekannten Thema etwas Neues abgewinnt?

    Ich denke, dass hier die Figur des Nik wichtig ist. Er ist der älteste Sohn und daher als Erbe vorgesehen, aber er entscheidet sich für einen künstlerischen Beruf. Er ist ein labiler Mensch, bringt nichts auf die Reihe, weder beruflich noch privat, er lügt und baut Traumwelten, die nacheinander einstürzen, er ist der Außenseiter der Familie und rettet sich zu Romanbeginn in den rettenden Hafen seines Elternhauses. Aber er hat ein Thema, an dem er sich seit seiner Jugend abarbeitet: eben die braune Vergangenheit seiner Familie und die Tatsache, dass der Reichtum der Familie auf einem Betrug an jüdischen Freunden beruht. Er fordert immer wieder dazu auf, das Verschweigen zu beenden und die Karten aufzudecken; es bleibt allerdings unklar, wieso er das selber nicht schon längst gemacht hat, weil die Quellenlage gut ist.

    Und hier gelingt der Autorin tatsächlich etwas Neues. Die Firma Finck entscheidet sich nämlich, ihre braune Vergangenheit offenzulegen. Mit Niks Drängen hat dieser Entschkuss aber nichts zu tun. Hatte Nik noch einen moralischen Antrieb, die Schuld der Familie einzugestehen, verfolgt die Firma damit ein anderes Ziel. Sie will die Vergangenheit transparent machen, weil das zeitgemäß ist und der Firma einen positiven Anstrich verpasst. An die Stelle der Moral tritt also nun das Kalkül.

    Diese Zeichnung eines modernen "Helden" hat mir gut gefallen, zusammen mit der unbestritten wunderschönen Sprache der Autorin.

    3,5/5 *

  1. Eine Lüge, die sich durch mehrere Generationen zieht

    Die Unternehmerfamilie Finck vertreibt schon sehr lange erfolgreich Möbel. Der Grundstein wurde durch die Columba-Schulbank gelegt, die weltweit vertrieben wurde, und der Familie zu großem Reichtum verhalf.
    Nikolas Finck, um den es in diesem seitenstarken Roman von Monika Zeiner hauptsächlich geht, hadert schon sehr früh mit diesem Erfolg. Er ist ein sehr sensibles Kind, was sich später allerdings nach außen hin nur durch Auflehnung äußert. Ob diese Auflehnung gegen alles was damals geschah berechtigt ist oder nicht, erfährt der Leser erst ziemlich zum Ende hin.

    Zu Beginn des Buches ist Nikolas schon ein erwachsener Mann, von dem wir wissen, dass er sich lange nicht mehr zu Hause hat sehen lassen. Seine Freundin will die Trennung, im Beruf läuft es auch nicht rund, und ihm wird wohl unterschwellig bewusst, dass es an der Zeit ist das aufzuarbeiten, was zwischen ihm und seiner Familie steht.
    In Rückblicken bringt die Autorin dem Leser erstmal alles näher was die Gründung der Firma um 1890 betrifft. Sie bewegt sich dabei von Generation zu Generation fort, und pickt sich dabei die männlichen Vertreter der Fincks heraus.
    So bekommt man von der Familiengeschichte nach und nach einen fundierten Einblick. Vor allem die Zeit um den zweiten Weltkrieg herum ist hier von großer Bedeutung.
    Parallel dazu gibt es immer wieder Exkurse in die Kindheit von Nik. Er wirkte auf mich oft wie ein Außenseiter, für den die Eltern wenig Zeit haben, der aber große Stücke auf seinen Großvater hält. Doch Nik ist sehr intelligent und merkt bald, dass es da etwas gibt, mit dem er nicht klar kommt. Seine Achtung vor dem Großvater schwindet. Lügen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte, und es geht soweit, dass Nik wegen ihnen verrückt zu werden droht.

    Monika Zeiner schreibt Geschichte neu, denn sie kombiniert sie so geschickt um die Unternehmerfamilie, dass es mir manchmal so vorkam, als würde ich hier ganz neue Blickwinkel geboten bekommen. Was natürlich nicht der Fall ist, es ist lediglich ihrer Erzählkunst geschuldet.
    Tragisch ist die Tatsache, dass die fatalen Vorkommnisse von damals bis in die heutige Zeit hinein reichen. So lösen sie in Nik ein so starkes Gefühl von Ungerechtigkeit aus, dass er gegen seine eigene Familie rebelliert. Er will keine Lügen mehr!

    Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen. Nik war während des Lesens nicht immer leicht zu ertragen. Erst zum Ende, als ich alles richtig zusammensetzen konnte, konnte ich vieles besser verstehen und meine Sicht auf ihn änderte sich. Eine Familiengeschichte, die wohl auch eine Hommage an Thomas Mann sein soll.
    Frau Zeiner hat versucht zu zaubern, und ich finde es ist ihr gelungen!

  1. Komplexe Familienchronik in grandioser Sprache

    Anlässlich eines Geburtstages kommt Nikolas Finck nach Jahren der Abwesenheit zurück nach Hause in die Villa Sternbald, den Stammsitz der Unternehmerdynastie Finck, die mit Schulmöbeln seit dem 19. Jahrhundert im fränkischen Nürnberg erfolgreich ihr Geld verdient. Nikolas hat das Familienerbe ausgeschlagen. Während sein Bruder Sebastian die Firma leitet und versucht, sie als Aktiengesellschaft in die Zukunft zu führen, verdingt sich Nik mehr schlecht als recht als freier Drehbuchautor. Seine Beziehung zu Ele ist gerade gescheitert, beruflich hat er eine Flaute, weshalb er sich seinem Lieblingsthema, den Sünden der Familie Finck, in Ruhe widmen kann. Nik empfand seine Kindheit im Schatten der Firma als höchst unglücklich, der Großvater war sein großes Vorbild, doch auch von ihm wurde er enttäuscht. Darüber hinaus hadert Nik mit der Firmenvergangenheit während des Nationalsozialismus und ist überzeugt, dass man sich am Vermögen der befreundeten jüdischen Familie Stein bereichert hat. Von derlei Vorwürfen wollen die Fincks jedoch nichts wissen. Wie damals üblich hat man ein tiefes Schweigen über die NS-Zeit gebreitet. Nik fühlt sich der Wahrheit verpflichtet.

    Ausgehend von alten Fotografien und Aufzeichnungen rollt Nikolas die Familienhistorie auf. Er geht zurück bis ins Jahr 1897, als sein Ur-Ahn Ferdinand Finck in Paris einen Entwicklerpreis erhielt, und endet 125 Jahre später in der Gegenwart zum Firmenjubiläum. Anhand dieser Galerie werden wesentliche Stationen im Leben der überwiegend männlichen Familienmitglieder heraufbeschworen und ihre Geschichten erzählt. Als Leser entdeckt man Parallelen in Geisteshaltung und Charakter der verschiedenen Protagonisten, die gegen die ihnen zugedachten Rollen zwar innerlich aufbegehren, ihnen aber nicht entrinnen können. Das Private wird anschaulich ins Gesellschaftliche und Politische eingebunden, so dass man auch diesbezügliche Entwicklungen mitverfolgen kann. Jede ausgewählte Szene legt den Fokus auf die Gefühlswelten der Protagonisten, die vor dem Hintergrund ihrer Zeit sehr authentisch transportiert werden. Die verschiedenen Epochen mit ihren Verwerfungen fließen in die Familienchronik ein.

    Die Familiengeschichte bildet aber nur einen Teil dieses außerordentlichen Romans. Es gelingt der Autorin, zahlreiche weitere Assoziationen, Gespräche und Gedanken einfließen zu lassen, die die Handlung inhaltlich ergänzen. Dazu bedient sie sich unter anderem interessanter Nebenfiguren. Zahlreiche wiederkehrende Motive durchziehen den Text in unterschiedlichen Schattierungen. Beispiele sind das Verstreichen der Zeit, Vergangenheit und Gegenwart, das Wesen und die Unschärfe von Erinnerungen, Wahrheit und Lüge, Erziehungsstile im Wandel der Zeiten, Glaube und Religion, Antisemitismus und vieles mehr. Die vielen klugen, sorgfältig recherchierten Sujets machen die Lektüre einzigartig und fordern zum Nachdenken auf. Insofern muss man sich Zeit für diesen nicht handlungsgetriebenen Roman nehmen, der mit seinem immensen Gedankenreichtum besticht, ohne jedoch sein Ziel aus dem Auge zu verlieren.

    Zahlreiche intertextuelle Bezüge und philosophische Exkurse finden sich, viele Zitate berühmter Autoren werden erwähnt (ein entsprechendes Glossar findet sich im Anhang). Diese Bezüge sind jedoch nie belehrend, ihre Kenntnis wird nicht vorausgesetzt. Ich habe diesen vielschichtigen Roman mit großem Gewinn gelesen, habe ihn als Schatzkiste an inspirierenden Sätzen und lebensklugen Weisheiten empfunden.

    Monika Zeiner ist eine Sprachvirtuosin ersten Ranges. Unter Verwendung innovativer Metaphern und kreativer Wortschöpfungen schreibt sie fein austarierte Sätze und verwendet Zeit auf Atmosphäre und Stimmungen. Schauplätze werden ausdrucksvoll und sinnlich beschrieben (bereits die erste Seite beweist das), die Charaktere wirken glaubwürdig und lebendig. Die Gesamtkonzeption des Romans kann man als Verneigung vor Thomas Mann und seinem Zauberberg verstehen. Wer dieses Werk kennt, wird zwangsläufig Parallelen entdecken.

    In meinen Augen ist „Villa Sternbald“ ein großer Wurf, der viele literarisch interessierte Leser faszinieren und begeistern sollte.

  1. Seltene Mischung aus Familienroman und Sachbuch

    REZENSION – Ein in seinem zeitlichen Umfang und philosophischen Tiefgang ungemein komplexes und beeindruckendes Werk ist der Autorin Monika Zeiner mit ihrem fast 700 Seiten umfassenden Familienroman gelungen, der im September bei der dtv Verlagsgesellschaft erschien. Erst zehn Jahre nach ihrem Debüt „Die Ordnung der Sterne über Como“, mit dem sie auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises kam, folgte nun mit „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“, dessen Handlung sich über fünf Generationen von Kaisers Zeiten bis in unsere Tage erstreckt, ihr zweiter, durchaus preiswürdiger Roman. Darin geht es um unsere Abhängigkeit in Vergangenheit und Vergänglichkeit, um gesellschaftliche Umbrüche, individuelle Erinnerung und persönliche Schuld sowie deren Verdrängung. „Villa Sternbald“ zeigt anhand der Protagonisten den Versuch individueller Verortung in wandelnder Zeit und das individuelle Ringen mit der eigenen Vergangenheit und einstigem Handeln.
    „Tempora mutantur et nos mutamur in illis – Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“. Dieses im Familienkreis von Nikolas Finck gern zitierte Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert dient in Zeiners Roman nicht nur als Feststellung, sondern der Familie Finck gleichsam als Absolution für einst begangene Fehler. Nikolas, Sohn dieser wohlhabenden Schul- und Funktionsmöbelfabrikantenfamilie, der vor Jahren aus uns Lesern anfangs noch verborgenen Gründen mit seiner Familie gebrochen hatte, kehrt anlässlich des bevorstehenden Firmenjubiläums unerwartet in die Villa Sternbald bei Nürnberg zurück. Da sein Jugendzimmer in der Villa, die im Roman als architektonisches Sinnbild vergangener Zeiten steht, längst aufgelöst ist, seine eigene Vergangenheit im Haus gewissermaßen gelöscht ist, wird er in einer Dachkammer einquartiert. Von den Vorbereitungen für das Fest und die begleitende Jubiläumsausstellung „Klassenzimmer im Wandel der Zeit“ hält er sich als Außenseiter fern. Stattdessen ordnet er zufällig entdeckte Ahnenfotos und steigt mit deren Hilfe tief in die Familien- und erfolgreiche Unternehmensgeschichte ein, die im Jahr 1897 mit dem Bau der ersten Schulbank begann, für die Ururgroßvater Ferry einst auf der Pariser Erfindermesse ausgezeichnet wurde. „Die Bilder hatten sich nicht verändert in all den Jahren, dachte ich. Die Vergangenheit ist das Einzige, das nicht vergeht.“ In Rückblenden erfahren wir vom Denken und Handeln seiner Ahnen in ständig wandelnder Zeit. „War es nicht vielmehr die Vergangenheit, die uns trennte und gleichzeitig verband?“ Tragen wir Heutigen also Verantwortung für das Handeln unserer Väter und Großväter?
    Schon als Oberstufen-Gymnasiast hatte Nikolas entdeckt, dass die Geschichte seiner Familie und ihres Unternehmens auf Lügen und Selbstbetrug aufgebaut war. „Die Schreibtische für die Nazibeamten und die Holocaustplaner haben wir genauso gerne gebaut wie die Schreibtische für die Bonner Republik … und auch den Bundestag in Berlin haben wir mit lupenrein demokratischen Büromöbeln ausgestattet, die sich an jeden vorstellbaren Zeitgeist anpassen können.“ Auch Nikolas' geliebter Großvater „hat nie etwas anderes getan, als sich anzupassen. Wie ein Chamäleon hat er die Farben gewechselt, wie es gerade geboten war.“
    „Villa Sternbald“ ist kein gefälliger Unterhaltungsroman, der sich mal eben schnell lesen lässt, obwohl die Art, wie Zeiner dramaturgisch mit den Erinnerungen ihrer Figuren und deren jeweiliger Zeit spielt, ihr Buch doch in gewisser Weise spannend macht. Das Wechselspiel individueller Schicksale im Laufe deutscher Zeitgeschichte sowie die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart, wodurch sich eine gewisse „Unschärfe der Jahre“ ergibt, geben Nikolas – aber auch uns Lesern – immer wieder Möglichkeit zur Reflexion und Selbstfindung.
    Zeiners Werk ist eine literarisch seltene Mischung aus historischem Familienroman und einem Sachbuch zur deutschen Zeitgeschichte. Gerade jene längeren philosophischen Diskurse wie – um nur zwei Beispiele zu nennen – über die Geschichte des Sitzens vom Thron des Herrschers bis zum Stuhl des einfachen Mannes, wodurch Aufklärung und Kapitalismus erst möglich wurden, oder über das populistische Wirken des Judenhassers Martin Luther durch Verbreitung antisemitischen Gedankenguts sind besonders anspruchsvolle, deshalb besonders lesenswerte Kapitel dieses empfehlenswerten Buches.

  1. Die Unschärfe der Erinnerungen

    2013 kam der Debütroman von Monika Zeiner: „Die Ordnung der Sterne über Como“ direkt auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Erst nach elf Jahren erschien nun ihr zweiter Roman, Villa Sternbald, ein umfangreiches Werk, für das gründliche Recherchen vorausgingen, was aus dem sechs Seiten umfassenden Quellenverzeichnis im Anhang hervorgeht.

    Es ist die Geschichte einer fränkischen Unternehmerdynastie, die Ende des 19. Jh. beginnt und 2014 endet, 125 Jahre, die das ganze 20. Jahrhundert umfassen. Zugleich ist es eine Zeitgeschichte des Jahrhunderts in Deutschland, besonders auch unter dem Aspekt der Wandlung von Kindheit und Erziehung - und die Familiengeschichte der Familie Finck über fünf Generationen.

    Niklas Finck kommt zum 103. Geburtstag seines Großvaters Henry nach vielen Jahren für ein Wochenende in sein Elternhaus. Das ist die Villa Sternbald, in der Nähe von Nürnberg, wo auch das Unternehmen seinen Firmensitz hat. Er ist Drehbuchautor und hat mit der Firma nichts zu tun, diese Aufgabe hat sein Bruder Basti übernommen, der die Firma mithilfe von Unternehmensberatern in eine Zukunft als börsengeführtes Unternehmen führen will. Nik beschäftigt sich mit alten Fotos, die er auf dem Dachboden findet, interessiert sich für die Vergangenheit der Firma, womit er bei der Familie nicht auf positive Reaktionen stößt, überhaupt ist er das schwarze Schaf in der Familie, schon seit seiner Kindheit. Zugleich mit der Firmenvergangenheit spult er seine eigene Vergangenheit noch einmal ab. Er bleibt schließlich ein Jahr, er hat Probleme mit seiner Beziehung und er kümmert sich in dieser Zeit auch um die Familie seines Bruders, der zwei Söhne hat.

    In Rückblicken erfährt der Leser nach und nach die Firmengeschichte. Der Ururgroßvater Ferry hatte die ersten großen Erfolge, als er 1987 in Paris einen Preis für die Schulbank Columba erhielt, zugleich mit dem benachbarten Möbelhersteller Stein, einem jüdischen Unternehmen, das Büromöbel produzierte. Die Firma Finck hat große Erfolge, die mit dem Kauf der Firma Steins im Nationalsozialismus steil nach oben gehen. Dieser Kauf wird gerne als Wohltat den Steins gegenüber dargestellt, Nik lässt aber nicht locker mit seiner Suche nach der Wahrheit und kommt zu einem anderen Ergebnis. Ein Schuldeingeständnis seiner Vorfahren kann er jedoch nicht erzwingen.

    Schon als Kind war Nik überall der Außenseiter. In der Schule waren die Väter seiner Mitschüler die Arbeiter in der Fabrik seines Vaters, deren Zuneigung er sich mit Geschenken erkaufen wollte. Von diesen fällt auch öfter der Begriff „Erzgauner“ über seine Familie, was der Großvater auf Neid zurückführt, was Nik jedoch zum Nachdenken bringt. Nik lebte in einer Phantasiewelt, erfand Theaterstücke, baut sich seine Welt und verliebt sich schon früh in Katharina, eine Mitschülerin und Musikschülerin seiner Mutter. Diese Liebe hält bis zur Gegenwart an.

    Die Mutter war Musikerin und hauptsächlich damit beschäftigt, Musikabende mit Gästen zu arrangieren. Für Nik hatte sie offensichtlich wenig Zeit und Interesse. Seine ganze Jugend war krisenbelastet und führte schließlich zu einem Suizidversuch, der ihn in eine psychiatrische Klinik brachte, weg von seinen Freunden. Seitdem war er nicht mehr in der Villa Sternbald.

    In der Villa Sternbald werden viele Gäste beherbergt, sei es bei Gesellschaften, Musikabenden oder anderen Veranstaltungen, oder Dauergäste, wie Achaz, der eine Ausstellung vorbereitet. Der Roman wurde auch als Bildungsroman bezeichnet. Man reflektiert und diskutiert ausführlich über philosophische, literarische, religiöse, geschichtliche, wissenschaftliche Themen, was den Leser zum konzentrierten Lesen zwingt. Dies nimmt einen breiten Raum in dem Buch ein. In diesen handlungsarmen Kapiteln stecken jedoch so viele gute Gedanken, dass es sich lohnt, diese aufzunehmen und manches nochmal zu lesen. Abseits der eigentlichen Handlung verlangsamt es den Lesefluss erheblich und ist nur ein Gewinn, wenn das Interesse für diese Themen geweckt wird.

    Die Sprache des Buches ist brillant und anschaulich. Sie enthält viele Dialoge, Zeiner setzt Bilder und Vergleiche ein, die die Lesefreude erhöhen und Spaß beim Lesen machen. Das Leben Niks wird in der Ichform erzählt, das der Vorfahren in der dritten Person.

    „Villa Sternbald“ ist ein besonderer, anspruchsvoller Roman auf dessen Ausführlichkeit man sich einlassen muss, damit man Freude am Lesen hat. Für mich war es ein besonderes Leseerlebnis.

  1. Eine Villa in Nürnberg

    Der Auftakt ist verheißungsvoll: Wir lernen Nik kennen, er ist in sein Elternhaus zurückgekehrt, um an dem Geburtstag seines hochbetagten Großvaters teilzunehmen. Obwohl offenbar aus gut situierter Familie stammend - Niks Vorfahren haben sich als Schul- und Büromöbelhersteller einen Namen gemacht - scheint Nik selbst nicht unbedingt vom Glück verfolgt. Er trauert seiner Jugendliebe Katharina hinterher, hat beruflich als Drehbuchautor eine Reihe von Misserfolgen hinter sich und muss die Trennung von Ele, seiner letzten Lebensgefährtin, verkraften. Bis hierher gut nachvollziehbar, die Handlung bot Potential, die Charaktere waren zu Beginn nicht uninteressant. Doch dann beginnt die Autorin recht bald, die Geschichte mit Betrachtungen zu überfrachten, die zu allgemein und zu abgehoben sind, um bei mir Interesse zu wecken. Da entsteht der Verdacht, Niks Familie könnte sich während der totalitären Herrschaft der Nazis am Unglück einer jüdischen Fabrikantenfamilie bereichert haben - höchst unschön, aber was tut Nik? Er schwadroniert drauflos. Es werden lange Reden gehalten über Moral und Ethik, über Religion und Philosophie. Nik redet und redet, andere Figuren tun es ihm nach, als Leserin fühlte ich mich entweder belehrt oder war gelangweilt. Spannung entsteht auf diese Weise kaum, es zieht sich. Nik als Hauptfigur handelt - wenn er sich überhaupt entschließt, etwas zu tun - wahlweise inkonsequent oder auf eine Art, die ihn mir nicht sympathisch machte. Das Epos über 600 Seiten wird zur Geduldsprobe - sicher, ab und an gibt es eine gelungen Betrachtung, einen interessanten Aspekt. Doch insgesamt fehlt es mir an interessanten Figuren, stringenter Handlung, Spannung und dem roten Faden.

  1. Die Unschärfe zwischen Wahrheit und Lüge

    Monika Zeiner erzählt in ihrem Roman „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen:
    Ferry hat als Erfinder Columba-Schulbank eine Möbelfabrik gegründet, die sich seitdem im Familienbesitz befindet. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht seines Ururenkels Nikolas, der nach langer Zeit in sein Elternhaus, die Villa Sternbald, zurückkommt und unbequeme Fragen über die Rolle seiner Familie während der NS-Zeit stellt.
    Der Roman spielt in drei Zeitebenen: Da ist zum einen die heutige Zeit mit dem Besuch in der Villa Sternbald. Zum anderen erinnert sich Nik an seine Kindheit in dieser Villa. Außerdem erfahren wir Lesende, wie Niks Ururgroßvater die Schulbank erfunden und die Villa bauen lassen hat.
    Hierbei schafft es die Autorin, uns interessante Parallelen aufzuzeigen: Obwohl sich im Laufe der Jahrzehnte sowohl die Ansichten über Schule und Erziehung als auch das ganze Weltgeschehen drastisch ändern, verläuft die Kindheit der Jungen über die Generationen recht ähnlich: Sie fühlen sich einsam, von ihren Eltern nicht geliebt, bauen aber jeweils ein Vertrauensverhältnis zu den Großvätern auf. Die Jungen gewöhnen sich an zu lügen und legen das als Erwachsene nicht mehr ab, werfen aber eben diese Unehrlichkeiten anderen Mitmenschen vor.
    Durch diese vielen Unehrlichkeiten über mehrere Generationen hinweg entsteht dann die im Titel genannte Unschärfe der Jahre.
    Insgesamt ist es ein kluges Buch, das viel Potenzial zum Nachdenken bietet.
    Von mir gibt es einen Stern Abzug, weil ich einige Passagen in ihrer ausführlichen Darstellung von religiösen, politischen und moralischen Kontroversen als zu langatmig empfinde.
    Wer jedoch die Geduld für die 660 Seite aufbringt, kann viel über die Geschichte Nürnbergs und dessen Rolle in der NS-Zeit lernen.

  1. 3
    15. Okt 2024 

    Aufarbeitung einer bewegten Familienvergangenheit mit Längen

    Auf einer Anhöhe in Gründlach steht die Villa Sternbald, der Sitz der Unternehmerfamilie Finck. Erbaut hatte die stattliche Villa der Gründer der „Schulmöbelfabriken Finck“ Ferry Finck, der mit seiner Columba Schulbank 1897 auf der Erfindermesse in Paris die große Goldmedaille erhalten hat.
    Zum 103. Geburtstag des Großvaters Henry kehrt Nikolas Fink in sein Elternhaus zurück. Aus einem Wochenende wird ein Jahr, in dem Nikolaus seine Familiengeschichte neu aufrollt. Eine Gelegenheit, die bewegte Vergangenheit der Familie, besonders die Fincksche Rolle während des Nationalsozialismus, zu erzählen ergibt sich, als Dr. Achaz beauftragt wird, für das bevorstehende 125jährigen Firmenjubiläum die Ausstellung zur Unternehmensgeschichte zu planen.

    Meine persönlichen Leseeindrücke
    „Villa Sternbald“ ist eine voluminöse Geschichte über die aus Franken stammende Kaufmannfamilie Finck, die seit der Wilhelminischen Kaiserzeit Schulmöbel herstellt. Zeitlich umfasst der Roman weit gefasste Jahrzehnte und reicht bis 2014, in dem das 125jährige Bestehen gefeiert werden soll.
    Im Zentrum der Familiensaga steht der phantasiebegabte Erzähler Nikolas Finck mit seinen verschwimmenden, keinesfalls chronologisch, sondern anekdotisch springenden Erinnerungen an seine Kindheit und Jugendzeit. Der heute 42jährige, mäßig erfolgreiche Drehbuchautor, gibt sich philosophisch, fast schon prüde elitär, und ist doch unfähig, die öffentliche und einem Unternehmersproß würdige Form zu waren. Hinter ihm liegt eine jahrzehntelange Abarbeitung an der eigenen Familie, die in seinem Suizidversuch endete. Schuld daran sucht er in der Rolle der Finckschen Familie während des Nationalsozialismus, die kein gutes Licht auf die nach außen hin gut bürgerliche Erfolgsfamilie wirft.
    Anfangs finde ich den etwas verrückten Nikolas sympathisch und kann seiner Familiengeschichte einiges abgewinnen. Ich finde sie niveauvoll geschrieben. Wenngleich die philosophische-theologischen Dialoge, Abhandlungen und Traktate durchaus interessant sind, empfinde ich sie mit der Zeit sehr belehrend. Sie verlangsamen meinen Lesefluss, ziehen die eigentliche Romanhandlung, die Sicht auf die Unternehmerdynastie Finck, unnötig in die Länge. Eine um etliche Seiten kürzere Fassung hätten dem Roman besser gestanden.
    Nach 2/3 des Romans, der an die 650 Seiten füllt, fehlt mir der Kick, der meinen Lesewillen bei Laune hält. Nikolas Finck verlangt mir immer mehr ab. Dieser Zyniker, ewige Nörgler und Kritiker, für den ich am Anfang Verständnis aufbringen kann, verspielt sich mit seinem flegelhaften Auftreten meine Sympathie. Die einzelnen Erinnerungsbilder sind weiterhin wirklich schön und gut, doch nun zieht Langeweile ein und ich möchte auch endlich bei Nikolas Finck eine Wendung erleben.
    Schlussendlich flüchtet er in seiner Lebensunfähigkeit in die Phantasiewelt des Spielens. Einzig sein liebevoller Neffe Johannes hat sich in meinem Herzen mit seiner kindlich reinen Seele einen Platz erobert.
    Interessant ist Zeiners Entscheidung, vor allem männliche Romanfiguren in den Handlungen hervorzuheben, sie als tragende Säulen der Familiengeschichte einzubauen und bewusst die Unternehmensfrauen im Hintergrund zu halten und ihnen nur oberflächliche Rollen zuzuweisen.

    Fazit
    „Villa Sternbald“ erzählt eine Familiengeschichte über 5 Generationen, voller Unglück und Zweifel, wirtschaftlichem Erfolg, schwerer Vergangenheit und angepasster Wahrheit. 650 Seiten wollen gefüllt werden. Zeiner versucht mit einem gepflegten Schreibstil eine geschichtliche Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte zu bieten, doch ziehen ihre philosophisch-theologischen Ausführungen, deren Zusammenhang mit der Familiengeschichte mir nicht immer begreiflich sind, das Buch unnütz in die Länge.

    3,5 Sterne abgerundet

  1. Weniger wäre mehr gewesen

    „Ich war lange Zeit nicht mehr in der Villa Sternbald gewesen, aber ich hatte sie mir oft vergegenwärtigt, als müsste mir die Erinnerung etwas zeigen, das bisher verborgen gewesen ist.“ (Zitat Seite 7)

    Inhalt
    Seit Generationen stellt das Familienunternehmen Finck Schulmöbel her. Gegründet von Ferdinand „Ferry“ Heinrich Finck, ging es auf seinen Sohn Johann „Jean“ Finck über, obwohl dieser viel lieber Insektenforscher geworden wäre. Jeans Sohn Heinrich „Henry“ jedoch ist der geborene Unternehmer. Die Beziehungen der jeweiligen Söhne zu ihren Vätern ist in dieser Familie immer problematisch, es sind die Großväter, die sich um die Enkel kümmern. Daher entscheidet sich der schon als Junge phantasievolle Drehbuchautor Nikolas Finck, der vor vielen Jahren den Familiensitz, die Villa Sternbald, verlassen und seither nicht mehr betreten hat, nun doch an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, zum 103. Geburtstag seines Großvaters Henry. Obwohl es das Verhalten und die Entscheidungen seines Großvaters waren, die dazu geführt hatten, dass es zum Bruch kam, als Nikolas ein Jugendlicher war, der viele Fragen stellte, Fragen, die nicht oder ausweichend beantwortet wurden. Konkret ging es um die Übernahme des Unternehmens der Familie Stein, das ebenfalls Schulmöbel herstellte, im Jahr 1935. Aus den geplanten Tagen werden Wochen und Monate, in denen Nikolas in die Vergangenheit der Familie, in die Familiengeheimnisse und in seine eigenen Erinnerungen eintaucht. „Ist es, dachte ich, das Gedächtnis, das die Sanduhr umdreht und die Zeit immer wieder verrieseln lässt?“ (Zitat Seite 53)

    Themen und Genre
    In diesem deutschen Generationen- und Familienroman, geht es um Familiengefüge, Familiengeheimnisse, Halbwahrheiten, Erinnerungen, Kindheit, Erziehung, Gesellschaftsnormen, Philosophie, Religion, Konflikte und Gefühle – und Insekten in vielen Varianten. Ein wichtiges Kernthema ist das Verhalten der Familie während der Jahre des Nationalsozialismus.

    Erzählform und Sprache
    Monika Zeiner passt die gewählte Erzählform dieses Romans, der aus aneinandergereihten Episoden besteht, den Personen an, Nikolas Finck, die Hauptfigur, ist der Ich-Erzähler in der aktuellen Zeit. Die Geschichte seines Großvaters, Urgroßvaters, Ururgroßvaters wird in der personalen Form geschildert, mit jeweils einer der Figuren im Mittelpunkt. Die Rahmenhandlung, der Besuch von Nikolas in seinem Elternhaus, verläuft chronologisch, wird jedoch von eigenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, und von den zahlreichen Episoden aus dem Leben seiner Vorfahren unterbrochen. Die Erzählform ordnet die Handlung den Figuren und Anliegen unter, schildert nicht so sehr die Ereignisse, sondern vielmehr die Hintergründe, Konflikte und Befindlichkeiten der einzelnen Figuren, wodurch sich neben Dialogen, die nicht unbedingt mit einem realen Gegenüber geführt werden, es kann auch Gisberta, eine tote Feuerwanze sein, viele innere Monologe und Gedankenströme ergeben. Die Kernthemen der Autorin, Familiengefüge, Väter und Söhne, fehlende Mütter, Literaturverweise, Philosophische Abhandlungen, Religion, Kindheit und Erziehung im Wandel der Zeit, die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus, ergänzt durch umfassendes Wissen über Insekten, füllen die Seiten. Sprachlich hat mich dieser Roman sehr angesprochen, die gekonnten Sätze, Formulierungen und die brillanten Vergleiche machen Freude beim Lesen.

    Fazit
    „Von fließender Zeit kann in der Villa Sternbald keine Rede sein. Sie hat es nicht eilig, sie hat sich hier eingerichtet wie die Schnecke in ihrem Haus.“ (Zitat Seite 345)
    Diese Aussage beschreibt meiner Meinung nach auch perfekt den vorliegenden Roman, eine Geschichte, die sich breit und behäbig fließend statt packend über sechshundertfünfzig Seiten ergießt. Für mich nicht das richtige Buch, andere Leser begeistert es, wie die positiven Fachbewertungen zeigen.

  1. Abrechnung mit Nürnberg!

    Kurzmeinung: Wenig Roman und viel Vorlesung!

    In der Nähe von Nürnberg ist die großbürgerliche Schulmöbelfabrikantenfamilie Finck zuhause (Schul- und Büromöbel). Auch Faber-Castell hat dort seinen Sitz.
    Irgendwann einmal, um 1935 haben sich die Fincks die mit ihnen konkurrierende Steinsche Firma, die die modernere Sparte an Sitzmöbeln fabrizierte, nämlich die fürs Büro und nicht für die Schule, unter den Nagel gerissen. Günstig erworben, einfach fusioniert, behaupten sie, indem sie mit dem preiswerten Firmenkauf der jüdischen Familie Stein sogar noch einen Gefallen taten, die emigrierten und die Firma ja nicht mitnehmen konnten. Ins Konzentrationslager etwa? fragt Nick, der rebellierende, erwachsene Sohn des Hauses, spöttisch. Nick Fink war immer schon etwas anders, hochbegabt und als Kind und Jugendlicher misstrauisch seinen Eltern gegenüber, (zunächst) kritiklos ergeben jedoch dem Großvater.
    Nick ist die erzählende Kraft im Roman; dazu haben es auch andere Enkel-Großvaterpaare der Finckschen Dynastie der Autorin Monika Zeiner angetan. Anhand dieser Paarungen erzählt sie, chronologisch verzwickt, von den Fincks über die Jahrhunderte.

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Mein Leseerlebnis war nach den ersten 100 Seiten schon extrem frustrierend und ist es bis Ende geblieben und das, obwohl die Autorin extrem gekonnt komponiert. Und formulieren kann sie natürlich auch sehr gut. Es gibt keine Phrasen in diesem Buch. Monika Zeiner ist schon eine geniale Schriftstellerin!

    Doch. Monika Zeiner schreibt einen belehrenden Roman mit zahlreichen Bildungselementen, in welchem sich Nürnberger Reiseführersentenzen mit Monologen und Dialogen, die jedoch ebenfalls verkappte Monologe sind, über alles Deutsche und Deutschtümelndes abwechseln. Abhandlungen über Musik und Kunst, vor allem aber über Philosophie und Religion alterieren, wobei Christentumbashing viel mehr Wucht gegönnt wird als dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Es geht doch nichts über reine Theorie! Die Gesprächspartner von Nick und Nick selbst sind extrem entsetzt über die Abraham-Isaak-Fastopfergeschichte im Alten Testament und das viel mehr als über den Holocaust selbst. Schließlich kulminiert der Roman in einem zynischen Aufschrei über den Zeitgeist und dem Familienmotto: Tempora mutantur et nos mutamur illis.
    "Als es Zeitgeist war, Zwangsarbeiter zu haben, haben wir Zwangsarbeiter gehabt, als es Zeitgeist war, Zwangsarbeiter zu entschädigen, haben wir Zwangsarbeiter entschädigt, als es Zeitgeist war, Juden zu enteignen, haben wir Juden enteignet, und jetzt, wo es Zeitgeist ist, die Enteignung von Juden von einer Historikerkommission wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen, werden wir natürlich eine Historikerkommission einsetzen, die wir sogar von der Steuer absetzen können."

    Monika Zeiner arbeitet sich am Christentum ab wie viele Schriftsteller, obwohl wir alle vom Grundgesetz der Republik Deutschland profitieren, das bekanntlich auf den Zehn Geboten gründet. Das Christentum, obwohl über die Jahrhunderte von vielen oft in sein krasses Gegenteil verzerrt wie alle Religionen und/oder Ideologien, das ist wahr - ist es jedoch nicht, das die Weltordnung momentan gefährdet! An zeitgemäße Islamkritik aber trauen sich die Schriftsteller nicht heran!
    Was an deutscher Hochliteratur und -Kultur Rang und Namen, hat wird von Zeiner in ihren Roman „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ eingepflegt, zitiert und stilistisch imitiert: insofern ist Villa Sternbald ein großer Roman, weil er einen großen Bogen schlägt und tatsächlich viel Bildung intus hat: Mit Eichendorff geht man durch die Natur, man erwandert die Nürnberger Umgebung, immerzu den Moritzberg im Blick, der Faustsche Osterspaziergang wird nachgestellt, man musiziert ähnlich wie die (Thomas)Mannschen Frauen inniglich, preußisches Pflichtgefühl hat Kants Imperativ im Blick, vaterländischer Gehorsam wird durch Erziehung und die Schulmöbel kolportiert, deutsches Liedgut verkörpert sich durch Franz Schubert, auch das gemeine Volkslied hat seinen Auftritt und stellt das natürliche deutsche arische Volk. Der versponnene Hölderlin und mit ihm die ganze Romantik, das Todesmotiv und das Nachtdunkel, der vergeistigte Heidegger, deutsche Sagen und heilige Legenden taumeln durch die Köpfe davon verängstigter Kinder und dienen den Abendgesellschaften als höhere Konversation. Luther darf auch nicht fehlen beziehungsweise seine Verteufelung und das in Abrede stellen der Errungenschaften der Reformation. Dass wir Luther die einheitliche deutsche Sprache zu verdanken haben, wird unter den Tisch fallen gelassen. Noch darf Schillern fehlen mit seinem Gegensatzpaar Pflicht versus Neigung. Der Wald. Der Werther. Man kann sie gar nicht alle aufzählen. Gedanken über die Nationen. Und überall ist der Antisemitismus zuhause im guten deutschen Reich, manchmal offen zutage tretend und oft verborgen - den man zu Recht und für wahr anprangern muss und niemals damit aufhören bitte. Aber.
    „Villa Sternbald oder die Unschärfe der Jahre“ ist vor allem und in erster Linie ein dozierender Bildungsbürgertumroman per se, wie ich lange keinen mehr gelesen habe bis hin zur Läuterung des Protagonisten – aber das zieht sich!

    Monika Zeiner lässt ihre Figuren über Descartes, Horkheimer und Adorno reflektieren, wann begann die Erziehung, wurde Gott wirklich abgeschafft, wie hängen Unterwerfung, Autorität, Ordnung und Freiheit zusammen und sind die Menschenrechte nicht auch nur eine Definition, eigentlich eine rein koloniale Erfindung der Weißen? Humanismus, Absolutismus, Weltgeist – so geht es Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Die Protagonisten sind bloße Plattform fürs Zeiners Vorlesungen beziehungsweise derer Interpretationen. Todlangweilig ist das. Und widersprechen kann man auch nicht, wenn man anderer Meinung ist und ich bin oft anderer Meinung!
    Eine Figuren-Entwicklung dagegen gibt es kaum und bei aller gelehrten Theorie und Reflexion ist die Handlungsebene armselig. Daran ändern weder ein Silvestermaskenball etwas noch ein paar amouröse Verfehlungen noch die Rückgriffe und Erinnerungen in die jeweilige Jugend der männlichen Linie, noch eine schlussendliche Umkehr bzw. ganz klassische Läuterung. Das Dozieren, Reflektieren und monologisierende Einarbeiten (hauptsächlich) deutscher Literatur und Philosophie nimmt viel zu viel Raum ein. Ein bisschen Dramatik gibt es in den Schlusskapiteln, verpufft jedoch alsbald. Schade.

    Fazit: Hauptsächlich dozierend und belehrend! Gestelzte Gespräche sind regelrechte Miniabhandlungen mit vielen Kulturelementen, von Wagner über Goethe und die Bibel bis Kant. Dazu Christentumbashing aufs Feinste und Nürnberger Sightseeing plus Abrechnung bezüglich der Nichtaufarbeitung der NS-Zeit: Dies durchaus berechtigt – aber so? Es ist ein Roman fürs Bildungsbürgertum und fürs Feuilleton – ziemlich abgehoben, an einer Familiendynastie entlanggearbeitet. Überhaupt nicht mein Fall, obwohl ich die Kunstfertigkeit der Autorin nicht in Abrede stelle! Bestimmt gewinnt dieser Roman Preise. Und trotzdem: ich mag ihn nicht.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman
    Verlag, Dtv, 2024