Trauriger Tiger

Buchseite und Rezensionen zu 'Trauriger Tiger' von Neige Sinno
4
4 von 5 (13 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Trauriger Tiger"

Als Kind immer wieder sexueller Gewalt ausgesetzt, erzählt Neige Sinno von einem Familienleben, das um Lügen und Täuschungen herum gebaut ist. Und von den vielen Facetten von Erinnerung, den vielen Gesichtern eines Menschen in Ungeheuerlichkeit und Banalität. Wie werden wir zu denen, die wir sind? Kommt vor Gericht zur Sprache, was in Familien ungesagt bleibt? Neige Sinno erzählt vielstimmig, nähert sich ohne Pathos der Wahrheit.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
EAN:9783423284226

Rezensionen zu "Trauriger Tiger"

  1. Eine ebenso erschütternde als auch wichtige Geschichte

    Neige Sinno porträtiert sich selbst. Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, als es anfing, ganz sicher kann sie sich nicht sein, die Geschichte ihrer Vergewaltigung. Andere würden es Missbrauch nennen, aber die Autorin möchte es konkretisieren, es so nennen, wie sie es empfunden hat und wie es sich angefühlt hat. Ihr Stiefvater hat sich ihr kindliches Vertrauen erschlichen, denn obwohl Neige Scham empfand und spürte, dass etwas geschah, das nicht richtig war, dass er zu weit ging, hatte sie keine Worte gefunden. Er war der Erwachsene, der Verantwortliche für eine Schutzbefohlene. Sie sollte ihm sagen, dass sie ihn liebte und nett zu ihm sein, denn dann ließe er ihre Geschwister in Ruhe.

    Neige Sinno tastet sich an ihren Täter heran. Wie war er? Geachtet in der Nachbarschaft unter Freunden, hilfsbereit, handwerklich begabt. Gut aussehend, sagen die Frauen. Charismatisch und jovial war er, konnte anpacken, hatte Führungsqualitäten und das gefiel der Mutter, die zuvor an Neiges Vater gescheitert war.

    Neige war schnell klar, dass sie in der Falle saß. Wäre er verhaftet worden, hätte das Geld, das ihre Mutter mit Putzstellen dazuverdiente niemals gereicht um vier Kinder zu versorgen. Er war der Hauptverdiener. Neige war das älteste Kind und musste ihre Geschwister schützen. Sie lehnte ihren Stiefvater im Familienverbund weiterhin ab, war nicht nett zu ihm. Durch ihre Zurückweisung und Nichtakzeptanz verursachte sie ihm eine tiefe narzisstische Kränkung, die er mit immer heftigeren Praktiken quittierte. Neige hat sich wegdissoziiert, wann immer es ihr möglich war, in den Momenten, in denen sie nicht kurz vor dem Ersticken war.

    Fazit: Neige Sinno hat ein Martyrium öffentlich gemacht, das nicht selten, aber ohne jeden Zweifel erschütternd ist. Mit kluger analytischer Erzählstimme nähert sie sich ihrem Täter und sich selbst. Frei von Pathos schildert sie die abartigen Ereignisse, die sie erleiden musste, die sie zutiefst geprägt haben. Sie nähert sich auch ihrer Mutter, die von den Perversionen ihres Mannes und Vertrauten nichts gewusst haben will und findet Erklärungen. Auch über die mangelnde Bereitschaft der Gesellschaft den Fakten in die Augen zu sehen, der Ignoranz spricht sie. Von Männern, die in Kriegszeiten metzeln und vergewaltigen, um den Gegner bewusst bis in die nächsten Generationen zu traumatisieren und zu zerstören. Warum sie das machen? Weil sie es können. Ebenso nimmt sie Anstoß an der gesellschaftlichen Sexualisierung von Kindern und Jugendlichen am Beispiel Nabokovs Lolita. Die in den 50ern und lange danach als verführerische, provokante Jugendliche verherrlicht wurde, sodass sogar fähige Literaturkritikerinnen das Buch für eine Liebesgeschichte hielten. Die Autorin spricht darüber, dass der Vertrauensbruch, die Manipulation, die Akte an sich, sich so tief in ihre Seele gebrannt haben, dass kein Tag in ihrem Leben ein normaler Tag ist. Wie Albträume, Flashbacks, Depression und Selbstsabotage sie immer begleiten. Während ihr Stiefvater sich von seinem humanen Freiheitsentzug (halboffener Vollzug) wieder auf der Sonnenseite des Lebens befindet, bleibt seine Stieftochter eine „Damage Person“. Als ebenfalls von Missbrauch betroffene Frau hat mir das Buch einiges abverlangt. Ich möchte nicht verheimlichen, dass ich viele Passagen mit Herzrasen, Atemnot und Flashbacks gelesen habe. Eine weitreichende Erkenntnis, die mich nachhaltig zutiefst traurig macht, ist die, dass es da draußen so viele Männer gibt, die bereit sind anderen zu schaden, um einen Mangel zu kompensieren und sich ein gutes oder berauschendes Gefühl zu verschaffen. Machtmissbrauch scheint ein probates Mittel der Wahl zu sein, seine miesen Gefühle in einen Rausch zu verwandeln, ganz ohne Reue oder Beklemmungen und das stimmt mich nachdenklich.

  1. 3
    28. Okt 2024 

    Das Unsichtbare sichtbar machen

    Das Unsichtbare sichtbar machen
    Eine Rezension zu Neige Sinnos extrem persönlichen und offenen Memoiren „Trauriger Tiger“ über die eigene Geschichte des Missbrauchs durch den Stiefvater über viele Jahre hinweg fällt mir äußerst schwer. Als Kind wird sie im Alter zwischen 7 und 14 Jahren regelmäßig missbraucht und vergewaltigt. 20 Jahre später bricht die französische Autorin und Literaturwissenschaftlerin ihr Schweigen und verarbeitet ihre Geschichte in diesem Werk. In Frankreich eine Überraschung, mit vielen Preisen ausgezeichnet, breit diskutiert, ein literarischer Erfolg.
    Ich habe so viele Fragen an das Buch und auch an mich. Was hatte ich denn erwartet? Der Text hat mich mitgenommen, dann aber auch wieder weniger als gedacht, einzelne Passagen waren kaum zu ertragen, dann reihten sich wieder die z.T. ermüdenden Ausführungen über Literatur, philosophische Ansätze, die Wiederholungen, die Anschuldigungen, die Ausschweifungen, die hohen Ansprüche an andere aneinander.
    Das schlechte Gewissen regte sich, darf ich urteilen, darf ich einer anderer Meinung sein, darf ich bei diesem Thema, bei dieser Seelenschau Kritik üben?
    Lesegenuss war es nicht, trotzdem hat das Werk mich herausgefordert, ich habe viele Impulse bekommen, mein Verständnis erweitert, mitgelitten und mir wurden neue Denkansätze aufgezeigt. - Eigentlich alles das, was gute Literatur auch ausmacht!
    Positiv hervorheben möchte ich, dass es überhaupt nicht pornographisch oder voyeuristisch ist, von einer schockierenden Szene gleich zu Beginn abgesehen, die auch wichtig ist und einen das ganze Ausmaß erkennen lässt und plakativ vor Augen stellt - hier wird gezeigt, worum es geht, die Perspektive des kleinen Kindes, die unglaubliche Grausamkeit und Tabuverletzung des Täters, die Übergriffigkeit und Machtdemonstration auf der einen und Hilflosigkeit auf der anderen Seite.
    In dieser Hinsicht sicherlich ein wichtiges Buch, ein Text, der aus der Sprachlosigkeit herausführt, der im besten Fall auch andere Menschen ermutigt, sich gegen ihre Isolation, das Schweigen und die Täter aufzulehnen, mutig zu sein, in die Offensive zu gehen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.
    „Meine Wut ist gegen die Ungerechtigkeit in unserer Welt gerichtet, gegen die Gewalt des Schweigens.“ Neige Sinno

  1. Anspruchsvolle Auseinandersetzung mit einer MIssbrauchserfahrung

    Die Autorin war sieben, acht oder neun Jahre alt - genau weiß sie es nicht mehr - als der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater begann. Anders als die jüngere Schwester lehnt Neige den Stiefvater ab, verweigert die von ihm geforderte Zuneigung. Mit ihrer Ablehnung rechtfertigt er später auch den jahrelangen Missbrauch, der bis in die Pubertät hinein stattfand.
    Erst als Jungerwachsene offenbart sich Neige Sinno ihrer Mutter, später kommt es zum Gerichtsprozess. Das unerwartete Geständnis des Angeklagten führt zu der sonst vermutlich nicht erfolgten Verurteilung und einer mehrjährigen Haftstrafe. Danach gründet er eine neue Familie mit mehreren Kindern und lebt sein Leben aus Sicht der Autorin unbehelligt weiter.
    Im Gegensatz dazu prägt der Missbrauch in Kindheit und Jugend das weitere Leben der Autorin, sie verwendet die treffende Bezeichnung „damaged for life“. Besonders hervorzuheben ist der Mut der Autorin, die Missbrauchsszenen explizit zu benennen. Sie unterstreicht damit ihre Forderung, die Scham vom Opfer zu nehmen und auf den Täter zu übertragen.

    Man könnte jetzt erwarten, dass Neige Sinno einen schwer verdaulichen, mitleiderregenden Lebensbericht verfasst hat, der ihr ganzes bisheriges Leben als eine einzige Tragödie schildert. Das ist aber nicht so. Sie hat studiert, ist Literaturwissenschaftlerin, engagiert sich politisch und lebt mit dem Vater ihrer Tochter in einer Beziehung. Trotzdem ist der Schmerz Teil ihres Lebens und eine Art Antriebsmotor.

    Folgerichtig setzt Neige Sinno ihr eigenes Schicksal in Bezug zu anderen Betroffenen, fordert einen anderen Umgang mit den Opfern, die sie auch als Missbrauchsüberlebende bezeichnet. Sie informiert über erschreckend niedrige Prozentzahlen verurteilter Täter, stellt Studien über das erhöhte Risiko schwerer Erkrankungen für traumatisierte Menschen vor und zitiert ausführlich Beispiele aus der Literatur. Der ständige Wechsel von persönlichen und eher wissenschaftlichen Informationen macht die Lektüre insbesondere im Mittelteil gelegentlich zu einer Herausforderung, deren Bewältigung sich insgesamt aber lohnt.

    Besonders berührt hat mich das Gespräch mit ihrer kleinen Tochter, als sie ihr sehr kindgerecht von dem Missbrauch erzählt, nicht weiter insistiert und offensichtlich richtig verstanden wurde.

    Berechtigterweise hat Trauriger Tiger etliche namhafte Literaturpreise sowohl in Frankreich als auch international erhalten. Neige Sinno hat einen wichtigen Beitrag zur notwendigen Auseinandersetzung mit dem weit verbreiteten sexuellen Missbrauch von Kindern geliefert, der hoffentlich viele Leser:innen erreicht.

  1. Schwieriger Zugang zum Thema Kindesmissbrauch

    "Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat." (Jean Paul Sartre)
    Mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester und den Hippie-Eltern wächst Neige Sinno in einem kleinen Ort in den französischen Alpen auf. Als die Mutter einen anderen Mann kennenlernt, lässt sie sich scheiden, um mit dem attraktiven Bergführer und den beiden Kindern, so wie zwei weitere kommen bald hinzu, auf einem heruntergekommenen Bauernhof zusammenzuleben. Sieben Jahre lang wird Neige Sinno während dieser Zeit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Ihr Martyrium beginnt, als sie ungefähr sieben Jahre alt ist. Genau jedoch kann sie sich nicht mehr erinnern. Erst mit 21 Jahren zeigt sie ihren Peiniger an und geht vor Gericht. In ihrem Buch nähert sich die Autorin jener Vergangenheit, in der sie Parallelen und Ähnlichkeiten aus der Literatur wie z. B. "Lolita" von Vladimir Nabokov sucht. Ausgezeichnet mit einigen Literaturpreisen hat dieses Buch zahlreiche Herzen in Frankreich berührt.

    Meine Meinung:
    Ich will ehrlich sein, mich hat dieses Buch leider viel zu wenig berührt. Der beschwerliche Schreibstil und die vielen Passagen zu literarischen Werken überfordern mich leicht. Ebenso wenig gefällt mir, dass sie doch recht knapp und gefühlskalt über ihre eigene Vergangenheit und das eigentliche Anliegen berichtet. In diesem Buch werden eher die Familie, die Tat im Allgemeinen und der Täter durchleuchtet als das eigentliche Opfer. Gestört haben mich außerdem die zahlreichen Wiederholungen von einzelnen Passagen. Natürlich kann ich verstehen, warum die Autorin in diesem Buch nur wenige Details über ihren eigenen Missbrauch eingeht. Doch warum dann dieses Buch, frage ich mich, wenn sie im Grunde nicht groß auf sich selbst eingeht? Hätte ich zuvor gewusst, dass die Autorin eine studierte Literaturwissenschaftlerin ist, hätte ich sehr wahrscheinlich Abstand davon genommen. Allerdings muss ich dem Satz zustimmen: "Dieses Buch macht Angst, bevor man es gelesen hat; wenn man es dann liest, verliert man die Angst sofort." Natürlich überlegt man, wenn es um das Thema Kindesmissbrauch geht, werde ich das wohl verkraften. Doch in diesem Buch ist es definitiv der Fall, denn die Autorin geht nur gering auf detaillierte Beschreibungen von damals ein. Im Gegenteil, sie versucht auf eine ganz andere Art und Weise als sonst, sich diesem Thema zu nähern. Für Neige Sinno jedoch steht fest: Kindesmissbrauch ist keine Prüfung, kein Zwischenfall im Leben, sondern eine Erniedrigung, die die Grundfesten eines selbst zerstören. Wer einmal Opfer war, der ist immer Opfer. Selbst wenn es einem irgendwann gut geht, wird man diesen Makel nie wieder ganz loswerden. Sie fragt sich: Wer sind diese Täter, die so etwas ihren Opfern antun? Schade finde ich allerdings, dass sie viel zu sehr verallgemeinert, statt wirklich über ihre eigenen Gefühlswelt zu berichten. Wahrscheinlich ist dies genau der Grund, warum ich zu Buch und Autorin nie einen richtigen Zugang finde. Fassungslos macht mich außerdem, wieso ihre eigene Mutter nichts davon gewusst haben soll und warum sie nach der Anzeige ihrer Tochter noch ein Jahr lang bei ihm geblieben ist. Natürlich sind ihre beiden jüngsten Kinder noch zu jung und sie mitten in der Ausbildung, trotzdem bleibt es für mich unbegreiflich. Während der Täter dann nach 9 Jahren Haft wieder freikommt und eine neue Familie gründet, wird sein Opfer die Taten lebenslang nicht vergessen. Überrascht haben mich allerdings die vielen Beispiele aus der Literatur zum Thema Missbrauch. Einiges finden wir im oben erwähnten Werk „Lolitas“ Nabokov, Virginia Woolf, Christine Angot oder Emmanuel Carrère. Immer wieder zieht sie aus diesen Werken Schlüsse und stellt sich selbst die Frage, wie sie überhaupt über ihre eigenen Erfahrungen erzählen soll. Andererseits widert es sie an, überhaupt über diese Vergangenheit zu berichten. Wahrscheinlich sind ihre Gefühle deshalb im Buch so knapp bemessen. Mich hat es leider nicht vollständig überzeugt, weshalb ich nur 3 Sterne vergebe.

  1. Lebenslang

    Lebenslang

    Eine besonders gravierende Form von Traumatisierung erleidet, wer als Kind sexuelle Gewalt durch eine Bezugsperson erfährt. Obwohl jede Vergewaltigungsgeschichte einzigartig ist, ähneln sich die Folgen: Lebenslang drängen sich Erinnerungen auf, Heilung im Vergessen gibt es nicht.

    Die heute in Mexiko lebende, 1977 in den französischen Alpen geborene und dort aufgewachsene Literaturwissenschaftlerin und Autorin Neige Sinno beschreibt es so:

    "Doch wohin auch immer ich ging, in welchem Augenblick auch immer – ich wandte mich um sah seinen Schatten." (S. 177)

    Gestohlene Kindheit
    Neige Sinno hat erlebt, worüber sie in ihrem 2023 in Frankreich erschienenen und vielfach ausgezeichneten autofiktionalen Memoir "Trauriger Tiger" schreibt, einem erzählenden Sachbuch in Ich-Form. Im Alter zwischen etwa sechs oder sieben und vierzehn Jahren wurde sie fortgesetzt von ihrem Stiefvater missbraucht, seiner Aussage nach nicht aus sexuellem Interesse, sondern aus Liebe und von ihr dazu getrieben, da er anders nicht mit dem widerspenstigen Kind nicht in Kontakt treten konnte. Erst als Studentin in den USA und aus Sorge um ihre jüngeren Halbgeschwister öffnete sie sich ihrer wohl tatsächlich ahnungslosen Mutter und gemeinsam erstatteten sie Anzeige. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen wurde ihr sofort geglaubt, zumal der Täter geständig war. Während er jedoch nach einigen Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen und mit einer jüngeren Frau eine zweite Familie gründen konnte, währt ihre Beschädigung fort:

    "Damaged for life". (S. 190)

    Nicht schweigen
    "Trauriger Tiger" ist nur zum kleineren Teil Tatsachenbericht und einen Missbrauch durch Voyeure halte ich damit glücklicherweise für nahezu ausgeschlossen. Vielmehr setzt sich Neige Sinno mit den Fragen nach dem Warum, Schuld, Strafe, Täterpsychologie, Folgen für die Überlebenden, dem juristischen, politischen und gesellschaftlichen Umgang damit früher und heute und – besonders ausführlich - mit der Verarbeitung in der Weltliteratur auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Motivation für das Buch, denn sie, die stets jegliche Therapie ablehnte, glaubt nicht an die Mär vom Schreiben als Therapie:

    "In Wahrheit geschieht das Gegenteil, das heißt, derjenige, der schreibt, zeichnet usw. ist de facto der Hölle bereits entkommen, nur deshalb kann er schreiben." (S. 94)

    Für Neige Sinno stehen Wahrheitssuche und der Bruch des Schweigens im Vordergrund, jedoch weder mit Hilfe eines rührseligen Opferbuchs noch in Form von Literatur, sondern als Lebensbericht, wozu die unspektakuläre, emotionsarme und bisweilen brutale Sprache passt.

    Kein Happy End, aber ein kleiner Triumph
    Es war mir nicht immer möglich, den Gedankengängen einer Betroffenen zu folgen, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Thema Missbrauch aus allen erdenklichen Blickrichtungen beschäftigt. Über manche Absätze und sich wiederholende Gedankenkreisel habe ich deshalb hinweggelesen und trotzdem aus dem Rest enorm viele Informationen und Denkanstöße mitgenommen. Nicht immer glücklich war ich mit der gewiss schwierigen Übersetzung: Eine Wendung wie „Er ließ sich einfach sterben.“ (S. 70) existiert im Deutschen nicht und ist missverständlich. Bei der Übertragung der abgedruckten Zeitungsartikel störten mich inhaltliche Ungenauigkeiten wie beispielsweise „son object sexuel“, das zu „ein Sexualobjekt“ (S. 85) wird - ein kleiner, aber nicht unbedeutender Unterschied.

    Ein Happy End für die Überlebenden kann es nicht geben, aber dass Neige Sinno mit bewundernswerter Resilienz den Kopf knapp über Wasser hält, wie die Schwimmerin auf dem Cover, ist dennoch ein kleiner Triumph:

    "Stolpern, das schon, aber, noch einmal, nicht fallen. Nicht fallen. Nicht fallen." (Schlusssätze S. 296)

  1. Was oftmals ungesagt bleibt

    Genau weiß sie nicht mehr, wie alt sie war, als die sexuelle Gewalt begann. War sie erst sechs Jahre alt oder bereits sieben? Wie ihr Stiefvater sie über etliche Jahre in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder missbraucht und vergewaltigt hat, daran erinnert sie sich detailliert. Die Wahl-Mexikanerin und gebürtige Französin Neige Sinno hat erst als Studentin die Entschlossenheit und den Mut, ihren Peiniger anzuzeigen und vor Gericht gegen ihn auszusagen. Mit Mitte 40 findet sie schließlich die Worte, ihre traumatischen Erlebnisse in schriftlicher Form zu beschreiben…

    „Trauriger Tiger“ ist ein autobiografisches Buch von Neige Sinno, das mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist.

    Die Einordnung des non-fiktionalen Werkes in ein Genre ist schwierig: Ist es ein Memoir, wie die Autorin an einer Stelle des Buches behauptet, oder ein Lebensbericht, wie sie es an anderer Stelle tut? Oder handelt es sich gar um ein Essay, wie die letzten Seiten anmuten? Eindeutig lässt sich das Werk nicht zuordnen.

    Stilistisch mäandert das Buch. Mal erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte und die Missbrauchserlebnisse nach, mal gibt sie auf essayistische Art ihre Reflexionen über Psychologie, Philosophie, Kriminalistik, Justiz und ähnliche Themen wider, mal zieht sie Verbindungen zur Weltliteratur, mal fügt sie Briefe und Zeitungsartikel ein. Zwar ist das Buch in zwei Teile untergliedert, die sie als Kapitel bezeichnet und die aus einigen mit Überschriften versehenen Passagen bestehen. Diese äußerliche Struktur sorgt jedoch nur bedingt für eine inhaltliche. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Schriftstellerin ihre Gedanken wie bei einem Bewusstseinsstrom nur unzureichend sortiert niedergeschrieben hat, denn sie springt thematisch immer wieder hin und her und erzeugt Redundanzen.

    Die Sprache ist schnörkellos, oft nüchtern, sehr offen und direkt, aber nicht effekthaschend oder überdramatisierend. Zwar bedient sich der Autorin mittels Zitaten anderer Werke. Wie sie selbst betont, greift sie aber nicht auf das literarische Schreiben zurück. Manche Formulierungen haben sich mir auch nach mehrfachem Lesen nicht in Gänze erschlossen. Das mag jedoch gegebenenfalls an der deutschen Übersetzung liegen.

    Die Stärke des Romans ist darin zu sehen, dass Sinno nicht nur die bloßen Fakten ihres Falls schildert und ihre persönlichen Umstände aufdröselt. Sie zieht auf den rund 300 Seiten Parallelen zu anderen Schicksalen, analysiert die Mechanismen des Missbrauchs und bietet Einblicke, wie es Opfern nach solchen Taten geht und wie sie mit diesen furchtbaren Erfahrungen weiterleben. Ihre Gedanken zu Aspekten wie der Prävention, Bestrafung und Verarbeitung ihrer schlimmen Erlebnisse finde ich sehr erhellend. Damit rüttelt sie nicht nur auf und setzt ein Schlaglicht auf das wichtige Thema des Kindesmissbrauchs, sondern liefert auch Denkanstöße für die Gesellschaft. Gleichzeitig gibt sie anderen Betroffenen, die sich kein Gehör verschaffen konnten, mit ihrem Buch eine Stimme.

    Etwas schade ist, dass der Titel, der wortgetreu aus dem Französischen („Triste tigre“) ins Deutsche übertragen wurde, wohl von einem anderen Werk abgekupfert wurde. Das Cover ist in mehrfacher Hinsicht überzeugend, wobei es leider nicht die Autorin selbst darstellt, wie man auf den ersten Blick missverständlicherweise meinen könnte.

    Mein Fazit:
    Mit „Trauriger Tiger“ hat Neige Sinno einen wichtigen und interessanten Text geschrieben, der mich inhaltlich überzeugen konnte, aber auf sprachlicher und stilistischer Ebene schwächelt. Ein in seiner Form einzigartiges Buch.

  1. Die Opfer sollen gehört werden

    Als ich mit dem Buch “Trauriger Tiger” von Neige Sinno begann, war ich sehr erstaunt, dass die Autorin, die uns ihre Lebens- und Leidensgeschichte erzählt, so nüchtern dabei vorgeht. Mittlerweile verstehe ich das und auch für mich war es im Grunde besser so, denn ansonsten hätte ich das Buch wohl nicht beenden können, denn es hat mich enorm mitgenommen.
    Sie berichtet von dem sexuellen Missbrauch, den sie durch ihren Stiefvater erleiden musste und das sehr sachlich. Sie nutzt teilweise obszöne Worte, die man nicht erwarten würde, dass auch wohl zum Großteil um sich selbst zu schützen.
    Ihre Mutter heiratete diesen netten und überall geschätzten Mann, der leibliche Vater von Neige verschwindet bald gänzlich aus ihrem Leben, doch hinter der Fassade war er sehr jähzornig, so dass die Familie, aus der neue Kinder entstanden, vorsorglich Punkte zu vermeiden suchte, die ihn wütend machen könnten.
    Sinno hat als Kind viele Jahre geschwiegen, aus Angst, und hat auch später noch einige Zeit gebraucht um es anzuzeigen. Sie wollte ihre Geschwister schützen, zumindest war dies der Grund den sie dann letztendlich benennt.

    Ich möchte an dieser Stelle hier in der Rezension gar nicht auf nähere Details und Eindrücke eingehen, ebenso wenig werde ich vom Prozess oder von Sinnos weiterem Leben berichten, denn diese Punkte sollte man sich als Leser selbst erarbeiten.
    Man sollte den Weg der Autorin gehen, den sie uns gehen lässt, auch wenn er oft an eigene Grenzen bringt. Sie verwendet viele Passagen aus der Literatur über Missbrauch, die meisten Werke sind für mich Neuland gewesen. Oft konnte ich nicht alles nachvollziehen, was sie beschreibt. Doch das konnte ich ihr auf jeden Fall nachsehen, denn sie war schonungslos ehrlich, und wenn sie Dinge so formuliert, dann, weil sie ihr so in den Sinn gekommen sind, und für sie genau so Sinn ergeben. Sicher gibt es Leser, die auch einen nutzen aus diesen Passagen ziehen können.
    Die Tatsache, dass es hier um fundierte Fakten geht und keine selbsterdachte Lebensbeichte ist, tat ihr übriges. So vieles davon wäre mir nicht in den Sinn gekommen, wie auch, diese Gefühle kann wohl nur ein Missbrauchsopfer nach außen tragen. Doch da dies immer noch selten geschieht, stimme ich Sinno zu, denn die Opfer brauchen eine Stimme. Eine Stimme, die sie hier, durch die Autorin, auf jeden Fall bekommen haben.

    Das Buch hat in Frankreich wie eine Bombe eingeschlagen, wurde vorher aber von vielen Verlagen abgelehnt. Ich hoffe, dass es hier in Deutschland oft gelesen wird!

  1. Die Opfer sollen gehört werden

    Als ich mit dem Buch “Trauriger Tiger” von Neige Sinno begann, war ich sehr erstaunt, dass die Autorin, die uns ihre Lebens- und Leidensgeschichte erzählt, so nüchtern dabei vorgeht. Mittlerweile verstehe ich das und auch für mich war es im Grunde besser so, denn ansonsten hätte ich das Buch wohl nicht beenden können, denn es hat mich enorm mitgenommen.
    Sie berichtet von dem sexuellen Missbrauch, den sie durch ihren Stiefvater erleiden musste und das sehr sachlich. Sie nutzt teilweise obszöne Worte, die man nicht erwarten würde, dass auch wohl zum Großteil um sich selbst zu schützen.
    Ihre Mutter heiratete diesen netten und überall geschätzten Mann, der leibliche Vater von Neige verschwindet bald gänzlich aus ihrem Leben, doch hinter der Fassade war er sehr jähzornig, so dass die Familie, aus der neue Kinder entstanden, vorsorglich Punkte zu vermeiden suchte, die ihn wütend machen könnten.
    Sinno hat als Kind viele Jahre geschwiegen, aus Angst, und hat auch später noch einige Zeit gebraucht um es anzuzeigen. Sie wollte ihre Geschwister schützen, zumindest war dies der Grund den sie dann letztendlich benennt.

    Ich möchte an dieser Stelle hier in der Rezension gar nicht auf nähere Details und Eindrücke eingehen, ebenso wenig werde ich vom Prozess oder von Sinnos weiterem Leben berichten, denn diese Punkte sollte man sich als Leser selbst erarbeiten.
    Man sollte den Weg der Autorin gehen, den sie uns gehen lässt, auch wenn er oft an eigene Grenzen bringt. Sie verwendet viele Passagen aus der Literatur über Missbrauch, die meisten Werke sind für mich Neuland gewesen. Oft konnte ich nicht alles nachvollziehen, was sie beschreibt. Doch das konnte ich ihr auf jeden Fall nachsehen, denn sie war schonungslos ehrlich, und wenn sie Dinge so formuliert, dann, weil sie ihr so in den Sinn gekommen sind, und für sie genau so Sinn ergeben. Sicher gibt es Leser, die auch einen nutzen aus diesen Passagen ziehen können.
    Die Tatsache, dass es hier um fundierte Fakten geht und keine selbsterdachte Lebensbeichte ist, tat ihr übriges. So vieles davon wäre mir nicht in den Sinn gekommen, wie auch, diese Gefühle kann wohl nur ein Missbrauchsopfer nach außen tragen. Doch da dies immer noch selten geschieht, stimme ich Sinno zu, denn die Opfer brauchen eine Stimme. Eine Stimme, die sie hier, durch die Autorin, auf jeden Fall bekommen haben.

    Das Buch hat in Frankreich wie eine Bombe eingeschlagen, wurde vorher aber von vielen Verlagen abgelehnt. Ich hoffe, dass es hier in Deutschland oft gelesen wird!

  1. 4
    05. Okt 2024 

    Literarische Reflexion einer Missbrauchsüberlebenden

    Schonungslos, offen und mit deutlichen Worten berichtet die Autorin Neige Sinno über ihre zerstörte Kindheit als Missbrauchsopfer. Über viele Jahre hinweg wurde sie in den 1980er Jahren von ihrem Stiefvater etwa seit ihrem 7. Lebensjahr missbraucht und vergewaltigt. Niemand bemerkte ihr Leid, erst nachdem der Missbrauch endete, viele Jahre später, konnte sich die Autorin nach Gesprächen mit Freunden öffnen und schließlich den Stiefvater anzeigen.
    Es folgte ein Prozess, der sehr wahrscheinlich nur deswegen zur Verurteilung führte, da der Stiefvater geständig war. Und doch wird er wegen guter Führung frühzeitig entlassen, kehrt zurück, findet eine neue, junge Frau und gründet mit ihr wieder eine Familie. The story repeats itself.
    Wie leicht es dem Täter gemacht wird, sich jahrelang unentdeckt auszuleben, dass eine Verurteilung sehr wahrscheinlich nur gelingt, da er geständig ist und dass er danach wieder mit Frau und Kindern auf einen abgelegenen Hof leben kann, ist nur eines der gesellschaftlich relevanten Themen, die die Autorin anspricht und diskutiert.
    Wie gehen wir als Gesellschaft mit Straftätern, insbesondere Vergewaltigern und Missbrauchstätern um, was ist ein adäquates Strafmaß, darf es strafmildernde Umstände geben und kann ein strafmildernder Umstand sein, dass das Opfer nicht völlig zerbricht? Wie sinnvoll sind Therapien? Gibt es Einvernehmlichkeit? Wie gehen wir mit Missbrauchsüberlebenden um, die lebenslänglich unter dem leiden, was ihnen angetan wurde? Wie kann man helfen, damit sie nicht nur sensationslüstern von Talkshow zu Talkshow durchgereicht werden?
    Neige Sinno hat Unglaubliches geschafft, sie ist nicht an ihrer Vergangenheit zerbrochen. Und doch wird sie immer eine Überlebende des Missbrauchs bleiben. Da sie keine therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen konnte und wollte, verarbeitet sie ihr Schicksal auf ihre eigene Art.
    Das Buch ist ein Stück Autobiographie, ein Stück Erinnerung, ein Stück Interpretation und ein Stück Literatur. Die studierte Literaturwissenschaftlerin setzt sich mit verschiedenen Autoren und Werken auseinander, um über ihre eigene Vergangenheit zu reflektieren und schafft damit einen ganz eigenen Zugang. Im Vergleich zu verschiedenen Romanen und Schriften, wie Vladimir Nabokovs „Lolita“, Virginia Woolfs Aufzeichnungen und Emmanuel Carrères "Widersacher" arbeitet sie ihre eigenen Empfindungen und Erlebnisse auf, macht Überlegungen zu den inneren Abgründen der Täter und setzt die Ergebnisse literarisch um. Dies ergänzt sie um ihre persönlichen philosophischen Ansichten und moralischen Werte, setzt sich mit den Abgründen des menschlichen Zusammenlebens auseinander und kommt so zu einem komplexen Werk.
    Sprachlich ist das Buch distanziert gehalten, in einem nüchternen Stil verfasst, der von der Übersetzerin Michaela Meßner überwiegend gut wiedergegeben wird. Wenn sie in ihre Gedanken und Werte eintaucht wird der Schreibstil komplexer, lebendiger. In der Literatur fühlt sie sich zu Hause, hier kann sie sich gut ausdrücken. Die diversen Gedankengänge sind dann manchmal zu komplex und verwirrend, was aber wohl ihrer jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema und ihrem eigenen Denkprozesse geschuldet ist. Im zweiten und dritten Abschnitt fallen einige Redundanzen auf, die möglicherweise der Schwere und Gewichtung von Neige Sinno entsprechen mag.

    Ihre Geschichte ist wichtig und muss erzählt werden, sie muss Gehör finden. Nicht nur als eine Geschichte einer Missbrauchsüberlebenden, sondern auch einer Frau, die ein Thema in die Öffentlichkeit tragen möchte. Nicht als ewiges Opfer, sondern als Kämpferin, die radikal, offen und mutig gegen das Schweigen kämpft. Das Gedicht „The Tyger“ von William Blake, dem der Titel entnommen ist, macht deutlich, dass es immer den Dualismus zwischen Gut und Böse gibt, dem Schutzlosen und dem, der ihn schaden will.
    Für mich gemahnt uns Neige Sinnos Buch stets zur Wachsamkeit, Wachsam zu bleiben gegenüber dem Bösen in unserer Gesellschaft, das Schutzbedürftige zu schützen und dafür mit klaren Worten einzustehen.

  1. 4
    05. Okt 2024 

    Blick in den Abgrund

    Schon auf den ersten zwanzig Seiten dieses Buchs wird der Leser mit dem Verbrechen, um das es hier geht, der Vergewaltigung eines minderjährigen Kindes, konfrontiert. Die Konfrontation geschieht auf drastische, kaum erträgliche Weise durch die Schilderung des Geschehenen.

    Die Autorin Neige Sinno beschreibt ihren Stiefvater, den Täter des Verbrechens, als allseits beliebten, charismatischen Bergführer. Ein Frauentyp, gutaussehend und naturverbunden. Ihre Mutter und ihr leiblicher Vater bezeichnete man in der Kindheit der Autorin, in den 1970igern und 1980iger Jahren als sie in den französischen Alpen aufwuchs, als Hippies, als Freigeister mit wenig Geld. Das Idyll endet, als der leibliche Vater seine Frau und Kinder verlässt und die Mutter den charismatischen Bergführer heiratet und mit ihm noch zwei Kinder bekommt.

    Der Leidensweg Neiges, der jahrelange Missbrauch, endet erst mit dem Einsetzen ihrer Pubertät. Das Verbrechen wird sie erst Jahre später als erwachsene Frau anzeigen. Der Stiefvater wird zu mehrjähriger Haftstrafe verurteilt, die Mutter trennt sich von ihm.

    Soweit die Geschichte wie sie sich tatsächlich zugetragen hat, wie u. a. Zeitungsauschnitte, die in den Text eingefügt sind, belegen. Der Text ist nicht nur mit Zeitungsauschnitten versehen, auch Zitate berühmter Schriftsteller, etwa aus Nabokovs Roman Lolita, tauchen auf, Märchen und Legenden werden eingeflochten. Sinno schreibt hier keinen Roman. Sie bezeichnet ihr Buch selbst als kurzes Memoir und als Lebensbericht.

    M .E. ist es eine umfassende Reflexion über das Thema Vergewaltigung und Kindesmissbrauch, in der sie sich mit dem Thema philosophisch, psychologisch, juristisch, literaturwissenschaftlich, letztendlich in jeder nur denkbaren Weise auseinandersetzt. Eingestreut ist immer wieder die Wiedergabe dessen, was sie selbst erlebt hat. Letzteres in einer gnadenlos ehrlichen Sprache, in der nichts von dem, was schreckliches passiert ist, verschwiegen wird. Das ist schwer zu ertragen. Und doch bleibt die Erzählstimme seltsam distanziert und emotionslos. Sie jammert nicht, will kein Opfer sein, will kein Mitleid, wobei das Verhältnis zwischen ihr und dem Täter, ihre Charaktere, in langen Gedankenströmen analysiert werden.

    Doch auch auf ihre unbestreitbar vorhandene Resilienz will Sinno sich nicht reduzieren lassen. Sie bleibt eine hervorragende Schülerin, führt ein scheinbar gutes Leben, bleibt ein selbstbewusstes Kind. Umfassend analysiert sie, dass all das die Tat keinesfalls in ein verharmlosendes Licht stellen darf. Durch die umfassende Beleuchtung dieses grauenhaften Themas wird sehr deutlich, dass hier, trotz aller sogenannten Resilienz, eine zutiefst verletzte Seele schreibt, ein Mensch, dem großes Unrecht und Leid angetan wurde. Ihre Gedankengänge sind teilweise anstrengend zu lesen, bisweilen verschwurbelt und nicht immer verständlich. Dennoch zeigt Sinno die Abgründe auf, die sich für sie, ihre Familie, die Gesellschaft, in der wir leben, durch ein solches Verbrechen auftun.

    Ich habe sie nach der Lektüre des Buches als außerordentlich starke Persönlichkeit empfunden, die es geschafft hat, trotzdem weiterzuleben. Was der Autorin gelingt ist, dass sie das Thema aus der gesellschaftliche Tabuzone herausholt. Das ist das Verdienst dieses Buchs. Man kann nur hoffen, dass sie viele Leser findet und das Buch dazu beiträgt, derartige Verbrechen aufzudecken, zu verhindern und zu bestrafen.

    Ich vergebe 4 Sterne.

  1. Jahrelanger Missbrauch eines Mädchens – Versuch einer Aufarbeitu

    'Betrachte diesen Text als ein Ganzes...' (51) und 'Dieses Buch schreibe ich auf der Suche nach der Wahrheit' (114), sagt die Autorin zum Leser.

    Der Beginn ist schockierend, aber so weiß der Leser gleich Bescheid, wie die Autorin schreibt: mit radikaler Offenheit ohne Umschreibung, auch wenn es anfangs nur ein einzelner Satz ist und wenn auch im Weiteren über das Schreckliche nur kurz informiert wird. Es ist immer noch ein gesellschaftliches Tabu, über die Vergewaltigung und den Missbrauch von Kindern zu sprechen, aber es ist falsch zu schweigen. Man muss Bescheid wissen, um Anzeichen erkennen und um Position beziehen zu können, auch wenn es traurig und bedrückend zu lesen ist.

    Die kleine Neige wird jahrelang von ihrem Stiefvater vergewaltigt, auf alle möglichen Arten, ohne dass irgendjemand etwas merkt oder merken will. Erst als sie schon aus dem Hause ist, mit ca. 20 Jahren, zeigt sie den Stiefvater an und erstaunlicherweise gibt er seine Taten zu und wird verurteilt. Wegen guter Führung wird er früher entlassen und gründet eine neue Familie mit einer viel jüngeren Frau. Wie es ihm genau damit geht, erfahren wir nicht, wohl aber einiges über die Seelenqualen von Neige Sinno, die inzwischen selber Mutter einer Tochter ist.

    Die Autorin nähert sich dem Vorgefallenen aus allen möglichen, auch aus literarischen Perspektiven (z.B. 'Lolita' von Nabokov). Auch wenn sie eine bemerkenswerte Resilienz bewiesen hat, ist sie doch für das ganze Leben gezeichnet. Der Stiefvater ist jemand, 'der Böses tut, der weiß, dass er gerade ein anderes Wesen zerstört' (31).

    Ich vergebe fünf Sterne, weil das Buch mir zu Erkenntnissen verholfen hat, auf die ich alleine nicht gekommen wäre und weil es viele ethische und moralische Fragen auf. Sinno legt die perfiden Methoden solcher Menschen offen, die ein Kind unter Druck setzen. So droht er z.B. unterschwellig, dass ihre Geschwistern etwas passieren könnte oder er spricht von Liebe, dies nur ein kleiner Ausschnitt aus den Möglichkeiten.

    Viele ethische, allgemeingültige Fragen sind zu überlegen, ohne dass man zu einem Ergebnis kommt, z.B. Wie ist es mit Recht und Gerechtigkeit, mit dem Strafmaß, der Entsprechung von Taten und Gefängnisjahren? Was ist mit Verjährung solcher Straftaten? Kann man Schlimmes miteinander vergleichen oder gar aufrechnen? Waren die Taten vielleicht gar nicht so schlimm, weil Neige Sinno lebend aus der Misere hervorgegangen ist? Wie ist es mit den Motiven eines solchen Täters? Ist es krankhaft oder Machtmissbrauch? Kann es beim Sex mit Kindern Einvernehmlichkeit geben?

    Was sind die Folgen, wenn man eine solche Tat öffentlich macht, anzeigt? Eines ist sicher: die Familie ist zerstört, das Ansehen beschmutzt, vielleicht sogar das der Nachbarschaft mit.

    Das sind alles Fragen, die die Gesellschaft umtreiben und die man zwar erst mal emotional beantworten möchte, die aber doch einer gründlicheren Überlegung bedürfen. Es sind teilweise auch Fragen, die mich noch eine Weile oder immer wieder beschäftigen werden, denn Gewaltanwendung und der Umgang damit ist ein gesellschaftliches Problem.

    Fazit

    Die Autorin bezeichnet ihr Buch selbst als Zeugnis, als Memoir. Es war sehr mutig von Neige Sinno, dieses Thema ins Licht der Öffentlichkeit getragen zu haben. Dabei geht das von ihr Angesprochene weit über ihre persönlichen Erfahrungen hinaus. Auch wenn es einige Widersprüchlichkeiten in dem gibt, was sie schreibt, wenn ich auch einiges nicht verstanden habe, wie könnte es anders sein, wenn man unter einem lebenslangen Trauma leidet?! Es lohnt sich zu lesen, aber man sollte seelisch stabil sein.

  1. 3
    03. Okt 2024 

    Aufarbeitung eines schwer erträglichen Schicksals

    Ich tue mich bei diesem Buch sehr schwer, meine Meinung zu äußern, weil das erzählte dargelegte Schicksal für mich so unglaublich schwer zu ertragen scheint und was soll ich, als Außenstehende, schon dazu sagen?
    Das Unrecht, dem Neige jahrelang ausgesetzt war, ist kaum in Worte zu fassen. Die erzählten Ereignisse sind so schlimm, dass sie es mir unmöglich machen, mich dazu in irgendeiner Weise zu äußern. Ich kann überhaupt nicht mitreden, was sollte ich sagen, die ich niemals in solch einer Lage war? Trotzdem: ich mochte das Buch von Anfang an nicht, und auch jetzt, am Ende, mag ich es nicht.
    Trauriger Tiger - ist Neige traurig? Ich denke nein und ja, aber eher scheint sie zu hassen, das kann ich verstehen und dieses starke Gefühl der Ablehnung hat sie ihr Leben lang begleitet. Die Wunschstrafe, die sie sich für ihren Peiniger ausgedacht hatte, ein Selbstmord des Täters, hat sich nicht erfüllt, im Gegenteil. Und sie ist die Überlebende.
    Ich habe keine Ahnung von psychologischen Therapien etc. aber ich glaube, dass eine gute professionelle Hilfe Neige von Vorteil gewesen wäre. Es gibt nichts schlimmeres, als mit einem Erlebten nicht fertig zu werden, denn das ist hier der Fall. Wie geht so etwas, ich weiß es nicht, aber ihre strikte Ablehnung, weil das Gesundheitssystem per sé schlecht sei etc. ist mir zu lapidar. Sie will ihre Seele selber kurieren, sucht eher Zuflucht in der alternativen Heilmethodik, vertraut sich Freunden an usw. Doch das ist nicht dasselbe.
    Das Thema, das Neige hier offenbart, ist so sensibel, ihr Schicksal schier unerträglich und somit für mich unantastbar, dass ich mich außer Stande sehe, das Buch in Bezug auf den Handlungsstrang zu bewerten. Wie sollte ich das auch machen? Es scheint eine ihrer selbst heilenden Therapien zu sein, mit dem Geschehen fertig zu werden, doch bleibt, so scheint mir, vor allem eines: Hass. Und der frisst sie auf.
    Law & Order – Special Unit, die Krimireihe aus den USA, habe ich sehr lange geschaut, bis ich Angstzustände bekam, merkte, wie sich mein Verhalten änderte und von Alpträumen geplagt wurde. In diesen Episoden habe ich fast alles erfahren, was Neige hier z. T. auch schreibt, sei es von Opferseite, wie von Täterseite. Und gerade deshalb habe ich mir von dem Buch etwas anderes erwartet, eine literarische Aufarbeitung, eine Innenansicht, in einem persönlichen Schreibstil ohne Analysen, Interpretationen, Abschweifungen. Mir fehlt die Seele im Buch - ich weiß gar nicht, ob ich das bei so einer Handlung überhaupt schreiben darf. Das Buch gleicht eher einer Abhandlung.
    Wäre das Buch Fiktion gewesen, ich hätte hier besser argumentieren können, warum es mir nicht gefallen hat. Aber eigentlich möchte ich das nicht, sondern die Geschichte nur so stehenlassen. Es ist ihr Schicksal und sie hat das alleinige Recht darüber zu befinden.
    Ich gebe dem Buch 3 Sterne, weil ich es aus dem Gesichtspunkt der literarischen Eigenschaft wohlwollend betrachten möchte, und blende den Inhalt aus meiner Bewertung absichtlich aus. Der Stilmix, die z.T. belehrenden Abschnitte, die Zitate anderer Autoren (die mir am besten gefallen haben, auch vom Schreibstil), reichen nicht für eine höhere Punktezahl.

  1. Schmerzhafte Reflexion über den Missbrauch an Kindern

    Etwa mit sieben Jahren beginnt es. Neiges Stiefvater nähert sich ihr in der Nacht oder wenn die Mutter nicht im Hause ist. Er wird es immer wieder tun, über Jahre hinweg, bis in die Pubertät hinein. Ein Stiefvater und Vergewaltiger. Wie lebt ein Kind, das sich einer solchen Gewalt ausgesetzt sieht? Wie überlebt es? Und wie kann man den Menschen davon erzählen, dem eigenen Umfeld, aber auch der ganzen Welt? Mit einem Buch wie "Trauriger Tiger" von Neige Sinno, das in der Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner bei dtv erschienen ist.

    Schon der Anfang strahlt diese Wucht aus, die die Leserschaft während der Lektüre des Buches häufig überfallen wird. Völlig unvermittelt beginnt Neige Sinno nämlich mit dem Versuch des Porträts ihres Peinigers, den sie einst mit ihrer späten Anzeige vor Gericht brachte. Sie wird in der Folge immer wieder damit beginnen. "Denn auch mich interessiert im Grunde vor allem das, was im Kopf des Täters vor sich geht", so lautet der überraschende erste Satz von "Trauriger Tiger", das in Frankreich fünf große Literaturpreise und dazu den Premio Strega Europeo erhielt. "Porträts" und "Gespenster" heißen die beiden Teile des Buches, die sich zunächst um das Umfeld von Neige und ihrer Familie drehen, ehe es in der zweiten Hälfte der gut 300 Seiten eher um die Auswirkungen des Missbrauchs auf die "Überlebenden", wie Neige Sinno die Missbrauchsopfer häufig nennt, und somit auf sie selbst geht.

    Wobei die literarischen Auszeichnungen doch etwas überraschend sind. Rein sprachlich ist das Buch nämlich recht unauffällig. Zwar gibt es zwischendurch immer wieder so aufrüttelnde Sätze wie "Man vergewaltigt, um zu existieren", doch in seiner Gesamtheit liest sich "Trauriger Tiger" eher wie eine Mischung aus Sachbuch und Memoir. Das Besondere ist vielmehr Neige Sinnos Zugang zu ihrer so persönlichen Geschichte. Und hier kommt die Literatur dann doch wieder ins Spiel, denn Sinno analysiert und beschreibt ihren langjährigen Missbrauch und die Auswirkungen auf sie, aber auch auf den Täter, auch mithilfe von Büchern und Erzählungen. Ob Nabokovs "Lolita", Hans Christian Andersens "Die wilden Schwäne" oder Emmanuel Carrères "Widersacher" - sie alle spielen eine zentrale Rolle in "Trauriger Tiger".

    Positiv hervorzuheben ist, dass das Buch keineswegs voyeuristisch ist. Im Gegenteil, die Darstellung des Grausamen ist erstaunlich sachlich, was einen emotionaleren Zugang zum Buch allerdings teilweise auch verhindert. In dieser Hinsicht konnte "Tiger, Tiger" der mittlerweile verstorbenen Margaux Fragoso mit einem sehr ähnlichen Thema aus dem Jahre 2011 deutlich mehr überzeugen. "Tiger, Tiger", das unverblümt Namenspate für Neige Sinnos Werk ist, hat letztere überraschenderweise aber gar nicht gelesen, obwohl sie sonst nahezu alles zum Thema Missbrauch verschlungen hat. Abgeschreckt hat sie eine negative Kritik, was eine etwas seltsame Entscheidung ist.

    Der Zugang über die Literatur ist dennoch ein kluger, wenn auch nicht der einzige Ansatz von Neige Sinno in diesem Buch. Sie reflektiert über die Auswirkungen der jahrelangen Vergewaltigungen, über männliche Sexualität, über Schuld, über die Wirksamkeit von Therapien und Strafen, ja, sogar über das Leben und den Tod. Und es gelingt ihr, dass man auch als Leser:in darüber reflektiert, dass man gezwungen wird, eine Haltung einzunehmen. Schwächer ist das Buch, wenn Sinno sich in ihren Gedankengängen verheddert, unverständlich bleibt und wenn sie einzelne Passagen zu häufig wiederholt.

    Zudem wird nicht ganz klar, warum Neige Sinno ihr Buch überhaupt geschrieben hat. Sie wünscht ihm "nicht viele Leser", ja, es widere sie sogar an, aus ihrer Geschichte Kunst zu machen, was man beides nicht besonders glaubwürdig findet. Eine therapeutische Wirkung hatte das Schreiben für sie auch nicht. Warum also auch immer, die Entscheidung war natürlich richtig. Denn "Trauriger Tiger" gelingt es trotz oder wegen des persönlichen Schicksals der Autorin, dass man als Leser:in schockiert und nachdenklich zurückbleibt. Und dass man Neige Sinno, die Überlebende, nicht so schnell wieder vergisst.

  1. Aufklärung über ein gesellschaftliches Phänomen

    Kurzmeinung: Beeindruckend!

    Die Frau mit dem poetischen Namen „Schnee“ erlitt in ihrer Kindheit Schreckliches. Sie wurde jahrelang von ihrem Stiefvater missbraucht. Ihr Buch „Trauriger Tiger“ ist der Bericht über eine jahrelange Vergewaltigung. Für dieses Buch wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet (siehe Liste unten).

    Der Kommentar und der Leseeindruck:
    Die Autorin weiß selber nicht genau, warum sie dieses Buch auf die Welt bringt. Die Verarbeitung durch Literatur, durch das Schreiben, sozusagen als therapeutisches Schreiben lehnt sie als Theorie vollkommen ab. Wenn man mit einer derartigen Geschichte in die Öffentlichkeit geht, ist man innerlich schon viel weiter, sonst kann man weder darüber sprechen noch schreiben, sagt sie. Das leuchtet ein. Und doch ist da auch ein Stück Verarbeitung dabei, der Versuch, das Unfassbare zu fassen zu bekommen, was nur unzureichend gelingen kann und dennoch versucht werden muss. Aber „Trauriger Tiger“ ist mehr als nur das.
    Neige Sinno ist mit ihrer Lebensgeschichte in die Öffentlichkeit gegangen, nicht nur in Buchform, was eine Mischung aus Bekenntnis (ich will nicht verstecken, wer ich bin) und Aufklärungsbericht (so ist das und es passiert um die Ecke, jeden Tag) ist,- sondern sie hat ihren Stiefvater auch vor Gericht gebracht und er wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
    Sie nähert sich dem Geschehen und ihren Erinnerungen von verschiedenen Seiten; sie denkt darüber nach, was es heißt, ein Opfer zu sein. Und sie denkt über das Bild nach, das die Öffentlichkeit von einem Opfer hat. Wenn ein Opfer Resilienz zeigt, wird es ihm zum Nachteil angerechnet, dann denkt die Öffentlichkeit, es ist doch wohl nicht so schlimm gewesen – und das stimmt nicht. Nichts könnte weniger stimmen! Kinder, die Vergewaltigungen erleiden mussten, haben kein Happy End, sie sind ein Leben lang mit den Folgen konfrontiert. Während, wie sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Missbilligung feststellt, der Täter nach der Verbüßung seiner Strafe, mehr oder weniger unbelastet in ein neues Leben schlüpft. Womit sie die Grenzen unseres Rechtsystems anspricht. Sie denkt über Vieles nach, was in Beziehung zu der Tat steht, mal in sehr persönlichem Kontext, mal in einem größeren Zusammenhang.
    Dass sie es schafft, das Thema als gesamtgesellschaftliches Phänomen darzustellen, ist das große Verdienst dieses sachlich gehaltenen Werkes. Sexuelle Vergehen gegen Kinder, sexuelle Vergehen überhaupt, müssen aus der Schmuddelecke heraus und großflächig diskutiert werden. Es muss darüber geredet werden, dass sexuelle Gewalt hauptsächlich ein Männerproblem und sein häufiges Auftreten insofern kein Zufall ist. Und es muss gesellschaftliche Veränderungen geben. Im Prinzip müsste man in der Schule schon davon reden und darüber aufklären. Und die immer noch zu einem überwiegenden Teil patriarchalisch gestaltete Gesellschaft muss sich weiter verändern. Darüber hinaus müssen Männer mehr Verantwortung für ihre Sexualität auf sich nehmen und für die ihrer Geschlechtsgenossen, denn, wie gesagt, es ist ein Phänomen und nicht das Problem eines Einzelnen. Vielleicht braucht man zusätzlich sogar eine Verschärfung des diesbezüglichen Strafrechts.

    So werden viele ethischen Fragen und Probleme aufgeworfen und dies bringt den Leser in Konfrontation mit sexueller männlicher Gewalt. Nichts ist einfach, es ist ein komplexer und komplizierter Sachverhalt. Gewalt, Sex, Macht, Tätersicht, Opfersicht, gesellschaftliches Urteilen (Männer werden viel milder beurteilt als Frauen) – Sinno legt den Finger in die Wunden!
    Einziges Manko von „Trauriger Tiger“: Ob es an der Übersetzung vom Französischen ins Deutsche liegt oder die Autorin selbst sich manchmal zu umständlich ausdrückt, ist nicht zu durchschauen, doch leider gibt es einige Absätze, die so im Philosophie- Sprech geschraubt und geschrieben sind, dass weder ich noch meine Lesegruppe ihren Sinn aufschlüsseln konnten; Unverständlichkeit sollte gerade bei diesem speziellen Thema nicht vorkommen.

    Fazit: "Trauriger Tiger" ist in erster Linie ein Werk, das aufklärt und das die Thematik Vergewaltigung als im Mittelpunkt der Gesellschaft begreift. Das Thema muss aus der Schmuddelecke heraus und großflächig diskutiert werden. Wie sozialisieren wir „unsere Männer“, wie bekommen wir im Zeitalter großmöglichster sexueller Freiheit Sexualität und Verantwortung wieder zusammen? Diese Fragen zu diskutieren, ist überfällig. Neige Sinno hat ihren Beitrag dazu geleistet.

    Kategorie: Autobiographische Literatur
    Verlag: dtv 2024

    Auszeichnungen: Prix Femina 2023, Prix littéraire Le Monde 2023, Prix Goncourt des lycéens, 2023, Prix Jean-Marc Roberts, 2023, Prix littéraire Les Inrockuptibles, Premio Strega, 2024.