Das Wohlbefinden: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Wohlbefinden: Roman' von Ulla Lenze
3.8
3.8 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Wohlbefinden: Roman"

Die Fabrikarbeiterin Anna wird als Medium verehrt, Johanna Schellmann ist Schriftstellerin. In den Heilstätten Beelitz entsteht eine Verbindung zwischen den ungleichen Frauen, von der beide profitieren – bis der Kampf um Anerkennung und Aufstieg sie zu Rivalinnen macht. Ulla Lenze hat in ihrer unvergleichlich kristallinen Prosa einen großen Roman über die Verführungskraft der Selbsterlösung geschrieben. Versteckt in den Kiefernwäldern vor den Toren Berlins liegen die Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Als sich die Fabrikarbeiterin Anna Brenner und die Schriftstellerin Johanna Schellmann hier im Jahr 1907 begegnen, hat das für beide Frauen existenzielle Folgen. Anna gilt als hellsichtig, und obwohl die Avantgarde der Kaiserzeit begeistert mit dem Okkulten experimentiert, wird Annas wachsende Anhängerschaft für den Leiter der Heilstätten zum Problem. In Johanna legt die Begegnung eine tief verschüttete Spiritualität frei, und sie ahnt, dass Anna eine Schlüsselrolle in ihrem literarischen Schaffen spielen könnte. Nur: Anna lässt sich nicht vereinnahmen, von niemandem. Sechzig Jahre später versucht Johanna Schellmann Worte für ihre Verstrickungen in der Vergangenheit zu finden, doch erst Vanessa, ihre Urenkelin, bringt Licht ins Dunkel – mitten in einem luxussanierten Beelitz, durch das noch die Geister der Vergangenheit wehen. Vom Kaiserreich bis in die Gegenwart porträtiert Ulla Lenze drei Frauenleben, die Befreiung und Aufstieg erfahren und sich doch nicht vor dem drohenden Bedeutungsverlust retten können.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:336
Verlag: Klett-Cotta
EAN:9783608986853

Rezensionen zu "Das Wohlbefinden: Roman"

  1. Als Wellness noch Wohlbefinden hieß...

    Von der ersten Seite an hat mich „Das Wohlbefinden“ von Ulla Lenze begeistert – ach was, bereits das Cover hat mich schon jubeln lassen! Für mich definitiv eines der schönsten des Jahres. Ich habe es genossen mit dem Roman in die Welt der Heilstätten Beelitz einzutauchen, was sicherlich auch daran lag, dass ich das Glück hatte, schon einmal diesen sehr speziellen Ort zu besuchen. All die Infos, die man bei einer Führung und beim eigenen Entdecken des Areals bekommt, hat Ulla Lenze höchst elegant in den Text eingebunden. Das Setting überzeugt auf ganzer Linie und trägt maßgeblich zur in Teilen unwiderstehlichen Wirkung der Geschichte bei.

    Beelitz ist der Ort durch den Anna Brenner, Johanna Schellmann und ihre Urenkelin Vanessa verbunden sind: Anna ist eine der Glücklichen, die hier im Jahr 1907 zur Kur eingewiesen wurden, Johanna Schellmann wird als Arztgattin und Autorin eingeladen, weil sich Beelitz eine positive Darstellung in einem ihrer Werke erhofft und Vanessa stößt bei ihrer Wohnungssuche während der Pandemie im Jahr 2020 auf Dokumente, die ein neues, anderes Licht auf das Leben ihrer einstmals bekannten Vorfahrin werfen, denn Anna und Johanna waren nicht nur auf spiritueller Ebene verbunden, sondern auch durch einen handfesten Skandal.

    Das erste Dreiviertel des Romans war so ganz meins: das unterschiedliche Leben der Arbeiterin und der gnädigen Frau im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende, die Sprache, die Umgangsformen, der Glaube an das Neue und Progressive und gleichzeitig auch die manchmal sehr kuriosen und komisch bis gruselig anmutenden Ausflüge in Okkultismus und Esoterik – all das hat Ulla Lenze detailliert, stilistisch versiert und mit großem Unterhaltungswert aufs Papier gebracht.

    Durchbrochen wird der Erzählstrang der Jahre 1907/1908 von kurzen Episoden aus dem Jahr 1967, ebenfalls ein Jahr des Umbruchs und politischer Unruhe, dessen Kontext ganz fein in die Sequenzen eingearbeitet wurde. Johanna gleitet in diesem Jahr in Demenz ab, versucht aber gleichzeitig immer wieder ihre Vergangenheit zu retten und ihr eigenes Aleinstellungsmerkmal zu untermauern bzw. wiederherzustellen.

    Umrahmt werden die beiden historischen Fäden von Vanessas sehr profanem und im Vergleich zu den Fragestellungen der beiden anderen Zeitebenen fast schon trivial anmutenden Leben. Zwar strebte man auch im Kaiserreich und im Jahr 1967 nach der besten Selbstdarstellung und spiritueller Klarheit, aber im Jahr 2020 nimmt das Ganze schon recht inhaltslose Züge an – zwischen Instagram-Followern, Waldbaden, Yoga und dem Göttlichen verkommt die ganze Transzendenz zur kommerziellen Masche, was sie aber natürlich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits schon war.

    Leider schwächelt der eigentlich so sehr starke Roman, der Vergangenheit und Gegenwart so gekonnt vernetzt und spiegelt, im letzten Viertel. Erzählfäden verflachen, wesentliche Aspekte verbleiben im Vagen und vieles, das man gern gewusst oder noch erfahren hätte, bleibt untererzählt, Erwartungen werden nicht eingelöst. Da hätte ich mir doch einfach ein lauteres Knallen zum Ende hin gewünscht, das stille Dahinplätschern ist bei aller Relevanz und der feinen Gesellschaftskritik doch zu wenig.

    Dennoch hat mir „Das Wohlbefinden“ sehr wohlige Lesestunden geschenkt. Ich mag den Roman und halte ihn für einen der lesbaren Vertreter der Buchpreis-Nominierten. Er ist ausgezeichnet recherchiert und wunderbar konzipiert, verbindet Entwicklungslinien und spielt an einem besonderen Ort – daher trotz der nicht so souveränen Ziellinienerreichung immer noch eine Leseempfehlung.

  1. Welcome to Beelitz

    Beelitz, 2020: Als sich Vanessa die luxuriös sanierte Wohnung im ehemaligen Postgebäude der Beelitzer Heilstätten anschaut, weiß sie sofort, dass sie sich diese nicht leisten kann. Knapp 400.000 Euro für 66 Quadratmeter, wer soll das vom Makler angepriesene "Schnäppchen" bloß bezahlen? Doch sie braucht dringend eine Wohnung, weil ihr der Vermieter wegen Eigenbedarfs in zentraler Berliner Lage einfach gekündigt hat. Noch ahnt sie nicht, dass die Begegnung mit dem Makler und die Besichtigung der Heilstätten ihrem Leben eine ungeahnte Wende geben sollen. Denn an diesem Ort recherchierte einst Vanessas Urgroßmutter Johanna für ihren Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen Erfolgsroman "Das Schmuckzimmer". Und es ist ausgerechnet der Makler Maurus, dem ein bislang unveröffentlichtes Manuskript Johannas vorliegt...

    Zugegebenermaßen ein wenig konstruiert beginnt Ulla Lenzes neuer Roman "Das Wohlbefinden", der bei Klett-Cotta erschienen ist und es bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 schaffte. Dennoch ist dieser Beginn so aufregend, dass die Leserschaft es ihm verzeihen wird. Denn Lenze öffnet sogleich den Vorhang für den eigentlichen Star des Buches: Welcome to Beelitz, dem "Zauberberg der Proletarier", wie ein Professor die Heilstätten 1907 einst nannte, und genießen Sie doch Ihren Aufenthalt an diesem etwas surrealen Ort, den die Natur längst für sich zurückerobert hat. Überhaupt trifft Ulla Lenze mit den Heilstätten als Ort des Geschehens ganz offenbar einen Nerv der zeitgenössischen Literatur. Und den der Jury des Buchpreises, denn mit dem "Wohlbefinden" und den Romanen von Clemens Meyer, Timon Karl Kaleyta und Franz Friedrich befanden sich gleich vier Bücher auf der Longlist, die zumindest teilweise in psychiatrischen oder anderen Heilstätten spielen.

    "Das Wohlbefinden" umspannt dabei von 1907 bis 2020 mehr als 100 Jahre und setzt geschickt auf diverse Orte und Perspektiven. Hervorzuheben ist, dass es Lenze ganz hervorragend gelingt, die zeitlich unterschiedlichen Handlungsstränge auch erzählerisch komplett anders klingen zu lassen. Während der Vanessa-Teil des Jahres 2020 auf eine gewisse Schnoddrigkeit setzt, auf Yoga-Apps und Social Media-Geplänkel, zeichnet sich die eigentliche Haupthandlung, die 1907 beginnt, durch eine erzählerische Eleganz und Vielfältigkeit aus, die in ihren besten Momenten an Andreas Schäfers "Gartenzimmer" erinnert. Insbesondere, wenn sich die Handlung von den Heilstätten in die ehrwürdige Villa Johannas in Berlin verlagert, blitzt auch immer wieder die eigentümliche Atmosphäre des von Schäfer so bemerkenswert geschilderten Berliner Hauses in Dahlem auf.

    In den Heilstätten selbst erfährt man zudem wie im Vorbeigehen viele interessante Aspekte über den aufkommenden Okkultismus der Zeit, aber auch über die medizinischen Fortschritte, bei denen man sich manchmal in der überaus gelungenen ersten Staffel der ARD-Serie "Charité" wähnt. Historische und fiktive Figuren geben sich dabei ein Stelldichein. Klug und unterhaltsam erzählt Lenze von der Annäherung zwischen Johanna und Anna, der dritten Schlüsselfigur dieses von Frauen dominierten Romans. Anna ist ein Medium, dessen ohnehin schon hellseherische Fähigkeiten nach einer Art Nahtoderfahrung offenbar ins Unermessliche wechseln. Anna wird zu Johannas Muse und beeinflusst die Entstehung von Johannas Roman "Das Schmuckzimmer" auf nicht unerhebliche Weise. Doch was ist damals wirklich vorgefallen zwischen den beiden, dass Johanna Annas Namen aus der Danksagung der weiteren Auflagen einfach herausstrich? Hier setzt inhaltlich der dritte Handlungsstrang ein, der 1967 spielt und in dem die mittlerweile an Demenz leidende Johanna Annas wahre Geschichte aufschreiben will - in just dem Manuskript, das 2020 dem Makler Maurus vorliegt.

    All dies funktioniert in der ersten Hälfte des Romans außerordentlich gut. Mit Spannung erwartet man vor allem, wie sich die Begegnung zwischen Johanna und Anna entwickeln wird, aber auch, wie nah der in den Heilstätten tätige Professor Blomberg seinem Ziel kommt, Heilung vor allem durch Wohlbefinden zu erreichen. So ist dieser Blomberg auch im Binnenverhältnis zwischen Anna und Johanna eine zentrale Figur der ersten gut 150 Seiten.

    Allerdings begeht Lenze den Fehler, Blomberg irgendwann einfach sang- und klanglos aus dem Roman scheiden zu lassen, während sich das Buch mehr und mehr auf Anna und Johanna konzentriert. Anna wohnt mittlerweile in Johannas schönem Haus und entpuppt sich gerade mit Blick auf Johannas Ehe mit dem Mediziner Clemens als Störfaktor. Und auch der Leserschaft fällt Anna alsbald auf die Nerven. Seit ihrer Nahtoderfahrung bringt Anna nämlich kaum noch klare Sätze hervor, sondern betont immer und überall das Göttliche und dass Gott durch sie spreche. Plötzlich klingt auch die zuvor noch so elegante Sprache wie aus einem unterdurchschnittlichen Historien-Roman. "Wenn Sie Ihrer Seele lauschen und diese zum Klingen bringen, werden auch andere lauschen", heißt es an einer Stelle. "Sie müssen Ihrem Herzen vertrauen. Weil das, was in Ihnen ist, seine Antwort finden muss", kurz zuvor. So reiht sich Platitüde an Platitüde und auch die Beelitzer Heilstätten sind nahezu vergessen, weil sie in der zweiten Hälfte kaum noch auftauchen.

    Eine weitere Schwäche ist, dass insbesondere die Figur der Vanessa überhaupt nicht an Kontur gewinnt und keine Entwicklung zeigt. Eigentlich bleibt sie die ganze Zeit auf Wohnungssuche und macht - gemeinsam mit Lenze - viel zu wenig aus dem unerwartet aufgetauchten Manuskript aus dem Jahr 1967. Letztlich scheint sie nur zu existieren, um die Heilstätten auch im Jahr 2020 einmal auf die Leserschaft wirken lassen zu können.

    Insgesamt ist "Das Wohlbefinden" ein in der ersten Hälfte aufregender und atmosphärischer Generationenroman, der aber in der zweiten Hälfte viel zu wenig aus seinem Potenzial macht und als pathetisches Historiendrama endet. Dennoch erweckt Lenze in ihm die Heilstätten Beelitz so zum Leben, dass ich gleich mal schaue, wann der nächste Zug dahin fährt...

  1. 4
    21. Sep 2024 

    unterhaltsam

    In diesem Roman lernen wir die Lungenheilstätte in Beelitz kennen. Zwischen 1898 und 1930 wurde das südlich von Berlin liegende Gelände als Arbeiter-Lungenheilstätte genutzt, diente während der Weltkriege als Lazarett und Sanatorium und nach 1945 als sowjetisch/russisches Militärhospital. Ab 2016 wurde dort ein sog. Creative Village mit Ateliers und Wohnungen errichtet.

    Die im Roman erzählte Geschichte erstreckt sich in Anlehnung an die Historie der Heilstätten über 3 Zeitebenen. 1.) 1907/1908: Beelitz ist Arbeiter-Lungenheilstätte. Die beiden Protagonistinnen Anna Brenner und Johanna Schellmann treffen in der Heilstätte aufeinander. Anna, die Fabrikarbeiterin aus einfachen Verhältnissen, soll sich hier von ihrer Tuberkulose erholen. Johanna Schellmann, aus reichen Verhältnissen stammend, in Berlin lebende Gattin eines Arztes, besichtigt den Ort, um ein Buch darüber zu schreiben und interessiert sich zunehmend für Anna, die für ein Medium mit übersinnlichen Fähigkeiten gehalten wird.

    2.) 1967: Johanna, mittlerweile alt, verwitwet und allein in Berlin Dahlem lebend, erinnert sich an ihre Zeit als Schriftstellerin und versucht mit einem neuen Roman an ihren Erfolgsroman aus der Heilstättenzeit 1907/1908 anzuknüpfen.

    3.) 2020: Vanessa, eine Urenkelin Johannas, zieht es nach Beelitz ins Creative Village. Ihre Wohnung in Berlin Kreuzberg wurde ihr gekündigt. Sie erhofft sich eine neue und billigere Bleibe in Beelitz.

    Den Hauptteil des Romans nimmt die Zeit um 1907/1908 ein, das Aufeinandertreffen von Anna und Johanna und den zu dieser Zeit angesagten Hype um Okkultismus und insbesondere um das Heraufbeschwören der Seelen von Verstorbenen. Der Leser erlebt Seancen mit, wird Zeuge von geisterhaften Erscheinungen, ausgelöst durch die Anwesenheit der überaus religiösen Anna.

    Eine faszinierende, metaphysische Atmosphäre umgibt Anna, und dieser Aura erliegt auch Johanna. Hier wird eine gruselige, mystische Atmosphäre geschaffen, die mir gefallen hat, auch wenn die Glaubwürdigkeit Annas durchaus angezweifelt werden kann und auch wird, so vom Ehemann Johannas, als Mediziner ein Naturwissenschaftler ohne Hang zum Übersinnlichen.

    Die drei Zeitebenen sind geschickt miteinander verknüpft. Es ist unterhaltsam und spannend zu lesen, wie es zu einem Unfall im Hause Schellmann in der Berliner Villa kommt, in der der Ehemann Johannas wissenschaftliche Forschungen zur Bekämpfung des Tuberkulosebazillos betreibt. Vage bleibt, was wirklich geschah. Aufschluss über die Wahrheit könnte ein Manuskript geben, das die Urenkelin Vanessa bei einer Besichtigung der ehemaligen Heilstätten 2020 zugespielt wird.

    Sehr gelungen ist die Wiedergabe der Atmosphäre des Lebens in der Kaiserzeit, einerseits in der luxuriösen Villa Johannas mit Köchin, Kinderfrau etc. und andererseits die harten Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiterin Anna. Ebenso die 1967iger Jahre, Studentenaufstände in West Berlin, der Schahbesuch und schließlich die heutige Zeit, Berlin 2020, quirlig, trendig, Großstadtfeeling. Dagegen das ruhige, wohlsituierte, spiessig anmutende Ambiente in Beelitz. Alles so überaus gepflegt, ganz anders als das "dreckige" Berlin, so empfindet es Vanessa und kann sich dennoch nicht mit Beelitz anfreunden. All das konnte ich nachempfinden, was dem wunderbaren Schreibstil der Autorin zu verdanken ist.

    Das durch Anna verkörperte Okkulte und Metaphysische, das über dem Hauptteil 1907/1908 schwebt und dessen Anziehungskraft auf Johanna hätte m. E. noch mehr ausgeleuchtet werden können. Genau wie die Brücke in die heutige Zeit besser und verständlicher hätte geschlagen werden können. Wenn eine solche Brückenschlagung überhaupt gewollt war. Insofern fehlt es dem Roman an Tiefe. Was soll hier vermittelt werden, was ist die Botschaft ? Der letzte Teil des Romans gibt Anlaß zu vielfältigen Spekulationen über das, was damals wirklich geschehen sein könnte, ähnlich wie ein Krimi, nur leider ohne Auflösung. Es liest sich gut, läßt den Leser m. E. dennoch ratlos zurück.

    Warum sind Romane in und um Heilstätten im Jahr 2024 so en vogue ? Wird hiermit ein Bedürfnis nach Wohlbefinden, nach Heilung und Sinngebung bedient ? Unterhaltsam war "Das Wohlbefinden" von Ulla Lenze trotz aller offenen Frage jedenfall sehr ! Ich vergebe 4 Sterne und eine Leseempfehlung für alle Freunde von Heilstätten, Kurorten und Sanatorien.

  1. 3
    05. Sep 2024 

    Nett zu lesen ohne Aha-Momente

    Berlin 1907 - in den Heilstätten Beelitz werden Tuberkulosekranke behandelt. Meist sind es Frauen und Männer aus der Arbeiterschicht, die an diesem besonderen Ort Gesundung erfahren sollen.
    Als zentrale Therapie gegen die Tuberkulose, gegen die ein Wirkstoff fehlt, wird das Wohlbefinden praktiziert. Es ist eine Behandlungsmethode, die danach strebt, alles zu beseitigen ,was den Kranken aus dem Gleichgewicht bringt und damit einhergehend ein Bemühen, Körper und Seele in Einklang zu bringen.
    Hier begegnen sich die Patientin Anna Brenner und die Schriftstellerin Johanna Schellmann. Anna werden übersinnliche Kräfte nachgesagt und Johanna spürt, dass Anna ihr in ihrem literarischen Schaffen behilflich sein könnte. Die Verbindung zwischen beiden Frauen bleibt nicht ohne Folgen.

    Meine persönlichen Leseeindrücke
    Ich habe von Klett-Cotta schon viele außerordentliche Romane gelesen; einige davon zählen zu meinem Allzeitlesehighlights, wie z.B. “Requiem”. Der Klappentexte hatte mich angesprochen und ich habe um ein Rezensionsexemplar gebeten von einem Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 gelandet ist, der mir aber nicht besonders gefällt.
    “Das Wohlbefinden” ist eine Geschichte von spirituellen Mächten, übersinnlichen Fähigkeiten und Abhängigkeiten. Esoterik, Medium, Okkultismus usw.
    Es ist durchaus schöne Belletristik, die da vor sich hinplätschert, doch fehlen die Aha-Momente, an denen ich mein Interesse an der Geschichte hätte auffüllen können. Drei Zeitebenen und drei Frauenrollen sind mir jeweils eine zu viel. Der Bezug zur Gegenwart hätte durchaus wegfallen dürfen, das hätte dem Roman vielleicht sogar gut getan. Verblüffend empfinde ich die sehr frühe Ankündigung eines Schlüsselereignisses, auf das ich dann aber tatsächlich mehr als 200 Seiten warten muss. Es zieht sich hin und es wird mir fad. Die Romanfiguren gehen mir allmählich auf die Nerven, nur Clemens rettet manchen Abschnitt mit seinem gesunden Menschenverstand. Einzig der psychologische Aspekt der Abhängigkeit zwischen den beiden Hauptromanfiguren Anna und Johann konnte meine Aufmerksamkeit ein wenig erregen, zu wenig um hier von einem lesenswerten Buch zu schreiben.
    Der Knaller, auf den ich sehnlichst gewartet habe, entpuppt sich als Püpschen. Was dann noch als Erklärung folgt, hätte Ulla Lenze weglassen können.

    Fazit
    “Das Wohlbefinden” ist eine Geschichte von spirituellen Mächten, übersinnlichen Fähigkeiten und Abhängigkeiten. Esoterik, Medium, Okkultismus usw., dieser Hokuspokus ist nichts für mich! Einzig der psychologische Aspekt der Abhängigkeit zwischen den beiden Hauptromanfiguren Anna und Johann konnte meine Aufmerksamkeit ein wenig erregen, der Rest ist triviales Beiwerk, nett zu lesen.

  1. Hellung durch Selbstheilung

    „Wenn sie an damals zurückdachte, schien ihr eigentlich alles wie ein seltsamer Traum, der auch anders hätte geträumt werden können.“ (Zitat Pos. 2360)

    Inhalt
    Die Content-Managerin Vanessa Schellmann wohnt im Wedding, doch gerade wurde ihre Wohnung gekündigt, dies bedeutet Wohnungssuche in Berlin. Sie besichtigt auch ein aufstrebendes Neubauprojekt auf dem Areal der ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Dort, im ehemaligen Postgebäude, hatte sich 1908 ihre Urgroßmutter eingemietet, die Schriftstellerin Johanna Schellmann, denn sie wollte ein Buch über die Heilstätten Beelik schreiben. Als Vanessas Makler hört, wer sie ist, übergibt er ihr einen alten, mit Schreibmaschine geschriebenen Text, den Johanna Schellmann verfasst hatte, der jedoch nie veröffentlicht wurde. So erfährt Vanessa nicht nur, wer ihre Urgroßmutter war, sondern auch deren besondere Beziehung und von Spiritualität geprägte Verbindung zu der Arbeiterin Anna Brenner, eine Patientin, die Johanna in den Heilstätten kennengelernt hat und die wegen ihrer Hellsichtigkeit und philosophischen Ansichten bewundert, aber auch gefürchtet wird.

    Thema und Genre
    In diesem Generationenroman geht es um die für den Beginn des 20. Jahrhunderts moderne und besonders unter sozialen Aspekten fortschrittliche Einrichtung Lungenheilstätten Beelitz der Arbeiterwohlfahrt. Wetere Themen sind schreibende Frauen, sowie der zu dieser Zeit im Bürgertum beliebte Okkultismus mit Séancen und Medien. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung und ihrem eigenen Weg im Leben.

    Erzählform und Sprache
    Die Geschichte spielt in Berlin auf drei unterschiedlichen Zeitebenen, die jeweils chronologisch geschildert werden, Johanna und Anna 1907 – 1909, Johanna 1967 und Vanessa 2020. Die Abschnitte, die in den Heilstätten Beelitz spielen, zeigen ein eindrucksvolles, lebendiges Bild dieser weitläufigen sozialen Einrichtung und der damit verbundenen Problematiken. Das Jahr 2020 beschreibt die reale Situation einer modernen Stadtentwicklung und Bebauung von nicht museal genutzten Teilen des Areals. Im gesellschaftspolitischen Mittelpunkt stehen jedoch die Frauen. Durch Generationen getrennt sind Johanna, Anna und Vanessa auf der Suche nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Die Sprache schildert ruhig und präzise, die Wechsel zwischen den Zeitebenen unterbrechen teilweise den Erzählfluss, Ortsangabe und Jahreszahl in der Überschrift erleichtern die Zuordnung.

    Fazit
    Ein interessanter gesellschaftspolitischer Generationenroman, ein anschauliches Bild der Entwicklungen und Bestrebungen jener Zeit. Das Wohlbefinden, Heilung durch Selbstheilung, ist nicht nur der medizinische Ansatz jener Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern wird durch unterschiedliche Blickwinkel des Erzählens auf die jeweilige Lebenssituation der Hauptfiguren zur Metapher für das Streben der Frauen unterschiedlicher Generationen nach Eigenständigkeit und persönlicher Freiheit.