Auf Erden
Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? „Fahr einfach, meinetwegen im Kreis bis der Tank leer ist“: Katharina fuhr mit dem Mietwagen, der klapperte und fauchte durch die Nacht und sie erinnerten sich an damals.
Sunny war zwei, als sie mit den Händen an das Krankenhausbett gefesselt war. Der Durst rieb wie Schmiergelpapier in ihrem Hals. Vater kam, löste die Fesseln, ließ sie trinken, hob sie hoch und trug sie nach Hause. Auf eigene Verantwortung riefen sie ihm hinterher.
Sunnys Vater kaufte Musikinstrumente, an die sie sich herantasteten und richtete ihr und ihren beiden Brüdern einen Proberaum unter seiner kleinen Tischlerwerkstatt ein.
Sunny traf Jessi zum ersten Mal in der Schulaula und sah verstohlen auf die feinen Narben an Jessis Handgelenken. Später fand sie heraus, dass sie von ihrem Vater geschlagen wurde, was sie mit einer übergroßen Sonnenbrille zu verbergen suchte.
Katharina, das war die ohne Vater, er war weggegangen als sie noch ganz klein war. Sunny sah ihren Kummer, wenn sie anderen Vätern mit ihren Kindern beim Spiel zusah.
Alma, die vierte im Bunde hatte sie einmal mit ihrem Vater in der Stadt getroffen. Er war klein, sprachlos und seine Augen blickten nervös umher. Es war Alma unangenehm, dass Sunny ihn so angestarrt hatte.
Sie waren vier Mädchen, die nichts trennen konnte, bis sie älter wurden, ihre Berufe, andere Freund*innen fanden und das Band poröser wurde.
Fazit: Ein schönes Porträt über Freundschaft, unterschiedliche Herkunftsfamilien, über gesunde (nicht toxische) Männlichkeit, Verlust und den Umgang mit Trauer. Obwohl Anne Kanis eine Ich-Erzählung geschaffen hat, so authentisch wie ein Memoir oder eine Biografie, ist ihre Geschichte fiktiv. Voller Sensibilität erzählt sie die Freundschaft von vier Freund*innen, die sich einige Lebensjahre begleiten und die so unterschiedlich sind wie ihre Väter. Obwohl die Autorin viele traurig stimmende Momente einbringt, macht sie auch Mut, darüber, wie das Leben immer weiter geht und wie wir Herausforderungen meistern, um geläutert und/oder bestärkt daraus hervorzugehen. Ich habe mich in den Charakter von Sunnys Vater verliebt und dieses wunderbar bewegende Buch sehr gerne gelesen.
Berührend, liebevoll und tiefgründig!
Wow! Gerade bin ich mit dem Lesen von „Auf Erden“ von Anne Kanis fertig geworden und ich bin tief berührt, spüre in mir, was das Buch mit mir emotional macht... wie verbunden ich mit den Figuren bin, wie nachdenklich mich das macht, was ihnen geschieht und wie sie sich daraufhin entwickeln, wie sie mit sich selbst, miteinander und mit dem Leben umgehen.
Auch viele philosophische Fragen wirft das Buch für mich auf, zu den Themen Freundschaften, gesellschaftlicher Wandel, Trauer, Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, verschiedene gesellschaftliche Milieus... es ist ein zartes, sensibles, einfühlsames Buch... und dabei gleichzeitig so unglaublich vielschichtig und emotional tiefgehend.
Trotz des Themas Trauer, das sich auch durch das Buch zieht - die Protagonistin Sunny hat mit knapp 40 Jahren ihren geliebten Vater durch eine schwere Krankheit verloren und trauert um ihn - wird mir dieses Buch als eines der schönsten Bücher, die ich in der letzten Zeit gelesen habe, in Erinnerung bleiben.
Denn hinter dieser Trauer steckt auch eine tiefe Liebe und eine richtig schöne Vater-Tochter-Beziehung mit vielen Erinnerungen an einen liebevollen und fürsorglichen Vater, der sein ganzes Leben für seine Kinder da war. Ich habe es richtig schön gefunden, auch mal zur Abwechslung in einem Buch von so einer liebevollen Eltern-Kind-Beziehung zu lesen, das ist ja wirklich selten. Spannung bekommt das Buch auch so genug durch all die anderen Themen und Herausforderungen (der Tod des Vaters, die schwierigen Väter der anderen Mädchen, die Entwicklung der Freundschaften,...).
Die Autorin Anne Kanis hat selbst ihren Vater verloren und diese Erfahrung in dem Buch verarbeitet, auch wenn es ein Roman ist und sie vieles fiktionalisiert hat, wie sie im Nachwort beschreibt... diese eigene Erfahrung mit dem Thema ist in dem Buch spürbar, man merkt, hier erzählt eine, die das wirklich durchfühlt und durchlebt hat und sich mit dem Thema Trauer auskennt.
Im Kontrast zur tollen Vater-Beziehung Sunnys erleben wir auch Sunnys drei Freundinnen Katharina, Alma und Jessy und deren Väter, die leider aus verschiedenen Gründen ihren Töchtern Leid zufügen... und was das mit den Mädchen, und auch mit ihrer Weltsicht und den Freundschaften macht.
Wir begleiten die Mädchen von ihrer Jugend in den frühen 90er Jahren im wiedervereinigten Berlin kurz nach der Wende bis hin zur heutigen Zeit, dabei wird immer wieder zwischen den Zeitperspektiven gewechselt, zwischen heute und der Erinnerung an früher, und wir können dadurch als Lesende gut miterleben, wie sich die Mädchen zu jungen Frauen entwickelt haben, ihre Leben gestaltet haben und was aus ihren Freundschaften geworden ist.
Auch die Atmosphäre des Berlins der frühen 90er mit dem rasanten Wandel hin zur kapitalistisch geprägten Kultur des "Westens" und all den Herausforderungen, aber auch den Chancen, die das mit sich bringt (leer stehende Häuser, Hausbesetzungen, eine alternative Jugendkultur, viel Raum für Potential und Entwicklung,...), wird spürbar.
Optisch ist das Buch liebevoll gestaltet, hat ein wunderschönes, sehr ansprechendes Cover (das gut zu den künstlerischen Interessen Sunnys passt), das mir jedes Mal Freude bereitet hat, wenn ich es angesehen habe, und ist in kurze, gut lesbare Kapitel aufgeteilt.
Ich empfehle es allen, die sich für tief emotionale, aber gleichzeitig tiefgründige Bücher zu den Themen Freundschaften, Trauer, Eltern-Kind-Beziehungen, gesellschaftliche Milieus und soziale Unterschiede und für das wiedervereinigte Berlin der frühen 1990er Jahre interessieren.