Mit Nachsicht

Buchseite und Rezensionen zu 'Mit Nachsicht' von Sina Haghiri
3.5
3.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mit Nachsicht"

Autor:
Format:Broschiert
Seiten:272
Verlag: Kösel-Verlag
EAN:9783466373208

Rezensionen zu "Mit Nachsicht"

  1. Sind die Menschen im Grunde doch besser als gedacht?

    Ab und zu gibt es Sachbücher, in denen so interessante, neue Inhalte erzählt werden, dass sie einiges von der bisherigen Weltsicht und die verbreiteten Menschenbilder der letzten Jahrzehnte auf den Kopf stellen. Wer hat noch nicht von den berühmten sozialpsychologischen Experimenten des 20. Jahrhunderts gehört? Zum Beispiel das Milgram-Experiment und die Bereitschaft fast aller Menschen, autoritätshörig Stromschläge zu verteilen, bis zum angenommenen Tod der Versuchsperson. Ebenso berühmte literarische Werke wie William Goldings "Herr der Fliegen", die ein sehr düsteres Bild der menschlichen Natur zeichnen. Und zusätzlich dazu die bekannten schrecklichen historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts.

    Eigentlich haben wir allen Grund, einander zu fürchten, oder? Und doch... dem Psychologen und Verhaltenstherapeuten Sina Haghiri gelingt es in diesem Buch, einige dieser verbreiteten Annahmen von der grundsätzlichen Schlechtigkeit der Menschen zu hinterfragen und ein differenzierteres Bild zu zeichnen.

    Zum Beispiel erfahren wir, dass uns zu den berühmten Experimenten so einige wichtige Fakten unterschlagen wurden... etwa, dass der Versuchsablauf für wenige Versuchspersonen überhaupt glaubwürdig war, und es teilweise wesentlich mehr Protest und Widerspruch gab, als allgemein vermittelt wird. Und dass der Autor des Herren der Fliegen, wie man aus seinen Tagebucheinträgen weiß, zumindest eine sehr fragwürdige Persönlichkeit mit einem sehr dunklen Weltbild war, und tatsächlich, als eine Gruppe Jungen in der Realität auf einer Insel strandete und allein zurecht kommen mussten, diese miteinander freundlich und kooperativ waren, sich bei Verletzungen gegenseitig versorgten und halfen... aber diese wahre Geschichte kennt kaum jemand.

    Nach diesem sehr nachdenklich machenden Einstieg erfahren wir in verschiedenen Kapiteln mehr über die Hintergründe der derzeit so verbreiteten negativen Menschensicht. Es geht darum, wie wichtig für Menschen immer ihr Überleben war und was das für ihren Fokus bedeutet, aber auch um moderne Herausforderungen wie die nun bedeutsam werdende Selbstregulationsfähigkeit in Bezug auf Essen, Medienkonsum, Internet und vieles mehr... die aber evolutionär etwas sehr Junges ist und erst gelernt werden muss.

    Insgesamt wird im Buch unterhaltsam erklärt und wissenschaftlich fundiert aufgezeigt, warum es Grund zur Hoffnung gibt und Menschen in vielem freundlicher sind als erwartet... aber auch wie unsere eigenen Vorstellungen und Annahmen das prägen, was wir erleben. So lernen wir zum Beispiel über Konzepte wie den fundamentalen Attributionsfehler und den Kiesler-Kreis, die beide zeigen, dass das, was wir von der Welt wahrnehmen, keineswegs die objektive Realität ist, sondern sowohl durch unsere Deutungen als auch durch unser eigenes Verhalten stark mitgeprägt wird. Auch deshalb ist Nachsicht eine förderliche Haltung für ein angenehmes Miteinander.

    Für alle, die sich für Menschen, die Welt und Psychologie interessieren, ist es ein sehr spannendes Buch, aus dem man viel lernen kann. Ich selbst habe ebenfalls Psychologie studiert, somit waren mir viele der beschriebenen Experimente schon bekannt - durch die neuartige und kritische Sichtweise des Autors darauf, unter Einbezug zusätzlicher Quellen, war aber auch für mich einiges Neues und Interessantes dabei. Somit kann das Buch auch als Weiterbildung und Up-Date für in diesem Bereich schon einschlägig vorgebildete durchaus empfohlen werden.

    Ein spannendes und Hoffnung machendes Buch, das bei mir sicher noch lange nachwirken wird, in dem ich immer wieder mal nachschlagen werde und das ich definitiv weiterempfehlen werde.

  1. 2
    27. Mär 2024 

    Ich hätte dieses Buch nicht gebraucht

    Der Psychotherapeut Sina Haghiri hat sich dem Thema Empathie gewidmet. In seinem Buch versucht er aufzuzeigen, was einen besseren Umgang mit unseren Mitmenschen ermöglicht und was das verhindert.

    Grundsätzlich sieht er ein Problem in unserer soziokulturellen Prägung

    Die Literatur des 20. Jahrhunderts habe oft die menschliche Niedertracht thematisiert
    Die Sozialpsychologie habe das, durch entsprechende Experimente untermauert
    Die Nachrichten suggerieren uns, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist

    Menschen übernehmen Ressantiments, sehen sich durch Einzelfälle bestätigt und übertragen sie auf ganze Gruppen. S. 12

    Durch diese Vorurteile hegten wir bestimmte Erwartungshaltungen, die in unserem Gegenüber Irritation auslösten. Dadurch nähmen die anderen von uns Abstand, weil sie es uns kaum rechtmachen könnten. Daraufhin entstünde in uns die Überzeugung, dass wir uns nicht auf andere verlassen könnten. Die meisten Menschen nähmen die Welt als Haifischbecken war, in dem jeder sich selbst der nächste sei.

    Dann erläutert der Autor Kapitellang die einzelnen psychologischen Richtungen wie Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie und die bekanntesten Experimente der wissenschaftlichen Sozialpsychologie, um seine These der soziokulturellen Prägung zu untermauern. Er führt an, dass Studienergebnisse gefälscht wurden, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen oder falsch interpretiert.

    Ein kleiner Exkurs in die Abwehrmechanismen folgt, der veranschaulicht, zu welchen Verdrängungen wir neigen um unseren Selbstwert zu stabilisieren.

    Sina Haghiri erklärt anhand evolutionsbiologischer Eigenschaften, warum negative Ereignisse sich um sovieles besser in uns festsetzen als positive.

    Desweiteren macht er auf die Gefahr von andauernder Reizüberflutung aufmerksam, bei der das Gehirn vermehrt den Belohnungsbotenstoff Dopamin ausschüttet, wie es das alltägliche Bombardement an Nachrichten, SMS und soziale Netzwerke vermögen. Er rät uns, die Informationen so bewusst zu selektieren, wie die Nahrung, die wir unserem Körper zuführen. Slowfood statt Fastfood.

    Zu guter Letzt zeigt Sina Haghiri, dass Nachsicht wenig damit zu tun hat Schwäche zu zeigen, als viel mehr, dem Gegenüber nachzusehen, dass er gerade nicht wusste, dass er einen Fehler machen wird. Wie gut wir uns damit tun, auch uns selbst gegenüber nachsichtiger zu sein.

    Fazit: Ich mag die Intention von Sina Haghiri. Wieviel einfacher wäre unser gesellschaftliches Zusammensein, wenn wir nicht in jedem unseren Feind sehen würden, das ist aber auch schon alles. Ich denke, dass die Stärke der Nachsichtigkeit einen gesunden Selbstwert voraussetzt, den ich einer Vielzahl meiner Mitmenschen absprechen möchte. Solange unser gesamtes System aus Bestrafung, statt Belohnung besteht, strafende Eltern, strafende Lehrer, mobbende Mitschüler, strafende Religionen, strafendes Wirtschaftssystem, strafende Politiker und wer weiß, was Kinder noch alles verinnerlichen, wird sich an unserem gesellschaftlichen Miteinander kaum etwas ändern. Solange die Wertschätzung nicht jeden Einzelnen miteinbezieht und es stattdessen systemrelevante Berufsgruppen gibt, die einfach mehr wert zu sein scheinen, haben wir eine hausgemachte systemische Ungleicheit. Damit ist Nachsichtigkeit unser geringstes Problem und das Thema ad absurdum geführt. Ich hätte dieses Buch, das nicht leicht zu lesen war, nicht gebraucht.