Die Stadt der weißen Musiker
„Was der Mensch dem Menschen erläutert, ist immer unvollkommen. Ich habe gelernt, dass der größte Geschichtenerzähler das Leben selber ist.“ (Zitat Seite 137)
Inhalt
Im Jahr 1998 wird der Schriftsteller Ali Sharafiar während seiner Reise nach Kurdistan auf dem Flughafen von Amsterdam von einem jungen Mann angesprochen. Er bittet den Schriftsteller, ein Päckchen mit Notenheften und CDs mitzunehmen, und persönlich der Musikerin Rauschani Mustafa Saqzi zu übergeben. Doch dies ist nur ein erster Kontakt, denn in Wahrheit soll Ali Sharafiar eine Geschichte aufschreiben, es ist die wechselvolle, besondere Geschichte seines Lebens, die ihm der hochbegabte Flötist Dschaladati Kotr persönlich erzählt. „So also begann diese Geschichte. Ihr Ende wird sie an ganz anderem Ort, jenseits der vertrauten Welt und Zeit finden.“ (Zitat Seite 12)
Thema und Genre
Dieser Roman ist ein prächtiges, eindringliches Epos zwischen der unvorstellbaren Grausamkeit der Menschen im Krieg und der alles überdauernden Kraft der Kultur und Kunst, von Malerei, Literatur und Musik. Es geht um die Menschen, ihr Verhalten, ihre Hoffnungen, Gefühle, um die Liebe und um magische Orte, Phantasiewelten, wo alles möglich scheint. Ein wichtiges Thema sind Schuld und Sühne, Vergebung oder Vergeltung.
Erzählform und Sprache
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Dschaladati Kotr, der mit acht Jahren eine weiße Flöte bekommt und sofort wunderbare Melodien darauf spielen kann, bevor ihn Krieg und Flucht zwingen, genau diese musikalische Begabung wieder zu verlernen, um als einfacher Unterhaltungsmusiker zu überleben. Nun, viele Jahre später, wünscht sich Dschaladati, dass alle seine wahre Geschichte erfahren, seine Erinnerungen, sein Leben als Biografie, nicht nur oberflächliche Bilder und flüchtige Sätze. Ali Sharafiar dagegen geht es zunächst um die schriftstellerische Freiheit, um eine romanhafte Handung, um Sprache und Phantasie. Schließlich wird die Geschichte in fünf großen Abschnitten, Büchern, geschildert, jedes Buch in Kapitel unterteilt. Abwechselnd erzählt entweder Ali Sharafiar oder Dschaladati Kotr, oder im Vierten Buch gemeinsam. Dadurch ergibt sich für Bachtyar Ali die Möglichkeit, zwischen Ich-Erzähler und personalen Erzählformen zu wechseln und durch die unterschiedlichen Sichtweisen und sprachliche Umsetzung diese Geschichte nicht nur in der Handlung, sondern auch sprachlich unglaublich vielfältig zu erzählen. Die genauen Schilderungen des Umfeldes, der Städte, der Häuser, der Musik, der Menschen sind eindrücklich, von lebhafter Farbenpracht und facettenreich, die Grenze zwischen Realität, Phantasie und Magie verläuft fließend und wird durch die Ereignisse gleichsam mühelos in alle Richtungen überschritten. Dennoch schweigt Bachtyar Ali nicht über die grausame Realität von Krieg, Unterdrückung und Mord, schreibt mit einer schnörkellosen Klarheit, die uns beim Lesen an die Grenzen unserer Vorstellungskraft bringt.
Fazit
Ein epischer Roman mit einer Handlung zwischen Realität, Phantasie und Magie, schillernd, überbordend, poetisch, philosophisch und von einer besonderen, schwer zu beschreibenden Intensität. Eine Leseerfahrung, die unsere Gedanken und eigenen Überlegungen fordert und noch lange nachhallt.
Die Macht der Musik
Dieser Roman erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der als einziger ein Massaker Saddam Husseins an irakischen Kurden überlebt – und zwar wird er wegen seines berührenden Flötenspiels von dem Befehlshaber, einem überaus grausamen Schlächter, bewusst verschont. Um weiterhin zu überleben, versteckt er sich in einer Bordellstadt in der Wüste und tarnt seine außerordentliche musikalische Gabe mit banaler Unterhaltungsmusik. Die Macht der Musik – da liegt die Assoziation an Orpheus nahe, der mit seiner Musik sogar die Götter erweichen konnte.
Will man diesen Roman etikettieren, tut man sich schwer. Er spielt mit Elementen des Magischen Realismus, wie man sie in vielen südamerikanischen Romanen findet, aber die magischen Elemente sind hier eher als Gleichnisse zu lesen, als symbolische Bilder, die die inneren Befindlichkeiten der Personen widerspiegeln. Und die wiederum spiegeln die Zerrissenheit Kurdistans wider, das von Verfolgungen, Diktatur, äußeren Angriffen (z. B. Golfkrieg) und Bürgerkrieg aufgerieben wird.
Ständig verwischen sich die Grenzen zwischen der inneren und äußeren Realität, so wie sich auch die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischen. Dies geschieht sehr sinnfällig bei Dschaladat, die Hauptfigur. Dschaladats Entwicklung erinnert an Wolfram von Eschenbachs Parzival, der als tumber tor seine Reise beginnt, während Dschaladat immer wieder als „Blödmann“ bezeichnet wird. Seine Entwicklungsreise endet auch ähnlich wie die Parzivals. So wie Parzival in die Artusrunde aufgenommen wird und den Heiligen Gral sieht, so wird Dschaladat in den auserwählten Kreis der „Wächter“ aufgenommen und mit dem Beinamen „Phönix“ bedacht. Und so wie sich der Phönix aus der Asche erhebt, überwindet Dschaladat den Tod und kehrt immer wieder aus dem Totenreich, der weißen Stadt, zurück, um seine Wächterfunktion zu erfüllen: den Schutz von kulturellen Werken bedrohter und verfolgter Musiker, um sie der Nachwelt zu erhalten.
"Schönheit ist das Seltenste auf diesem Planeten. Man kann sie vielleicht erschaffen, aber kann man sie erhalten? Wie willst du sie in einem Teufelsreich wie diesem, in der jede Nacht Hunderte lebend begraben werden, vor dem Tod bewahren?"
Kunst – Musik, Malerei, Bildhauerei, Poesie – ist allen Menschen gemeinsam und ist das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Und so geht es in diesem Epos nicht nur um die Kunst und ihre Bedeutung in einer unmenschlichen Umgebung, sondern um viele andere Themen: Gerechtigkeit, Versöhnung, Erlösung, das Jenseits und das Diesseits, Rache und Verzeihung, Liebe und Hingabe.
Die sprachliche Form dieses Epos‘ ist bestechend schön, und das trotz des oft schrecklichen Inhalts. Kann man hier von einer Ästhetisierung der Gewalt sprechen? So wie z. B. in dem Comic „Persepolis“ von Marjane Satrapi? Ein fast märchenhafter Ton durchzieht den Roman, und die Verästelungen der Geschichten erinnert an die Märchen aus 1001 Nacht. Hier wird mit Freude erzählt, und Assoziationen an die griechische Mythologie, an europäische Versepen des Mittelalters, an Heiligenlegenden, an Erlösungsgeschichten etc. machen das Leseerlebnis noch bunter und üppiger.
Fazit: ein beeindruckender Roman und zugleich ein Denkmal für die getöteten irakischen Kurden.