Kälte

Buchseite und Rezensionen zu 'Kälte' von Szczepan Twardoch
3.5
3.5 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Kälte"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:421
EAN:

Rezensionen zu "Kälte"

  1. 4
    19. Jul 2024 

    Schonungslos

    Der polnische Autor Szczepan Twardoch ist ein literarisches Großkaliber. Dass er in seiner Heimat sehr prominent ist, liegt jedoch nicht nur an seinen Bestsellern, sondern auch an seinem politischen Engagement sowie an seiner Präsenz in der polnischen Öffentlichkeit und Medien. Seit Beginn des Ukrainekrieges macht er Stimmung gegen Russland, organisiert humanitäre Unterstützungen für die ukrainische Bevölkerung und ist nicht gewillt, das politische und kriegerische Auftreten Russlands schweigend hinzunehmen.
    Daher wundert es nicht, dass man seinen aktuellen Roman „Kälte“, nicht nur als Abenteuerroman, sondern eher als politischen Roman erleben wird.

    Worum geht es in diesem Roman?
    Ein Autor – oder der Autor? – begibt sich im Jahr 2019 auf eine Art Survival-Trip nach Spitzbergen. Dabei lernt er die 83-jährige Borghild kennen, die mit ihrem Boot durch die arktische See kreuzt und schließt sich ihr an. Während des gemeinsamen Törns hat er Gelegenheit, die Notizbücher eines gewissen Konrad Widuchs zu lesen, die sich im Besitz von Borghild befinden. Die Handlung schwenkt von da an auf die Geschichte von Widuch, die wir gemeinsam mit dem Autor lesen, allerdings werden wir immer wieder zurück in die Gegenwart von Borghild und dem Autor während ihrer Reise geholt.

    Der erste Eintrag in den Notizbüchern ist auf Juni 1946 datiert. Der Ich-Erzähler Widuch hat seine Kindheit in Schlesien verbracht, ab seinem 14. Lebensjahr arbeitet er in einem schlesischen Bergwerk und zieht später nach Deutschland, wo er weiterhin seinen Lebensunterhalt im Bergbau verdient. Bereits zu dieser Zeit zeigt sich sein Interesse am Sozialismus. Er durchlebt den ersten Weltkrieg bei der deutschen Kriegsmarine, durch sein politisches Engagement unterstützt er im darauffolgenden Russischen Bürgerkrieg den Bolschewismus und wird Offizier bei der bolschewistischen Reitarmee. Schließlich landet er als politischer Gefangener in einem Gulag in Sibirien, von wo ihm Jahre später die Flucht durch das Polargebiet gelingt. Hier trifft er auf ein, bis zu diesem Zeitpunkt unentdecktes Volk in der sibirischen Taiga, bei dem er eine Zeit leben wird. Auch über das Zusammenleben mit diesem Volk wird Konrad in aller Ausführlichkeit in seinen Notizbüchern berichten.

    Dies ist eine chronolgische Zusammenfassung der Geschichte von Widuch, die nur im Ansatz wiedergibt, was Widuch in seinen Notizbüchern formuliert hat. Leider macht er es dem Leser nicht leicht. Denn Widuch formuliert seine Gedanken, wie sie ihm gerade in den Kopf kommen. Das Ergebnis ist insbesondere zu Beginn ein erzählerisches Chaos, das man erst einmal sortieren muss. Widuch schweift ab, springt willkürlich von der Vergangenheit in die Gegenwart (1946), stellt Überlegungen an, die philosophische Ansätze zeigen, verliert sich in Darstellungen, die von Grausamkeit und brutaler Gewalt dominiert werden und legt dabei einen Zynismus an den Tag, der manches Mal an der Ernsthaftigkeit seiner Geschichte zweifeln lassen. Vielleicht ist dieser Zynismus für Widuch ein Mittel, um die Erinnerungen an das Erlebte für sich einigermaßen erträglich zu machen.
    Das erzählerische Chaos lichtet sich übrigens mit der Zeit – ob es daran liegt, dass Widuch sich an das Schreiben gewöhnt hat, und er damit seine Gedanken sortierter erfassen kann, oder ob das Bild, dass sich der Leser peu à peu von Widuch macht, komplexer wird, sei dahingestellt.

    Widuch ist eine fiktive Figur, mit seiner persönlichen Geschichte erleben wir einen Teil der russisch-sowjetischen, die Twardoch auf faszinierende, aber auch stellenweise auf sehr grausame Weise schildert, die während der Lektüre oftmals die Grenze des Erträglichen überschreitet. Man ist als Leser hin- und hergerissen zwischen Ekel und Faszination über die Parallelen, die Twardoch zur aktuellen politischen Situation in Russland und der Ukraine zeichnet. Twardoch nutzt die Grausamkeit als stilistisches Mittel und trifft damit den Leser mit voller Wucht. Er spart dabei nicht mit Kritik an Russland und formuliert diese in einer Direktheit, so dass auch wirklich sichergestellt ist, dass jeder versteht, worum es Twardoch geht:
    „Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, … in Russland, das heißt in Scheiße.“

    Twardoch schreit seine Wut über das totalitaristische Russland mit aller Gewalt heraus. Das ist verstörend, oftmals abstoßend, aber mehr als deutlich. Abgesehen davon, dass man diesen Roman mit viel Wohlwollen als Abenteuerroman erleben kann, nimmt Twardoch keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner Leser, sondern überrollt sie mit einer erzählerischen Wucht, die fast schon körperlich ist. Man muss diese Geschichte aufgrund ihrer schonungslosen Grausamkeiten nicht mögen. Dennoch ist dies ein Roman, der mit seiner Negativität und dem, was er dem Leser abverlangt, sehr eindrucksvoll ist. Daher zolle ich Twardoch meinen Respekt für seinen Mut, die Leserschaft zu schockieren, trotz des Risikos, dass er mit seinem Roman und den darin geschilderten Gewaltexzessen bei vielen anecken wird. Durch seine politische Botschaft und Twardochs eigenwilligem und schonungslosem Protest wird mir dieser Roman noch lange im Gedächtnis bleiben.

    ©Renie

  1. Der Zweck heiligt auch im Roman nicht alle Mittel

    Der 1978 in Oberschlesien geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Szczepan Twardoch gehört zur Minderheit der Schlesier. Er engagiert sich mit Spendenaufrufen und eigenhändigen Lieferungen von militärischem Material im Angriffskrieg Russlands für die Ukraine und befürwortet das Eingreifen der NATO. Im Lichte der polnischen Angst vor Einflussnahme und Bedrohung durch Russland ist Twardochs 2022 in Polen und nun in deutscher Übersetzung von Olaf Kühl erschienener Roman "Kälte" zu lesen. Am Beispiel des Schlesiers Konrad Widuch stellt der Roman die Frage, wie lange man angesichts seiner Taten noch als Mensch gelten kann, und warnt vor der allgegenwärtigen Bedrohung durch Russland:

    "Denn wenn Russland kommt, dann so, dass hier von eurem Leben nichts mehr bleibt." (S. 384)

    Die Notizbücher des Konrad Widuch
    Nicht der übliche Dachbodenfund von Briefen und Dokumenten spielt dem in der Rahmenhandlung selbst auftretenden Autor zwei umfangreiche Notizbücher in die Hände. Während einer Auszeit auf Spitzbergen lernt Szczepan die 83-jährige Norwegerin Borghild Moen kennen, die ihn nicht nur auf ihrer Yacht Isbjørn mitnimmt, sondern ihm auch die Aufzeichnungen überlässt.

    Diese beginnen im Juni 1946 und handeln von Widuchs liebloser Kindheit in Schlesien, von seinem Weggang mit 14 Jahren, von der Arbeit im Bergwerk, zunächst in Schlesien, dann an der Ruhr, von früher Neigung zur Gewalt und Begegnung mit dem Sozialismus, von der Teilnahme am Ersten Weltkrieg bei der Marine und am Kieler Matrosenaufstand Ende 1918. Zunehmend radikalisiert folgte Widuch 1920 dem Trotzkisten Karl Radek (1885 – 1939) nach Russland, wo er als bolschewistischer Politoffizier beim grausamen großen Marsch der Reiterarmee vom Kaukasus in die Ukraine dabei war. Zusammen mit seiner noch radikaleren Frau Sofie überstand er die Stalinschen Säuberungen zunächst in Murmansk, kam nach deren Flucht mit den beiden Töchter jedoch als politischer Gefangener in einen sibirischen Gulag. Nach einem abenteuerlichen Ausbruch fand Widuch zusammen mit der ebenfalls entflohenen Kriminellen Ljubow Aufnahme bei einem sibirischen Wildvolk in Cholod, einer 30 Gehöfte umfassenden Siedlung in der Taiga, bis auch dort Russen auftauchten.

    Brutal, vulgär und teilweise langatmig
    So thematisch interessant dieser Ritt durch die ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts ist, so wenig konnte mich Szczepan Twardoch mit seinem Schreibstil gewinnen. Von Beginn an widerten mich vor allem die jeden Rahmen sprengenden Darstellungen exzessiver Brutalitält und das penetrant eingestreute obszöne Vokabular an, eingebaut in wohlgeformte Sätze und Beschreibungen, die so gar nicht zum intelligenten, jedoch wenig gebildeten Protagonisten passen. Ab der Mitte kamen zur unsäglichen Gewalt und den ekelerregenden Sexszenen enervierend langatmige Ausführungen über das fiktive Naturvolk. Mit der Landung des Aeroplans zweier russischer Wissenschaftler eröffnete sich zwar die Bühne für Widuchs anti-russische Brandrede, letztlich sprengten zunächst jedoch nicht die Russen, sondern die beiden Flüchtlinge die Gemeinschaft und wurden ihrer Gastfamilie zum Verhängnis.

    Die Notizbücher richten sich an eine „fiktive Leserin“, an die Widuch nicht glaubt, die er aber im letzten Teil als „elende Schlampe“, „Hündin“ und „Nutte“ beschimpft. Nicht nur dazu blieb mir der intellektuelle Zugang verwehrt, verärgert hat es mich dennoch.

    Nicht mein Roman
    Mag sein, dass ich auch deshalb keinen Zugang zu "Kälte" fand, weil ich Abenteuergeschichten nur selten und Schelmenromane generell nicht mag. Defitiv lag es nicht am geschichtlichen Hintergrund und der politischen Aussage, weswegen ich einem Sachbuch des Autors jederzeit eine Chance geben würde, einem weiteren Roman keinesfalls.

    Kälte endet zwischen Wahnsinn und Nebel. Für die grausigen Bilder in meinem Kopf erhoffe ich letzteres.

  1. 3
    27. Mai 2024 

    Die Flucht vor dem Ausbund des Bösen

    Szczepan Twardochs Roman “Kälte” liefert dem Leser in 3 sehr unterschiedlichen Teilen eine Geschichte aus dem hohen Norden mit viel Gewalt und düstersten Aussichten.
    Der erste Teil gestaltet sich noch sehr harmlos und friedlich. Der Erzähler (oder ist es der Autor selbst?) flieht aus seinem täglichen Leben in die öde Wildnis des Nordens – nach Spitzbergen. Dort meidet er die wenn auch nur wenig bevölkerten Ortschaften auf der Suche nach der absoluten Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Er trifft dabei auf Borghild, eine alte Abenteurerin, die mit ihrem Schiff allein unterwegs ist. Wohin? Das bleibt dem Erzähler/Autor verborgen. Auf der Fahrt zwingt sie ihm eine Geschichte auf: die Geschichte von Konrad Widuch, die dieser in einem nicht für Fremde bestimmten Tagebuch niedergeschrieben hat.
    Dieses Tagebuch ist dann der zweite Teil des Romans. In zumeist nicht chronologischen Rückblicken auf und Erzählungen über sein Leben muss sich der Leser (und muss sich auch der Erzähler) mühsam die bunte Lebensgeschichte Konrads erschließen: Geboren in Schlesien, verlässt er für immer sein Elternhaus, das ihm wenig Liebe, wohl aber Schläge gebracht hat, um im schlesischen Bergbau zu arbeiten. Hier kommt er mit sozialistischem/kommunistischem Gedankengut in Berührung und wird zu einem solch glühenden Kommunisten, dass er seine Zukunft in dem durch die Revolution gegangenen Russland sieht. Dort gerät er – wie so viele andere auch – in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen, vor denen ihn auch der Umzug in den tiefsten, unwirtlichen Norden des Landes – nach Murmansk – nicht retten kann. Und doch erlebt er dort eine kurze Zeit des Friedens, mit seiner großen Liebe Sophie und den gemeinsamen Töchtern Wilena und Ninel, bevor sie sich flüchtend trennen müssen. Sophie mit den Kindern über das Meer, um nach Skandinavien zu gelangen und Konrad in die Tiefen der unbarmherzigen sibirischen Natur. Doch das Lager bleibt ihm nicht erspart. Mit all seinen Grausamkeiten, deren Schilderungen dem Leser zugemutet werden, obwohl Konrad in seinem Tagebuch nicht einmal den Namen des Lagers aufzuschreiben wagt und so das Lager permanent ungenannt bleibt. Doch ihm gelingt irgendwie die Flucht, was aber bedeutet, dass er in dem nur größeren Lager, das die sibirische Natur mit ihrer Kälte und Unmenschlichkeit liefert, zurechtkommen muss. Auf die Grausamkeiten, die in dieser Phase geschildert werden, möchte ich hier in der Rezension gar nicht weiter eingehen. So unwahrscheinlich es auch ist: er bleibt in dieser Einöde nicht allein, sondern trifft auf Ljubow, die ebenfalls geflohen ist, und mit ihrer Fluchtkollegin noch grausamer umgeht als es Konrad mit seinem Begleiter Gabaidze getan hat. Zu dritt ziehen sie auf der Flucht weiter und stoßen irgendwann auf eine Gruppe von Menschen, den Ljauries, einem unentdeckten Volk, das sie aufnimmt und teilhaben lässt an ihrem rätselhaften Leben.
    Hier beginnt der dritte Teil des Romans – der zweite Teil von Konrads Tagebuch, in dem nun eher sachlich und mit großer Detailtiefe das Leben dieses Volkes in einer Art und Weise geschildert wird als stände kein literarisches, sondern ein volkskundliches Interesse hinter dem Text. Der Text verliert sich dabei nicht selten in Details, angehäuft mit Fantasiebegriffen. An dieser Stelle fiel es mir als Leserin über weite Strecken schwer, das Interesse wachzuhalten. Nach einiger Zeit zeigt sich, dass dieses unentdeckte Volk mit dem Mythos eines noch unentdeckteren Fleckchens Erde ganz weit im Norden lebt – Sewerj - und zu diesem mythischen Ort bricht eine Gruppe des Volkes irgendwann auf und nimmt auf diese Reise auch Konrad und Ljubow mit. Gibt es diesen Ort überhaupt? Und wenn ja, finden sie ihn???
    Um den Kreis zu schließen endet der Roman wieder bei der Schiffsreise des Erzählers mit Borghild. Deren Beziehung zu dem Tagebuchschreiber Konrad wird geklärt genauso wie die Frage nach dem Ziel ihrer anscheinend ziellosen Schiffsreise weit in den Norden hinauf: das mythische Sewerj. Finden sie es???
    Mein Fazit: Der Roman schlägt einen weiten Bogen durch die russisch-sowjetische Geschichte und badet dabei in Grausamkeiten, die oftmals das Maß des Erträglichen überschreiten. Der Sprachstil passt sich diesen Grausamkeiten sehr eindringlich oder aufdringlich an, was beides die Lektüre nicht zu einem Vergnügen macht. Es ist harte Kost! Die Fluchtgeschichte von Konrad wird geschildert als die Flucht vor Russland, dem man unbedingt entgehen muss, sonst wird man unbarmherzig verschlungen. Der einzige realistische Zufluchtsort bleibt in dieser Geschichte das irreale Sewerj. Und so ist der Roman ein Fanal gegen Russland, das immer nur Böses bringt und bringen kann. Als ob uns das nicht schon genug tagtäglich in den Nachrichten vor Augen geführt wird. Brauchte ich dafür eine solche Lektüre? Ich hätte eher darauf verzichten können und gebe 3 Sterne.

  1. 3
    24. Mai 2024 

    Aufrüttelnd und abstoßend zugleich

    Szczepan Twardoch ist einer der bekanntesten Schriftsteller Polens. Auch in Deutschland hat er mit seinen Romanen viel Aufmerksamkeit erregt. Eine Kritikerin nennt ihn „ eine Art Tarantino der polnischen Geschichtsschreibung“ ( Das hätte mir eine Warnung sein sollen.)
    Der Roman beginnt mit dem Autor selbst. Den zieht es im Jahr 2019 in die Einsamkeit Spitzbergens, wo er auf eine betagte Weltreisende trifft, die ihm die Aufzeichnungen eines Landsmannes überlässt.
    Seine Geschichte in eine solche Rahmenhandlung zu packen, ist ein bewährter schriftstellerischer Trick, um dem Erzählten eine Wahrhaftigkeit und Authentizität zu verleihen.
    Ein gewisser Konrad Widuch, gefangen im arktischen Eis, beginnt am 16. Juni 1946 sein mehr als abenteuerliches Leben in einem Notizbuch festzuhalten. Geboren im schlesischen Pilchowitz, zieht es ihn bald weg von zuhause. Zuerst arbeitet er als Bergmann im Ruhrgebiet, während des Krieges dient er bei der preußischen Marine, nimmt am Kieler Matrosenaufstand teil und reist später mit dem Revolutionär Radek gemeinsam nach Russland, um sich den Bolschewisten anzuschließen. Als Kämpfer in der legendären Reiterarmee lernt er seine zukünftige Frau Sofie kennen. Sie, eine überzeugte Kommunistin, wird zur Liebe seines Lebens und gleichzeitig zu seiner Lehrmeisterin. Mit ihr zusammen entdeckt er die Welt der Bücher. Das Paar bekommt zwei Töchter. Es sind in der Erinnerung glückliche Jahre.
    Doch schon früh kommen die Zweifel an der neuen Weltordnung. Konrad haben die Erfahrungen im Bürgerkrieg vom Idealismus kuriert und Sofie verliert ihren Glauben, als Stalin an die Macht kommt. Und wie so viele Genossen fallen sie später Stalins Säuberungsaktionen zum Opfer. Sofie kann mit den kleinen Mädchen flüchten, Konrad wird in ein Lager in Sibirien verschleppt. Über diese Zeit verliert er wenig Worte. Zu schrecklich müssen die Erfahrungen dort gewesen sein.
    Doch ihm gelingt die Flucht.
    Unterwegs stößt er auf eine geflüchtete Kriminelle. Beide tun sich zusammen und werden, bevor sie an Hunger sterben, von dem fiktiven Urvolk der Ljaudis gerettet. Hier endlich fühlt sich Konrad sicher und erfährt so etwas wie Heimat. Doch auch diese abgelegene Gegend ist nicht vor den Russen sicher.
    Dies alles wird uns fragmentarisch und assoziativ erzählt. Konrad schweift permanent ab, fällt sich selbst ins Wort, übertreibt und korrigiert sich gleich darauf; kurz: er ist ein unzuverlässiger Erzähler. Die verschiedenen Lebensstationen muss sich der Leser selbst nach und nach zusammenpuzzeln.
    Immer wieder spricht er eine imaginierte Leserin seiner Zeilen an, anfangs noch vertraulich, gegen Ende hin wird diese mit Schimpfwörtern tituliert.
    Der Autor versteht es Spannung aufzubauen, arbeitet mit Cliffhangern und Andeutungen. Dabei hält er gekonnt alle Fäden in der Hand.
    Konrads Leben entlang der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts ist ein Leben voller Grausamkeiten, Willkür und Unmenschlichkeit. Hier erspart einem der Autor nichts, auch wenn er dabei keinen Voyerismus bedient.
    Doch habe ich die Brutalitäten anfangs noch als zum Geschehen zugehörig verstanden, so wurde es mir im Verlaufe der Handlung zu viel. Ich weiß, dass der Autor damit auch die Verrohung seines Protagonisten aufzeigen will, aber muss er drastische Strafmaßnahmen so genau beschreiben, müssen menschliche Begegnungen in Obszönitäten enden?
    Meine anfängliche Begeisterung für diesen Roman hat sich deshalb im zweiten Drittel ins Gegenteil gewendet. Aber nicht nur weil mich das Derbe und Vulgäre immer mehr abgestoßen hat.
    Mein Interesse galt dem zeitgeschichtlichen Hintergrund und als der Autor seinen Protagonisten auf dieses fiktive indigene Volk treffen lässt, habe ich mich zusehends gelangweilt. Seitenweise und in einer Ausführlichkeit, die nicht notwendig war, bekommt der Leser Einblick in diese fremde Kultur mit ihrer archaischen Lebensweise und mit ihren z.T. sehr befremdlichen Sitten und Gebräuchen.
    Hier will Twardoch ein Gegenbild zum bolschewistischen Staat entwerfen, doch eine wirkliche Alternative sieht für mich anders aus.
    Einzig die Wutrede, zu der hier Konrad bzw. der Autor anhebt, ist für mich zentral und eine der wesentlichen „ Botschaften“ dieses Romans. Denn eines Tages treffen zwei russische Wissenschaftler im Dorf der Ljaudis ein. Konrad versucht seine Gastgeber über die Gefahr, die die Besucher darstellen, aufzuklären. „Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland,…, in Russland, das heißt in Scheiße.“
    Diese Warnung ist eine Botschaft an den westlichen Leser, eine wichtige Botschaft, die vielleicht untergeht, weil mancher Leser den Roman bis zu dieser Stelle vielleicht schon abgestoßen oder entnervt beiseite gelegt hat.
    Ein weiterer wesentlicher Punkt, weshalb das Buch gelesen werden sollte, ist die Frage, die sich Konrad immer wieder stellt : „ Ich- ein Mensch? War ich je Mensch?“ so beginnen die Aufzeichnungen Konrads. Und als Motiv zieht sich die Frage durch den ganzen Roman. Wie kann ich meine Menschlichkeit und meine Würde bewahren angesichts unvollstellbarer Gewalt um mich herum? Ist in einer solchen Welt Platz für Moral und Ethik. Die Antwort des Autors ist zutiefst pessimistisch. Denn das Sehnsuchtsland am Ende erweist sich als Fata Morgana.
    „ Kälte“ ist ein politischer Roman mit einer eindeutigen Warnung. Twardoch will aufrütteln, will das wahre Gesicht Russlands zeigen. Und er entlarvt den sowjetischen Gründungsmythos als das, was er war: eine ungeheure Barbarei, die bis ins Heute reicht.
    Das ist wichtig und löblich. Doch mit der Umsetzung hadere ich. Die Mischung aus Zeitgeschichte, Abenteuerroman, Splatter und Fantasy gefällt mir nicht.

  1. Wieviel Kälte ist ertragbar?

    Wieviel Kälte ist ertragbar?

    Gymnasium, Oberstufe, kurz vor dem Abitur, Deutsch-Leistungskurs, vor vielen Jahren: auf dem Programm für den Unterricht steht Grimmelshausens Simplicissimus, ein Werk, das die Gräuel des 30-jährigen Kriegs in derber, teilweise unernster und vulgärer Sprache schildert. Ich habe dieses, für mich als Schüler sehr fremdartige Opus -zurückhaltend ausgedrückt- nicht gemocht.

    Dennoch muss sich etwas davon in meinem Gedächtnis bleibend festgesetzt haben. Ich habe mich nämlich wieder daran erinnert, als ich jetzt Twardochs Kälte gelesen habe. Und vielleicht ist eine derartige Erinnerung ja doch ein untrügliches Zeichen dafür, dass gute Literatur nicht unbedingt vom Leser gemocht werden muss, um auch nach sehr langer Zeit wieder präsent zu sein.

    Genau das war mein erster Gedanke nach der Lektüre der mehr als 400 Seiten Kälte. Denn die Kälte ist nicht nur die vorherrschende Temperatur, die die Protagonisten des Buchs bewältigen müssen, es ist nahezu durchgängig auch die Empfindung, die dem Leser bzw. der Leserin vermittelt wird, eine grausame Kälte, die sich festsetzt und mit Sicherheit auch nach vielen Jahren, so wie bei dem Simplicissimus, in Erinnerung bleibt. Eine derartige Empfindung ist unbequem, unbeliebt und vielleicht sogar lästig, aber sie bleibt. Wer das nicht will, der sei vor diesem Buch gewarnt.

    Twardoch schildert in Kälte das Schicksal des Konrad Widuch, eines Mannes, der nach dem Ersten Weltkrieg, den er in der deutschen Marine verbringt, über den Matrosenaufstand in die Wirren der russischen Revolution gerät. Nach anfänglicher Begeisterung beurteilt er die Vorkommnisse in der russischen Revolution zunehmend skeptisch und wird ein Opfer des Stalin-Terrors. Er verliert seine geliebte Familie, wird nach unerträglichen Folterungen nach Sibirien verbannt, flieht aus dem Lager, überlebt wider Erwarten und findet Zuflucht bei einem sibirischen Volksstamm, der wegen seiner abgeschiedenen Lebensweise von den Folgen der russischen Revolution noch völlig unberührt ist. Eingebettet ist die Schilderung dieses Lebensschicksals erzähltechnisch reizvoll in eine Rahmenhandlung, die darüber berichtet, wie eine Art von Tagebuch dieses Konrad Widuch in den Besitz des Romanautors gelangt.

    Offensichtlich absichtlich klärt Twardoch nicht alle Unklarheiten auf, die sich aus der Verknüpfung der Rahmenhandlung mit dem Tagebuch ergeben. Das ist sicherlich ein Teil dessen, was dazu beiträgt, dass das Buch in Erinnerung bleibt, allerdings nur ein ganz kleiner Teil. Entscheidend dafür, dass man sich an dieses Buch sicherlich auch noch nach vielen Jahren erinnern wird, ist die Kernfrage, die das Buch immer wieder stellt: wie viel Grausamkeit erträgt der Mensch, und zwar auch dann, wenn die Grausamkeit als unbedingte Notwendigkeit zur Bewältigung existenzieller Lebenssituationen erscheint? Bleibt man dann Mensch, eine Frage, die sich der Protagonist immerhin häufig stellt, obwohl auch er selbst immer wieder grausam handelt. Und weiter: wie viel Grausamkeit kann der Mensch des 21. Jahrhunderts, also der heutige Leser bzw. die Leserin ertragen? Kommt die Grausamkeit angesichts der jüngsten kriegerischen Entwicklungen in Europa nicht vielleicht sogar in ein mitteleuropäisches Lebensempfinden zurück oder war sie möglicherweise tatsächlich nie ganz verschwunden , eine Assoziation, die Twardoch eventuell ganz bewusst herbeiführen will, da er in dem Buch Russland als geradezu gierigen Menschenverschlinger darstellt.

    Die Darstellung der Grausamkeiten, die dieses Buch enthält, ist an vielen Stellen geradezu explizit und vielfach schwer erträglich. Sie wird aber an keiner Stelle lediglich um ihrer selbst willen dargestellt. Sie erscheint vielmehr als erzähltechnische Notwendigkeit und auch als Mittel, um das, was Twardoch inhaltlich zum Ausdruck bringen will, zu erreichen.

    Gibt es Schwächen? Vielleicht eine einzige, nämlich die manchmal den Erzählfluss hemmenden Schilderungen völkerkundlicher Besonderheiten der Region, in die sich der Protagonist des Buchs flüchtet, nachdem er aus dem russischen Straflager entkommen ist. Diese sind nach meinem Eindruck an einigen Stellen zu ausschweifend geraten.

    Ich habe das Buch nicht gemocht, der Protagonist ist mir ähnlich wie der Simplicissimus femd geblieben, teilweise habe ich ihn sogar als abstossend empfunden, die geschilderten Grausamkeiten sind teilweise widerlich, haben aber leider wohl einen realistischen Hintergrund und sind erzähltechnisch notwendig. Ich werde das Buch dennoch in Erinnerung behalten, und zwar voraussichtlich über einen sehr langen Zeitraum. Deswegen -auf emotionaler Basis etwas widerwillig, mit dem Intellekt aber in voller Überzeugung- 5 Sterne. Unabhängig von meinen persönlichen Befindlichkeiten handelt es sich eben doch um ein sehr gutes Buch.

    Seite 393: „Wie kommt das, wenn etwas Schlimmes da ist, dann kann man nicht glauben, es könnte jemals vergehen, und wenn es vorbei ist, fasst man nicht, dass es jemals da war? So als hätte die Vergangenheit keine Bedeutung, und alles, was man hat, ist das, was jetzt ist…?“ Wahrscheinlich für uns alle eine zutreffende Beobachtung, es sei denn, es kommt einem ein Simplicissimus oder künftig eben ein Konrad Widuch dazwischen.

  1. Wilder, härter, abstoßender?

    Wie weit darf man gehen, um die Trägheit der Buchkäufer zu überlisten?

    Dem Autor höchstselbst fallen die Aufzeichnungen des Konrad Widuch in die Hände. Zusammen mit der 83jährigen Borghild, die ihn bei einer Familien- und Schreibauszeit auf Spitzbergen ansprach und auf einen Abstecher mit einer Segelyacht ins Polarmeer vor der russischen Küste überredet, macht er sich auf die Suche nach einen geheimnisumwobenen Ort, Sewjer, einst Ziel des Konrad Widuchs.
    Borghild übergibt Szczepan die Aufzeichnungen ohne weitere Erklärung. Er soll sie lesen, erst dann will sie Erklärungen abgeben. Szczepan vertieft sich in Widuchs Tagebucheinträge.

    Mit 14 flieht Konrad aus seinem schlesischen Heimatdorf, arbeitet als Bergbauer im Ruhrgebiet, dient im Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Kriegsmarine, ist 1918 beim Matrosenauftsand dabei und zieht schließlich als überzeugter Bolschewist mit seiner Frau Sofie in den russischen Bügerkrieg. Mit Sofie zusammen bekommt er 1928 und 1936 zwei Töchter. Aber die Zeiten ändern sich. Was gestern noch die angesagte neue Gesellschaftsordnung war, ist heute plötzlich der Feind. Stalin verfolgt seine verdienten Büger und sperrt sie in Lager. Die neue Sowjetunion wird in Hunger, Folter und Verbannung geboren. Sofie und die zwei Kinder können sich rechtzeitig absetzen, doch Konrad wird verhaftet, verhört, gefoltert und in einen Gulag irgendwo in Sibirien gesteckt.

    Konrad gelingt die Flucht, als er mit 3 Mitgefangenen und zwei Wächtern zu einem Außenarbeitseinsatz geschickt wird. Er verrät seine Kameraden an die Wächter, ein Gemetzel beginnt, bei dem nur Konrad und ein weiterer Insasse überlebt. Konrad rächt sich für Taten aus dem Lager und schlägt ihm eine Hand mit der Axt ab. Das eigentliche Abenteuer beginnt zu diesem Zeitpunkt, alles was davor war, sind abschweifende Rückblicke, vorgeschoben vor dem Ort, den er nicht nennen will, vor Abgründen, die er umkreist, wie der Hai sein Opfer. Sich immer wieder selbst zur Disziplin ermahnend, schreibt er für seine geneigte, aber wohl nicht existierende Leserin, sich selbst bezeichnet er als Lümmel. Zynismus, Resignation und Ironie prägen seine Notizen.

    Unterwegs begegnen sie Ljubow an einem Lagerfeuer. Sie hat soeben Teile ihrer Wegbegleiterin verspeist. Zu dritt treffen sie dann auf das paläoasiatische Volk der Ljaudis. Diese nehmen die sichtlich geschwächte Gruppe der Fremden bei sich auf. Ljubow wird Sexsklavin, der versehrte Gabaidze Schamane. Konrad studiert die Cholodser, das Volk aus aus der Kälte, die noch nichts vom Krieg in der Welt, oder Stalin gehört haben, bis eines Tages ein russisches Flugzeug am Himmel zu sehen ist.

    Folgende Ereignisse veranlassen die Ljaudis ihre einst geehrten Gäste zu verbannen, die ganze Familie, die sie aufgenommen hat, gleich mit. Sie wollen Sewjer erreichen, ein Land, wo quasi Milch und Honig fließen und Mammuts fürs Überleben sorgen. Am Zielort zerbricht die Hoffnung, doch Konrad macht sich erneut auf den Weg, trifft auf zwei Forscher aus der Bretagne, die mit ihrem Schiff im Eis stecken und auf den Frühling warten. Der eine kommt beim Eisbärenangriff ums Leben, der zweite will sich zu Fuß auf den Weg in den Süden machen. Konrad bleibt beim Schiff und schreibt seine Erlebnisse nieder, bis das Eis bricht und er einen Weg zurück nach Sewjer findet, wo er einst die schwangere Ljubow zurückließ. Eine magische Vision schleicht sich in die harte Realität.

    Ein verstörendes Buch voller Gewaltexzesse, grenzwertiger Wortwahl und distanzloser Opferbeschreibungen. Widuchs Geschichte, als selbsverfasste Berichterstattung, die wahrscheinlich nie gelesen werden sollte, wird hier durch eine ebenso in Frage gestellte Abenteuergeschichte des Autors ans Licht geholt. Namen und Orte, nicht genannt, oder fiktiv, werden mit der Rahmenhandlung, trotz aller Googleverfügbarkeit, zur Wahrheit gekürt. Mag dies der unverhohlenen Russlandkritik und der Warnung vor deren Imperialismusbestreben geschuldet sein, diese Zeiten bieten sich an, doch der Stempel für Schaulust und Sensationsgier überlagert die Botschaft vom Verschwinden der "letzten Mohikaner".

    Ohne Frage wird dieses Buch seine Leser finden. Zarte Gemüter sollten sich aber auf eine Odyssee durch lebensfeindliche Gegenden, misogyne Betrachtungen und Abgründe der Menschlichkeit gefasst machen. Da hilft der ironische Humor Widuchs und Twardochs nicht wirklich.

    Die angesprochene Leserin hat sich zum Schluss ziemlich über die plötzlich einsetzende Beschimpfung geärgert. Ein Stilmittel, dessen Zweckmäßigkeit mich ratlos macht. Auch habe ich bei der Zusammenfassung der Handlungsabläufe gemerkt, dass es abschließende Lücken und nicht chronologische Abläufe gibt.

  1. Einblick in menschliche Abgründe

    Organisch eingebunden in eine Rahmenhandlung, in der der Autor namentlich selbst auftaucht, erwartet den Leser hier eine ergreifende, brutale, zynische und zuweilen tragikomische Abrechnung mit einem „bestialischen Russland, das sich mit seinem schweren Leib in Eurasien breitmacht, unersättlich, gierig nach Menschenblut, und wo es hinkommt, wo sein Riesenleib sich reckt, da bleibt nichts.“ (vgl. S. 89)

    Dem Autor fallen mehr oder weniger zufällig die Aufzeichnungen Konrad Widuchs in die Hände, einem aus Schlesien stammenden Polen, der seit April 1946 einsam auf dem kleinen Expeditionsschiff S/Y Invisible im Polarmeer feststeckt. Die Einsamkeit, seine bisherigen Erlebnisse sowie die fordernden äußeren Umstände haben ihn offensichtlich zermürbt. Immer wieder kritisiert er sich selbst, wendet sich einer namenlosen nicht-existenten Leserin zu, bezweifelt den Wahrheitsgehalt seiner eigenen Erinnerungen und spart nicht mit tüchtiger Selbstironie. Dieser Stil ist gewöhnungsbedürftig. Ich gebe zu, dass ich über weite Strecken des Romans damit gehadert habe.

    Konrad Widuch (geb. 1895) beschreibt sein bewegtes Leben. Bereits mit 14 Jahren verließ er das Elternhaus, verdingte sich im Bergwerk, ging zur Marine. Er erlebte den Kieler Matrosenaufstand 1918 aktiv mit und solidarisierte sich mit den sozialistischen Ideen Lenins. Gemeinsam mit seiner Frau Sofie siedelte er nach Russland über, schloss sich den Bolschewiken an. Beide bekommen zwei Töchter. Der Systemwechsel hin zu Stalin bringt die Familie unter Druck. Sofie gelingt es, mit den Kindern zu fliehen. Konrad gerät in die Mühlsteine des Stalin-Terrors. Viel Furchtbares hat er dort erlebt, an manch Schrecklichem war er selbst beteiligt. Brutalste Willkür, Grausamkeiten und menschenunwürdige Erlebnisse säumen seinen Weg, die er dem Leser nicht erspart. Einzig über das Jahr im sibirischen Gulag, in dem nicht der Körper, sondern die Seele stirbt, spart er sich aus. An diesen Erinnerungen will Widuch möglichst nicht rühren. Das lässt angesichts der übrigen Schilderungen tief blicken.

    Konrad gelingt die Flucht aus dem Lager. Für das nackte Überleben opfert er seine Moral. Immer wieder stellt er sich die Frage nach dem Menschsein: Wo fängt es an, wo hört es auf? Das Motiv durchzieht seine Gedanken und regt auch den Rezipienten zum Nachdenken an. Bei dem (fiktiven) sibirischen Urvolk der Ljaudies findet Konrad gemeinsam mit der ebenfalls geflohenen Kriminellen Ljubow eine neue Heimat. Gastfreundschaft wird bei dem weitgehend autarken Volk großgeschrieben. Widuchs Erinnerungen an seine etwa sieben Jahre bei den Ljaudies haben etwas von männlich idealisierten Abenteuergeschichten. Neben den gewiss gut recherchierten Sitten und für unsere Maßstäbe teilweise grausamen Opferritualen geht es oft und derbe um Jagd, Krieg und Sex. Der Erzähler räumt selbst ein, dass „eventuell seine Erinnerung den Rest dazugeschrieben habe, schließlich reproduziert sie die Vergangenheit nicht, sondern erschafft sie. Vielleicht, vielleicht habe ich das nur geschrieben, um anzugeben, ich weiß es nicht.“ (vgl. S. 165/66) Diese zunehmende Verwirrung des Erzählers fasziniert und irritiert gleichermaßen. Sie wirft einen schonungslosen Blick auf seine verzweifelte, hoffnungslose Lage.

    Der bereits 2022 im polnischen Original erschienene Roman „Kälte“ ist weit mehr als ein Abenteuerroman, der die Schrecken des Totalitarismus thematisiert. Er ist ein komplexes, hoch politisches Werk mit klarer Botschaft: Russland ist ein höchst aggressiver Staat. Man kann weder dem Land noch seinen über die Jahrzehnte wechselnden Regierungen trauen, und man konnte es noch nie: weder im Zarenreich, weder unter Lenin, Stalin oder Putin. Russland vergisst nicht, weder die Lebenden noch die Toten. „Wenn Russland hierherkommt, das weißt du, dann kommt es unaufhaltsam, grausam gleichgültig und gleichgültig grausam, wie eine Sturmflut, eine Lawine, und hinterlässt nichts als Brandreste und Knochen.“ (S. 360)

    Was kann ein Mensch im Laufe seines Lebens ertragen, ohne seine Würde, sein Menschsein zu verlieren? Dieser Frage wird man sich während der Lektüre zwangsläufig stellen müssen, ebenso der nach Ethik und Moral. „Kälte“ ist ein zutiefst unbequemes Buch. Es holt uns aus der Komfortzone heraus und zwingt uns hinzusehen. Zu lange hat Europa die russischen Macht- und Hegemonialinteressen weitgehend stillschweigend toleriert. Szczepan Twardochs Position als politisch engagierter Bürger und Autor Polens ist ebenso eindeutig wie illusionslos. Er belegt seine Meinung kompetent anhand historischer Entwicklungen, die sich aus der Biografie des mit Russland aneinandergeratenen Dissidenten Konrad Widuch ergeben, den es tatsächlich gegeben haben könnte.

    Twardoch gilt zu Recht als herausragender Autor der polnischen Gegenwartsliteratur. Er hat seinen Plot perfekt konstruiert und in der Gegenwart verankert. Das furiose Ende sowie die Entwicklung bis dorthin haben mir das noch einmal deutlich vor Augen geführt. Twardoch bietet ein vielseitiges Figurenkarussell auf, das Platz für zahlreiche Graubereiche lässt. Er hält sich nicht an Geschlechterzuschreibungen oder Erwartungen des Lesers. Mancher Satz, manche Szene tut regelrecht weh. Zart besaitet sollte man nicht sein, wenn man sich diesem eiskalten Roman zuwendet, dem es nicht an Spannung mangelt. Hier muss das Buch definitiv zum richtigen Leser finden. Ich hoffe, dass dieser Leseeindruck dabei helfen kann.

    Die grandiose Übersetzung stammt von Olaf Kühl. Selten fiel mir eine Sternevergabe so schwer. Dieses Buch hat definitiv viele Leser verdient. Ich empfehle es gerne und doch mit Einschränkungen weiter.

  1. Der Mensch ist des Menschen Wolf


    „Kälte“ ist ein forderndes Buch und letztlich eine gewaltige Wutrede gegen Russland. Dafür bedient sich der Autor an der Geschichte, aber wie sollte er seine Wut auch anders begründen? Ich kann nur auf Magnus Brechtken verweisen, der in seinem Buch "Vom Wert der Geschichte" sagt: „Wir können, wenn überhaupt, nur aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns gar nicht verfügbar.“

    Im Zentrum der Binnenhandlung steht ein ehemaliger Bolschewist, einer der Mitbegründer des Systems, der wie so viele zum Opfer der stalinistischen Säuberungen wird. Er durchlebt Schreckliches, und er verschont den Leser nicht von den Schilderungen von Folterungen und Strafmaßnahmen. Die Frage, die ihn immer begleitet, ist die seines ersten Satzes: "Ich- ein Mensch? War ich je ein Mensch?" Das Menschenbild ist illusionslos und deprimierend: der Mensch ist des Menschen Wolf, jeder ist sich selbst der Nächste, es gibt keine moralischen Kategorien mehr, keine Solidarität, keine Humanität: das alles kann sich ein Mensch nicht leisten, für den der Selbsterhaltungswillen die einzige Kategorie ist, nach der er handeln kann. Damit wird der Mensch in die Nähe des Tieres gerückt, und der Titel "Kälte" steht daher nicht nur für den weitläufigen Ort der Handlung, sondern auch für den Seelenzustand.

    Der Autor entwirft jedoch ein Gegenbild: das Bild eines archaischen, bisher unbekannten (und fiktiven) Volkes in der Arktis, wo der Protagonist erstmals in seinem Leben so etwas wie Sicherheit und Heimat findet. Die Ljaunis werden allerdings bedroht von der Einvernahme durch Russland, und so steht dieses Volk als Beispiel für die vielen indigenen Völker Sibiriens, deren ethnische Eigenständigkeit dem russischen Moloch zum Opfer fiel bzw. nicht gesichert werden konnte: die Enzen, Tschukschen, Itelmenen, Jakuten, Korjaken u. a. Diese drohende Übernahme führt zu einer äußerst pointierten Wutrede, die schwerste Anklagen gegen das heutige Russland erhebt.

    Gibt es einen Ausweg, dem russischen Moloch zu entkommen? Ja, es gibt die Insel Seweras, das in den Mythen der Ljaunis zum Sehnsuchtsort wird. Aber auch Seweras entpuppt sich als Halluzination. Oder doch nicht? Sehr schön und voller Phantasie verknüpft der Autor an diesem Punkt die Handlung mit einer fiktiven Rahmenhandlung, der er durch biografische Daten ein hohes Maß an Authentizität verleiht.

    Und mit der Fata Morgana Seweras ist die Ausgangsfrage nach dem Mensch-Sein auch beantwortet. Ein Mensch-Sein ist unter den Umständen, die uns hier erzählt werden, nicht möglich. Hier bleibt der Mensch des Menschen Wolf. Die Verhältnisse machen ihn dazu.

    Twardochs sprachliche Wucht und seine Erzählkunst sind beeindruckend. Die teils assoziative Struktur des Romans wird geordnet durch eine klare Komposition, mit der die verschiedenen Handlungsfäden auf unterschiedlichen Zeitebenen abgewickelt werden. Sicher: die unflätigen Ausdrücke und die Grausamkeiten sind schwer erträglich, aber sie sind bedingt durch das Thema des Buchs: Ich - ein Mensch?

  1. Aus dem Gulag zu einem Polarvolk – Kritik an Russland

    Es fängt spannend an: der Erzähler, der Merkmale des Autors aufweist, braucht eine Auszeit vom Leben und begibt sich nach Spitzbergen, in die arktische Einsamkeit. Dort trifft er auf eine alte Jachtbesitzerin und Seglerin, die ihn ein Stück weit mitnehmen wird. Aus der geplanten kurzen Rückreise wird ein längerer Törn weit nach Osten mit unbekanntem Ziel. Es geht um ein altes Tagebuch, Aufzeichnungen, die Borghild dem Erzähler Szczepan zu lesen gibt und das ihn zunehmend fasziniert und nicht mehr loslässt.

    Es ist die Geschichte des Konrad Widuch, der ein wechselhaftes Leben vorweisen kann: als Vierzehnjähriger verlässt er die Mutter, arbeitet in Bergwerken in Schlesien und im Ruhrgebiet, als Matrose im Krieg, bis er schließlich als überzeugter Bolschewik nach Moskau geht und auch für die Russen an Kriegen teilnimmt. Schließlich wird er verhaftet (Stalins Säuberungen), in verschiedene Lager geschickt, bevor ihm schließlich die Flucht gelingt und er in den arktischen Weiten auf ein indigenes Volk trifft, das ihn bei sich aufnimmt. Das alles wird nicht chronologisch erzählt, sondern in abschweifenden Erinnerungen, die dem Leser einiges an Aufmerksamkeit abfordern.

    Aber nicht nur das beansprucht den Leser, sondern auch die geschilderten Brutalitäten und Grausamkeiten wie z.B. schlimmste Folterungen und man fragt sich, ob das so ausführlich berichtet werden muss. Immer wieder stellt sich dabei die Frage 'Was ist ein Mensch? Bin ich noch ein Mensch?' Schließlich hat auch Konrad sich in den Kriegen an Grausamkeiten und Tötungen beteiligt. Immer wieder schimmert Kritik an Russland durch, 'eine eigene Welt (russki mir), eine Hölle für sich, egal, wer an der Macht war'. (65) Das kann nur als Kritik am Heute verstanden werden und dieser aktuelle Bezug hat mir gefallen. Leider ist aber alles ziemlich abstoßend und zu drastisch dargestellt und wenn man es mit Beschreibungen vom 'Ficken' und vom Kannibalismus übertreibt, könnte es sein, dass man damit Leser vergrault und sein Ziel als Autor nicht erreicht.

    Die Begegnung mit dem erfundenen indigenen Volk der Ljaudis wird detailliert und für mich zu ausführlich geschildert, zudem mit Worten aus ihrer Sprache gespickt, was meinen Lesefluss gestört hat. Auch die ständige Ansprache der Leserin und seine Selbstermahnungen im Übermaß haben mich genervt.

    Was ich gut fand, war die zunehmende Kritik an Russland und den Russen, was ich als Kritik am heutigen Zustand verstehe, z.B. dass sie 'nichts als Brandreste und Knochen' hinterlassen (360). Eine Rede Konrads an die Indigenen (383-386) klingt für mich wie ein kritischer Essay über die Gefahren, die von Russland drohen. Das kann man 1:1 auf heute übertragen und es gilt nicht nur für die indigenen arktischen Völker oder die Vasallenstaaten rund um das Kernland, sondern für alle, nach denen dieses imperialistische Land seine Krallen ausstreckt: 'Wenn Russland kommt, dann so, dass hier von eurem Leben nichts mehr bleibt.' (384) – 'In Russland ist niemand frei, nicht mal ein mächtiger Divisionskommandeur …' (385).

    Überhaupt benutzt der Autor im ganzen Buch einen Genremix, den ich nicht immer als organisch eingefügt empfand: die Beschreibung der Indigenen wie ein Fachartikel, kontrastierend dagegen Splatter-Szenen, dazwischen Elemente wie aus Abenteuergeschichten und am Ende sogar noch Phantastisches.

    Obwohl mir einiges gefallen hat, gibt es leider zu viele Kritikpunkte, um wirklich eine Empfehlung auszusprechen: zu viele brutale Gewaltszenen, eine oft sexistisch-vulgäre Sprache, zu viele Abschweifungen. So ist es mir schwer gefallen, die Intentionen des Autors zu verstehen und zu erkennen.

  1. Seemannsgarn mit einer Mission

    Kurzmeinung: zu viel Gewalt - die Lektüre war schwierig.

    In eine aufregende Rahmenhandlung auf See eingespannt – erzählt der Autor von einem Menschen mit bewegter Vergangenheit. Konrad Widuch verlässt schon mit 14 Jahren sein Elternhaus in Oberschlesien, nachdem er nicht ohne guten Grund gewalttätig geworden war. Von nun an ist er auf sich allein gestellt und malocht anfangs im Bergbau in der Zeche Königin Luise, dann heuert er bei der Kaiserlichen Marine an auf der SMS Helgoland, bringt es bis zum Unteroffizier bis er schließlich 1914 in den Matrosenaufstand in Kiel gerät. Das ist Konrads politisches Erwachen, er wird Bolschewik und hofft auf eine gerechtere Welt. Freilich wird er, mit seiner Familie hoffnungsvoll und tatendurstig nach Russland gezogen, sehr bald eines Besseren belehrt, Russland ist unerwartet und beängstigend anders. Wie anders? Gnadenlos anders. Auch Konrad verroht, wenn er Bolschewikenfeinde jagen muss mit seiner Disvion, bewahrt sich aber einen kleinen Rest Menschlichkeit. Schließlich gerät er unter Stalins Säuberungen selbst in die Hände der russischen Geheimpolizei also des Staates, er wird nach Sibirien verbannt und existiert in einem Gulag. Seit er sich in Väterchen Russlands sorgende Hände begeben hat, besteht sein Leben nur noch aus Qual und Unmenschlichkeit. Daran ändert seine Flucht auf dem ewigen Eis nichts. Im Gegenteil.
    Das Leseerlebnis und der Kommentar:
    Um keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen, wie Russland sowohl mit seinen eigenen Bürgern verfährt wie auch mit seinen Gästen und Nachbarn, führt der Autor Szczpan Twardoch die Leserschaft in einen Strudel von Obszönität und Gewalt, ja in eine Gewaltorgie, wobei er kein unappetitliches Detail auslässt. Man darf sich mit Fug und Recht fragen, ob all die grausigen Protagonisten von Nöten sind, um begreiflich zu machen, was der Autor von Russland Expansionspolitik hält, in einer Brandrede äußert Konrad sich dazu. „Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend und schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr?“ Hier geht es darum, dass vor allem der Leser versteht, was es bedeutet, wenn Russland ein Land überfällt: eine gnadenlose Russifizierung, die alles ausrottet, was anders ist. Die Tschetschenienkriege haben das gezeigt, der Ukrainekrieg zeigt es momentan! Und Twardoch zeigt es an dem Volk der Ljaudis, das als Stellvertreterfunktion für alle Staaten-Anlieger Russlands dient. Die Ljaudis sind wahrlich keine guten Menschen, aber im Vergleich zu Russlands Gebaren, in Konrads Augen, ermöglichen sie annehmbares Leben; jedenfalls für Männer. Frauen haben wie immer die übelste Karte gezogen, ihr wisst schon welche! Auch die Ljaudis führen Krieg und Konrad ist wider Willen mittenmang: „Ich hatte überhaupt keine Lust auf Krieg, ich hatte genug davon, aber das Schicksal der Ljaudis war jetzt auch mein Schicksal und mein Leben, und so wie ich mir die vorherigen Kriege nicht ausgesucht hatte, so kam auch dieser von allein zu mir.“ So mag es gehen, so geht es oft, so geht es vielen und ist man in einen Krieg gezwungen, geht es ums Überleben und erst in zweiter Linie um die Frage, die sich Konrad Widuch bisweilen stellt: „Bin ich noch ein Mensch?“ Man wagt keine Antwort!
    Szczepan Twardoch verwendet zahlreiche Genreelemente um einen trotz aller Gewalt spannenden Abenteuerroman zu gestalten, Splatterelemente reichlich, doch er moduliert auch mit phantastischen Momenten; eigentlich spinnt Szczepan Twardoch „nur“ blutiges Seemannsgarn, Seemannsgarn mit einer Mission, könnte man sagen, er lässt seine Protagonisten mit der Natur kämpfen; Eis, Bären, wilde Völker, Hundeschlitten, wogende See, alles dabei, plus ungezügelter Sex. Er ist ein Meister der Konstruktion und der Imagination. Sein Zynismus, der den Roman zwar gallenbitter macht, aber auch etwas auflockert, ist durchaus politisch zu verstehen. Eigentlich … ein super Roman, der fünf Sterne verdient hätte. Wenn nur … wenn. Denn die Gewaltexzesse sind wahr und wahrhaftig abstoßend und jenseits dessen, was ich tolerieren kann. Daher gibt es von mir
    Fazit: trotz aller Kunstfertigkeit nur 3 Sterne. Wer jedoch immer noch ein positives Bild von Russland hat, der sollte diesen Roman unbedingt lesen!
    Kategorie: Abenteuerroman
    Verlag: Rowohlt, 2024