Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur

Buchseite und Rezensionen zu 'Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur' von Uwe Wittstock
4.8
4.8 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur"

Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. Es ist das dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte. In Nizza lauscht Heinrich Mann bei Bombenalarm den Nachrichten von Radio London. Anna Seghers flieht mit ihren Kindern zu Fuß aus Paris. Lion Feuchtwanger sitzt in einem französischen Internierungslager gefangen, während die SS-Einheiten näherrücken. Sie alle geraten schließlich nach Marseille, um von dort einen Weg in die Freiheit zu suchen. Hier übergibt Walter Benjamin seinen letzten Essay an Hannah Arendt, bevor er zur Flucht über die Pyrenäen aufbricht. Hier kreuzen sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller, Künstler. Und hier riskieren Varian Fry und seine Mitstreiter Leib und Leben, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln. Szenisch dicht und feinfühlig erzählt Uwe Wittstock von unfassbarem Mut und größter Verzweiflung, von trotziger Hoffnung und Mitmenschlichkeit in düsterer Zeit.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:351
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406814907

Rezensionen zu "Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur"

  1. Düstere Zeiten

    Man muss sich wundern: Wurde bisher tatsächlich der Fluchthelfer Varian Fry in der deutschen Geschichte so gut wie vergessen? Wittstock ruft mit seinem Buch nicht nur diesen mutigen und engagierten Journalisten in die Erinnerung zurück, sondern auch die unmenschlichen Zustände, denen die Kulturelite Deutschland auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ausgesetzt war. Marseille 1940 ist ein markantes Eckdatum, denn hier sammeln sich die Unerwünschten und „Entarteten“, die zunächst ins sicher geglaubte Frankreich (sehr beliebt: Sanary-sur-Mer) geflohen waren und sich dann von der heranrückenden Wehrmacht in Marseille sammelten in der Hoffnung auf Ausreise.

    Wittstocks Buch bedient sich an einer Fülle von Quellen und entscheidet sich für einen Episodenstil, ähnlich wie in „Winter 1933“ und für eine chronologische Darstellung. Seine kurzen Darstellungen schneidet er wie in einem Film mit Statements zur politischen Lage. Wie mit einem Schlaglicht nimmt er Monat für Monat das Schicksal der Flüchtlinge und ihrer Helfer in den Blick. Das wirkt unruhig und erschwert die Konzentration des Lesers, aber auf der anderen Seite wird damit die rasant steigende Bedrohung der Geflüchteten deutlich. Und er erreicht damit diese ganz besondere Mischung eines Sachbuchs mit Protagonisten, die wie Romangestalten wirken, aber keine sind.

    Wittstock konzentriert sich auf einige wenige Größen, allen voran Lion Feuchtwanger, erfolgreich und international bekannt, oder den frankophilen Heinrich Mann und seinen Neffen Golo, Hannah Arendt und ihren Ehemann, Max Ernst, Marc Chagall, Andrè Breton, die unbeirrbar stalintreue Anna Seghers und andere. In seinen Episoden sorgt er für Empörung und Mitleid, wenn er z. B. die barbarische Situation in den südfranzösischen Lagern und zugleich die Untätigkeit der französischen Exilregierung schildert. Er sorgt aber auch für Kopfschütteln, wenn er das Schicksal Rudolf Breitscheids und Rudolf Hilferdings erzählt, die sich wider besseres Wissen auf ihren internationalen Ruf und einen französischen Rechtsstaat verlassen. Auch heitere Episoden fehlen nicht, wenn man liest, dass Alma Mahler-Werfel mit 12 Koffern flüchtete und es tatsächlich schaffte, diese 12 Koffer in die USA mitzunehmen.

    Im Mittelpunkt steht natürlich Fry, aber Wittstock vermeidet die Zeichnung eines Helden, sondern zeigt ihn in all seiner Widersprüchlichkeit und vor allem immer als Teil einer Gruppe. Deutlich wird auch, wie sehr die Arbeit von Frys Organisation auf Geld angewiesen wird, und ebenso deutlich wird das Problem, dass Fry nicht jeden retten kann, sondern auswählen muss. Die bürokratischen Hürden werden immer höher und die Fluchtwege immer komplizierter, und sehr anschaulich beschreibt Wittstock die mühsame Flucht zu Fuß auf geheimen Pfaden über die Pyrenäen, die die Geistesgrößen durchstehen müssen.

    Wittstock vergisst nicht die französischen Kollaborateure der Gestapo, aber vor allem vergisst er nicht die vielen Menschen wie Grenzsoldaten, Verwaltungsbeamte und dörfliche Nachbarn, die mit persönlichem Mut Tragödien verhinderten. Ein wohltuendes Beispiel menschlicher Solidarität.

    Dieses spannende und informationsreiche Buch lege ich nicht nur Literaturfreunden ans Herz, sondern vor allem den Unbelehrbaren und Geschichtsvergessenen unserer Tage. Dazu darf ich Magnus Brechtken („Vom Wert der Geschichte“) zitieren: „Wir können, wenn überhaupt, NUR aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns ... nicht verfügbar.“

  1. 5
    05. Aug 2024 

    Ein Sachbuch gegen das Vergessen...

    Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. Es ist das dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte. In Nizza lauscht Heinrich Mann bei Bombenalarm den Nachrichten von Radio London. Anna Seghers flieht mit ihren Kindern zu Fuß aus Paris. Lion Feuchtwanger sitzt in einem französischen Internierungslager gefangen, während die SS-Einheiten näherrücken. Sie alle geraten schließlich nach Marseille, um von dort einen Weg in die Freiheit zu suchen. Hier übergibt Walter Benjamin seinen letzten Essay an Hannah Arendt, bevor er zur Flucht über die Pyrenäen aufbricht. Hier kreuzen sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller, Künstler. Und hier riskieren Varian Fry und seine Mitstreiter Leib und Leben, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln. (Verlagsbeschreibung)

    Varian Fry (1907-1967)? Wieder einmal ein Name, der mir bisher nichts sagte, wie so viele der Mutigen, die während der Zeit des Nationalsozialismus dafür sorgten, dass Menschenleben gerettet wurden. Varian Fry gehört zu denen, die zahllose jüdische und "entartete" Schriftsteller, Denker, Künstler außer Landes schmuggelten, bevor das Regime sie ergreifen und in ihre Lager sperren konnte. Menschen, die sich bereits im Exil in Frankreich befanden, nun aber nicht länger sicher waren.

    Als Fry in den 1930er Jahren klar wird, dass in Europa alles auf einen Krieg hinsteuert, warnt er in den USA unermüdlich vor dem aggressiven Nationalsozialismus in Deutschland. 1940 ereilt ihn die Nachricht vom Einmarsch der Deutschen in Frankreich - und dass die Gestapo systematisch das Land durchkämmt, unter anderem auf der Suche nach verfolgten Widerstandskämpfern und Intellektuellen. Gemeinsam mit einem früheren Widerstandskämpfer, der sich bereits im Exil befindet, schmiedet er einen Rettungsplan und gründet ein Komitee zur Rettung verfolgter Künstler und Intellektueller in Europa.

    Da die Zeit knapp wird, beschließt Fry schließlich, selbst nach Frankreich zu reisen, um die Mission zu leiten, um vor Ort die Rettungsaktionen zu koordinieren und die notwendigen Ausreisepapiere zu beschaffen. Trotz seiner fehlenden Erfahrung in der illegalen Arbeit im Untergrund scheint Fry durch seinen politischen und journalistischen Hintergrund sowie durch seine Sprachkenntnisse geeignet für diese gefährliche Lage zu sein. Marseille ist das Ziel seiner Reise, da die Stadt noch nicht besetzt ist und von dort aus die Flucht in verschiedene Länder angetreten werden kann. Zunächst agiert er mit seinem Team aus wenigen Helfern vorsichtig von einem Hotelzimmer aus, später aus einem Büro der neu gegründeten "Centre Américain de Secours".

    Keine Flucht ist dabei wie die andere - es gibt ständig wechselnde Voraussetzungen, und Kreativität ist stets gefragt. Neben der Beschaffung gefälschter Pässe, Visa und anderer notwendiger Dokumente, die die Flüchtlinge über die Grenze bringen können, gilt es, die jeweils sicherste Route für die Flucht aus Frankreich zu ermitteln. Weiter geht es meist über Spanien nach Portugal - ein neutrales Land während des Zweiten Weltkriegs - und von da aus teilweise weiter per Schiff nach Übersee oder in andere sichere Länder. Die Flüchtlinge benötigen neben den notwendigen Dokumenten detaillierte Anweisungen, Bestechungsgeld und teilweise auch eine Begleitung oder zumindest eine direkte Unterstützung bei der Überquerung der Grenze. Gefahrenquellen gibt es dennoch viele.

    Chronologisch geordnet präsentiert Uwe Wittstock sorgfältig recherchierte Details der Flucht berühmter Schriftsteller und Intellektueller wie Anna Seghers, Heinrich und Golo Mann, Hannah Arendt oder Lion Feuchtwanger. Dass nicht jeder Fluchtplan ein glückliches Ende nimmt, zeigt beispielsweise das Schicksal von Walter Benjamin, der in einer spanischen Hafenstadt Suizid begeht.

    Frys Rettungsaktionen finden ab Mai 1940 für einige Monate statt, bis die Bedingungen sich so verschlechtern, dass an eine Fortsetzung der Fluchthilfe nicht mehr zu denken ist. Die vormals sicheren Routen werden zu gefährlich, und einige unentbehrliche Helfer vor Ort werden überwacht und können sich nicht länger beteiligen. Und ausgerechnet das New Yorker US-Hilfskommittee, das ihn seinerzeit nach Frankreich entsandt hat, wirft Fry vor, als illegaler Fluchthelfer zu agieren anstatt lediglich Geld und Lebensmittel an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Auch wenn sich Fry zunächst sträubt, der Forderung nach einer Rückkehr in die USA nachzukommen, wird er schließlich im September 1941 aus Frankreich ausgewiesen, als sich die US-Regierung weigert, seinen Pass zu verlängern.

    Seine weiteren Appelle gegen das Geschehen in Europa bleiben in den USA ungehört - Fry findet keine Beachtung mehr, geschweige denn Anerkennung durch die US-Regierung oder die Öffentlichkeit. Erst Jahrzehnte später (1994) erhält Fry posthum eine Auszeichnung durch die französische Regierung sowie eine Anerkennung als "Gerechter unter den Völkern" durch Yad Vashem, die israelische "Gedenkstätte des Holocausts und des Heldenmuts".

    Zivilcourage und Wagemut angesichts des Horrors des Nationalsozialismus. Und ein durchaus spannendes Sachbuch gegen das Vergessen, das eben diese trotzige Hoffnung und die Mitmenschlichkeit in düsterer Zeit würdigt. Empfehlung!

    © Parden

  1. Beeindruckend, packend, überzeugend

    „Nun sind sie zwar privilegierte Besitzer amerikanischer Einreisevisa, doch im Grunde ändert das wenig an ihrer prekären Lage, denn die Franzosen erteilen keine Ausreisevisa.“ (Zitat Seite 248)

    Thema und Inhalt
    Viele Menschen, die seit 1933 aus Deutschland und vor Hitler geflohen sind, fühlen sich in Frankreich sicher. Dies ändert sich dramatisch, als die Deutschen im Juni 1940 Paris erreichen und am 22. Juni 1940 mit Frankreich einen Waffenstillstand schließen, denn nun sind sie wieder im Visier der Gestapo, auf deren Fahndungslisten ihre Namen weit oben zu finden sind: Schriftsteller, Künstler und linke Intellektuelle. Am 25. Juni 1940 wird in New York das Emergency Rescue Commitee gegründet, um die bedrohten Künstler zu retten, die sich teilweise bereits in Internierungslagern befinden. Eine geeignete Person soll in Marseille heimlich ein Büro des ERC aufbauen. Doch dies alles dauert dem Journalisten Varian Fry, einem der Gründer des ERC, zu lang und er übernimmt die Aufgabe in Marseille persönlich, für drei Wochen, denkt er, doch es werden schließlich fünfzehn Monate. Von ihm und seinen Mitstreitern, von abenteuerlichen Fluchtwegen, Künstlerschicksalen zwischen Hoffnung und Resignation, Erfolg und Scheitern, erzählt dieses Buch.

    Umsetzung
    Kurze Vorgeschichten im Juli 1935 leiten das Hauptthema, die Zeit zwischen Mai 1940 und Oktober 1941, ein. Ein Kapitel, welches die anschließenden und späteren Ereignisse im Leben der Hauptpersonen schildert, ein kurzes Nachwort, eine ausführliche Literaturangabe und ein Personenregister finden sich am Ende des Buches.
    Uwe Wittstock erzählt die Ereignisse chronologisch und parallel, die jeweiligen Kapitel tragen Orts- und Datumsangabe, da sie oft gleichzeitig stattfinden. So beleuchtet er auch das politische Geschehen und fügt so erklärende Details und Wissen in die Handlung ein. Diese Handlung, das Kernstück dieses Buches, folgt Heinrich und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Walter Benjamin, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Hannah Arendt, den Malern Marc Chagall und Max Ernst. Die eindringlich und lebhaft geschilderten Einzelepisoden ergeben ein facettenreiches, anschauliches Bild dieser Zeit, der Menschen, ihrer Entscheidungen und Schicksale. Dieses Buch ist aus umfangreichen Recherchen entstanden und schildert Ereignisse, die tatsächlich in dieser Form stattgefunden haben.

    Fazit
    Dieses Sachbuch, eine Dokumentation und eine sehr spannende Geschichte dieses besonderen Jahres 1940 für Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle, hat mich tief beeindruckt. Geschichte, mit bisher kaum bekannten Details und Informationen zeitlos erlebbar gemacht, eine Leseempfehlung aus Überzeugung.

  1. Lesenswert für jeden Literaturfreund

    REZENSION – Mit seinem nicht nur literaturhistorisch äußerst interessanten Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ - im Februar beim Verlag C. H. Beck erschienen - hat Autor Uwe Wittstock das dramatische Kapitel deutscher Literaturgeschichte fortgeschrieben, das er zwei Jahre zuvor mit seinem Band „Februar 33. Der Winter der Literatur“ begonnen hatte. Mittels tragischer Einzelschicksale bekannter Schriftsteller wie Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Walter Benjamin und anderer, die nach Machtergreifung der Nazis in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, erzählt Wittstock nun in seinem neuen Band, wie diese nach Besetzung und der Kapitulation der Grande Nation unter schwierigsten Bedingungen in den Monaten zwischen Mai 1940 und Oktober 1941 versuchten, in das nicht von den Nazis besetzte Südfrankreich und schließlich nach Marseille, dem einzigen noch freien Hafen an der Atlantikküste, zu kommen, um von dort nach Übersee fliehen zu können. Vor allem aber würdigt Wittstock den selbstlosen Einsatz des jungen amerikanischen Journalisten Varian Fry (1907-1967), dem es nach Gründung eines von ihm in New York mit finanzieller Unterstützung wohlhabender Amerikaner initiierten „Emergency Rescue Committee“ gelang, in diesen 18 Monaten mit Hilfe seines in Marseille aufgebauten Rettungsnetzwerks „Centre Américain de Secours“ etwa 2 000 deutschsprachige Kulturschaffende zur Flucht aus Frankreich zu verhelfen.
    Wittstock schildert, journalistisch anhand von Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews recherchiert - zwar chronologisch geordnet, aber szenarisch wechselnd - den Mut mancher, aber auch die Selbstaufgabe anderer Exilanten wie im Falle des fast 70-jährigen Heinrich Mann. Dass Frys Wirken nicht immer Erfolg hat, zeigt der Suizid des verzweifelten Walter Benjamin. Andere entwickeln eine unbedingte Entschlossenheit zur Weiterflucht wie Anna Seghers, die sich über hunderte Kilometer zu Fuß auf den Weg macht.
    Während über die Schicksale der Exilanten vieles bekannt ist, geriet der heldenhafte Einsatz des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry in Vergessenheit. Im Gegenteil: Schon während seines Einsatzes in Marseille bekam er zunehmend Schwierigkeiten mit dem New Yorker US-Hilfskommittee, das ihn 1940 nach Frankreich entsandt hatte. Man warf ihm seine Arbeit als illegaler Fluchthelfer vor, statt nur Geld und Lebensmittel an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Schließlich fordert man ihn sogar zur Rückkehr in die USA auf. „Fry ist empört. Angesichts der Situation in Marseille erscheinen ihm solche Anweisungen unzumutbar, zumal wenn sie von Leuten kommen, die in Amerika in warmen Wohnungen an reich gedeckten Tischen sitzen und keine persönlichen Risiken eingehen.“ An seine Frau schreibt er: „Dieser Job ist wie der Tod – unumkehrbar. Wir haben hier etwas begonnen, das wir nicht ohne Weiteres beenden können.“
    Erst 1994 wurde ihm eine angemessene Ehrung als erster amerikanischer „Gerechter unter den Völkern“ in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem zuteil sowie 1998 als Ehrenbürger Israels. Im Epilog seines Buches „Marseille 1940“ wundert sich auch Wittstock über die bis heute anhaltende Missachtung dieses Fluchthelfers: „Überraschend ist, wie wenig Anerkennung Varian Fry und seine Leute in Deutschland gefunden haben, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihnen doch einiges zu verdanken hat.“ Nicht einmal die von ihm Geretteten schrieben mehr als ein paar Zeilen in ihren Autobiografien. Auch der Varian Fry gewidmete Essay "Der Engel von New York" der ins Pariser Exil verbannten Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894-1982) wurde bislang nicht veröffentlicht.
    Deshalb kann man den Band „Marseille 1940“ nun als angemessene Würdigung dieses „amerikanischen Schindlers“ ansehen. Aber nicht nur aus diesem Grund, sondern auch wegen Wittstocks lebendiger Schilderung der bewegenden Einzelschicksale, die nur stellvertretend für viele andere Exilanten stehen, ist dieser Band unbedingt lesenswert. „Marseille 1940“ ist zwar ein für Literaturkenner interessantes Sachbuch - und doch noch mehr: Es ist eine für jedermann leicht lesbare und spannend geschriebene Erzählung über ein vielleicht vielen noch unbekanntes düsteres Kapitel deutscher Geschichte.

  1. 4
    22. Mär 2024 

    Unbekannte Fluchthelfer

    Schon vor dem zweiten Weltkrieg erlebt der amerikanische Journalist Varian Fry auf einer Reise nach Berlin das Naziregime in seiner Unverblümtheit hautnah. Als die Nazis im Krieg Frankreich überfallen, ist ihm klar, dass die ehemalige Fluchtburg von Dissidenten nicht mehr lange Schutz bieten wird. Deshalb will er unbedingt zurück nach Europa, um möglichst vielen Flüchtlingen aus Frankreich hinaus in die USA oder in andere Länder zu helfen. Doch zunächst muss er eine Organisation gründen und das nötige Geld auftreiben. Und es wird eine Liste aufgestellt von Personen des kulturellen oder politischen Lebens, denen höchste Gefahr droht und die deshalb bevorzugt Einreisevisa erhalten sollen.

    Schon lange verstehen sich die Vereinigten Staaten nicht mehr unbedingt als Einwanderungsland. Das bekommen auch Fry und seine Mitstreiter zu spüren, wenn sie darangehen die geforderten Papiere für ihre Schützlinge zu besorgen. Noch sehen manche der in Not geratenen Menschen ihre Situation etwas sorglos, schließlich hat ihren Frankreich lange als sicherer Unterschlupf gedient. Doch so langsam wird jedem klar, unter dem Nazi-Regime wird es irgendwann kein Entkommen mehr geben. Für Fry und sein Team geht es also nicht nur darum, gründlich zu arbeiten. Sie müssen auch schnell sein.

    Die Geschichte dieser Fluchthilfe steht stellvertretend für weitere, die anderen Menschen geholfen haben. Zwar werden hier vornehmlich die Schicksale von eher auch aus heutiger Sicht prominenten Flüchtlingen behandelt, doch auch sie oder gerade sie schwebten in großer Gefahr. Wahrscheinlich kann die Welt dankbar sein, dass sich ein Amerikaner ihrer angenommen hat, der nimmermüde gegen alle Hindernisse um jedes Leben gekämpft hat. Nicht immer hatte er Erfolg. Dennoch ist ihm und seinem Team einiges zu verdanken. Und manche der Schilderungen sind geradezu mitreißend und sehr berührend. Bedrückend ist dagegen, wie die Helfer mitunter ausgebremst werden und wie wenige Länder sich bereit erklärten, die Flüchtigen aufzunehmen. Wie viele hätte man retten können, hätte es mehr Großzügigkeit gegeben. Hoffnung geben aber die, die gerettet wurden. Ein herausragendes wichtiges Buch, das auch als Mahnung dienen kann.

    4,5 Sterne