Ein falsches Wort: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Ein falsches Wort: Roman' von Vigdis Hjorth
4.25
4.3 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ein falsches Wort: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:400
Verlag: S. FISCHER
EAN:9783103975130

Rezensionen zu "Ein falsches Wort: Roman"

  1. Familiengeflecht

    Nach dem Tod des Vaters geht es um die Erbschaft. Während sich die Geschwister um das Erbe streiten, kommen alte Verletzungen und Kontroversen wieder hoch. Besonders Bergljot leidet unter den traumatischen Erinnerungen. Immer wieder kreisen ihre Gedanken und die Schatten der Vergangenheit werden immer deutlicher. Sie möchte, dass die anderen anerkennen, was ihr widerfahren ist. Doch was ist die Wahrheit?
    Diese Geschichte wird aus der Ich-Perspektive erzählt. Daher kann das Ergebnis eigentlich nicht zuverlässig sein. Es kommen auch andere zu Wort, aber immer nur aus der Perspektive der Erzählerin.
    Es ist schrecklich, was der Erzählerin widerfahren ist. Es hat Einfluss auf ihr weiteres Leben. Ich konnte mit ihr fühlen, aber Sympathie für sie empfinden konnte ich nicht. Sie wollte ihr Leid mitteilen, aber niemand hat ihr geglaubt oder wollte ihr glauben. Der Anschein nach außen war wichtiger, als sich um ein harmonisches Familienleben zu kümmern. Sie muss erkennen, dass sie von der Familie keine Unterstützung erwarten kann und selbst den Kampf gegen ihre Dämonen aufnehmen muss, auch wenn sie nie vergessen wird.
    Dieser Roman ist nicht leicht zu lesen, denn es gibt natürlich immer und immer wieder Wiederholungen bei diesen kreisenden Gedanken. Aber es lohnt sich dennoch, dieses Buch zu lesen, zeigt es doch, wie die alten Wunden ein Leben lang nicht verheilen und die Menschen um das Opfer herum ebenfalls beeinträchtigt werden.
    Keine leichte Kost!

  1. Das Unaussprechliche aussprechen

    Vigdis Hjorth war mir bislang kein Begriff. Ich wurde auf den neuen Roman "Ein falsches Wort" aufmerksam aufgrund des Hinweises auf die Nominierung für den National Book Award. Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass dieser Roman bereitsdeutlich früher bereits im Osburg Verlag erschienen war, in Deutschland jedoch keine Aufmerksamkeit erhielt. Die norwegische Autorin hat bereits etwa 30 Romane veröffentlicht. Ich freue mich, sie nun entdeckt zu haben. Interessant ist am vorliegenden Roman auch der autobiografische Bezug, der bei Erscheinen in Norwegen einen Skandal auslöst: in der Öffentlichkeit, aber auch bei der Familie der Autorin. Nicht uninteressant an dieser Stelle zu erwähnen, dass die Veröffentlichung von "Ein falsches Wort" eine Gegenreaktion der jüngeren Schwester der Autorin provorierte, die widerum darauf mit ihrem Werk "Die Wahrheit meiner Mutter" reagierte.

    Provokant ist der Roman für Familienangehörige der Autorin vermutlich insbesondere durch die Ich-Perspektive und der damit einhergehenden Unzuverlässigkeit der Erzählstimme. Zwar erhalten wir auch Einblicke in mehrere ProtagonistInnen, doch lediglich aus der Perspektive Bergljots. Mit ihr will die Autorin sich für ihre Erzählung Gehör verschaffen, auch wenn sie in Interviews betont, es sei ein Roman und keine 1:1 so erzählte biographische Erfahrung.

    Doch nun zum Inhalt. Vordergründig geht es um eine Erbstreitigkeit. Vater ist verstorben und nun entfachen Diskussionen über das Erbe: Was ist gerecht? Wer wurde bevorzugt? Wer hat sich am meisten gekümmert? Zu erben gibt es zwei Ferienhütten, deren Wert v.a. für Kindheitserinnerungen steht. Bergljot und ihr Bruder Bard werden benachteiligt, was nur alte Familienkonflikte auf den Plan ruft. Es geht Bergljot wohl nicht primär um ihren "gerechten" Anteil am Erbe. Worum es ihr geht, ist einen letzten Versuch zu starten, ihre Geschichte endlich zu Ende zu erzählen, sich ein Gehör für das zu schaffen, was ihr in der Kindheit widerfahren ist. Im Zuge einer Psychoanalyse wurde sie nämlich dafür sensibilisiert, dass ihr Vater sie in früher Kindheit missbraucht hatte und seitdem qüälen sie Erinnerungen, die zwar vage und unscharf, aber schmerzhaft sind und ihrem Glück bis heute im Weg stehen. Sexueller Missbrauch also ist das Thema. Doch ihre Familie bestreitet diesen Vorwurf vehement. Besonders die inzwischen ins Alter gekommene Mutter schiebt alle Verantwortung von sich und bezichtigt Bergljot, sich nur wichtig machen zu wollen.

    Bereits vor 23 Jahren hatte Bergljot auf Anraten einer guten Freundin einen Vorstoß in Richtung familiärer Aussprache gewagt und war damit kläglich geschweitert. Im Zuge der Testamentseröffnung mit dem Verlesen eines Briefes nun die Stimme zu ergreifen, scheint ihr die letzte Möglichkeit zu sein, sich Gehör zu verschaffen. Aber würde sie dieses Mal erfolgreich sein?

    Natürlich muss man das Buch lesen, um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Ich habe die Geschichte sehr gerne gelesen. Das Thema verdient nach wie vor alle Aufmerksamkeit. Grundsätzlich finde ich, dass Hjorths Darstellung sehr authentisch wirkt. Meines Erachtens wird sie den Ambivalenzen und den komplexen Gefühlen aller Beteiligten gut gerecht, zumindest soweit man dies einer unzuverlässigen Erzählinstanz attestieren kann. Die Sprache ist recht schlicht und schnörkellos, was nicht als Kritik gemeint ist, sondern daszu führt, dass man den Protagonisten sehr nah ist und alles mit ihnen hautnah durchlebt. Das ist auch eine Kunst. Dennoch habe ich zwei Kritikpunkte. Der eine relativiert sich durch seine Bedeutung als stilistisches Mittel: Denn Längen und Redundanzen tun ihr Weiteres, um entstehende Eindrücke zu internalisieren. Was mir aber darüber hinaus en wenig fehlt, ist das Besondere an der Art und Weise, wie Hjorth das Thema Missbrauch aufgreift. Es gibt auf dem Markt etliche Romane darüber, einige darunter sehr eigenwillig und mutig. Und das ist das, was mir hier ein wenig fehlt: Hjorth hat ohne Frage einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des Missbrauchs mit den daraus entstehenden innerfamiliären Verwicklungen geleistet. Doch erscheint mir nichts wirklich bahnbrechend neu. Ich hätte mir einen neuen Impuls und Gedankenanstoß gewünscht. Aber auch wenn das eine Leerstelle geblieben ist, mochte ich den Roman und freue mich nun darauf, weitere Werke der Autorin für mich zu entdecken.

  1. 5
    17. Apr 2024 

    Gefängnis Familie

    Bergljot kämpft mit ihrer Familie. Vordergründig geht es um eine Erbschaft von zwei Ferienhütten, doch der Kampf ist viel komplexer, viel tiefsitzender: sie wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht. Doch nicht alle glauben ihr, wollen die Realität nicht anerkennen, verdrängen kontinuierlich - auch weil, das Geschehene lange verdrängt wurde und dann mit voller Wucht wieder ins Bewusstsein rückt. Bergljot nimmt uns mit auf ihren inneren Kampf der Selbstbefreiung von den Fesseln der Familie.

    Dieser Roman ist harte Kost, thematisiert er doch das Unaussprechliche. Vigdis Hjorth versteht es, mit ihren klaren Worten, ihren eindringlichen Satzwiederholungen, für die Lesenden eine Ebene zu schaffen, auf der es erträglich ist, den inneren Kampf von Bergljot mitzuverfolgen, wenn auch äußerst herausfordernd. Dieser ist so vielschichtig, dass man ihr jedes Wort glaubt. Es geht hier nicht nur darum den Täter anzuklagen, sondern das ganze System, das ihn stützt. Es geht um Machtmissbrauch, emotionale Erpressung, Vernachlässigung, körperliche Gewalt, der Suche nach Aufmerksamkeit in den unterschiedlichsten Stufen. Die komplexen Beziehungen der Schwestern, des Bruders und vor allem der Mutter zueinander werden aufgedröselt; Hjorth zeigt, dass es niemals eine einfache Antwort geben kann; dass es immer ein System ist, das den Missbrauch stützt. Und über allem steht die Frage des Beweises, die anklagend und mit Fingerzeig auf die Betroffene blickt. Der Roman ist anstrengend zu lesen, es wird einem viel abverlangt, denn das Gedankenkarussell läuft unaufhörlich und scheint nicht aufhaltbar zu sein. Oft wollte ich die Protagonistin packen und schütteln und sie fragen, warum es ihr nicht möglich ist, "einfach" mit der Familie zu brechen, den Kontakt ein für alle mal aufzugeben. Aber die Penetranz und die Verdrängungsgabe besonders der Mutter und der Schwester Astrid sind so stark, dass sie Bergljot nicht loslassen können. Gekonnt werden in die Geschichte Theorien der Psychoanalyse eingeflochten. Es werden auch Bezüge zu Theater oder Filmen hergestellt, allen voran zu dem ersten Dogma 95-Film "Das Fest", in dem es ebenso um Kindesmissbrauch geht, mit dem sich die Protagonistin vergleicht. So krass das Thema ist, umso erstaunlicher ist es, wie subtil Hjorth auch Schwarzhumoriges einfließen lässt, wenn sie über den Gebrauch des Wortes "Inzest" schreibt. Fast ist es unfassbar, wie genial das Thema aufgearbeitet wird, die Komplexität des Geschriebenen ist so tiefgängig, dass man oft vergisst, dass es sich um Autofiktion handelt. Doch mutmaßlich arbeitet Hjorth hier ihre eigene Geschichte auf. Und abgesehen von der Härte der Thematik, ist das Buch einfach eine herausragende Prosa mit schriftstellerischer Brillanz, die sicher eines meiner persönlichen Highlights des Jahres 2024 ist.

    Mein Fazit: "Ein falsches Wort" ist ein heftiger Roman, der die Lesenden an ihre Grenzen bringt. Die Autorin schafft es durch ihre feinfühlige Sprache und der Vielschichtigkeit der Aushandlungen innerhalb der Familie, ein Gefängnis nachzuzeichnen, aus dem die Protagonistin nur schwer entkommen kann - jenem der Familie. Ein herausragendes Werk, bei dem es aber aufgrund der Heftigkeit gut überlegt sein soll, ob man sich dem Thema annähern kann oder will.

  1. Schwer verdaulich, auch wenn vieles nicht offen angesprochen wir

    Die erwachsene Erzählerin Bergljot, zweitälteste von 4 Kindern, meidet ihre Familie, da in ihrer Kindheit schlimmes geschehen ist. Erst im Erwachsenenalter werden ihr die Ausmaße bewusst, doch es fehlen nach wie vor Erinnerungen, doch ihr Verhalten macht deutlich, dass es scheinbar wirklich einschneidende Erlebnisse in der Kindheit gab. Auch ihr älterer Bruder will mit den Eltern nichts zu tun haben, auch er hat Vorwürfe vorzubringen. Als die beiden jüngeren Schwestern die beiden Hütten allein erben sollen, will er sich damit nicht arrangieren, zumal die Eltern das Erbe eigentlich gerecht unter den vier Kindern aufteilen wollen.

    Die Streitigkeiten um die Hütten wühlen bei Bergljot alles wieder auf, sie kann nicht mehr so tun, als ob sie klar kommt. Ihre eigenen Kinder, die bislang immer noch den Kontakt zu den Großeltern hegten, distanzieren sich nun auch. Bergljots Mutter will den Kontakt zu allen, sie ist sehr auf den äußeren Anschein bedacht. Doch beim lesen wird schnell klar, dass die eigentlichen Vorwürfe zwar den Vater betreffen, doch die Mutter scheint damals gewusst zu haben was geschah, und hat aus Angst allein dazustehen die Augen verschlossen und lediglich versucht ihre Tochter zum Beispiel mit Ballettunterricht abzulenken. Was wiederum von den jüngeren Schwestern nicht verstanden wurde, sie hatten das Gefühl, dass die Ältere somit bevorzugt behandelt wurde. Ein Strudel, der alle in dieser Familie beeinträchtigte, ein Strudel der beweist, dass es nichts bringt schlimmes totzuschweigen.

    Im weiteren Verlauf wird klar, wie unterschiedlich alle mit diesem Ereignis umgehen, dass Bergljot erst spät lüftet. Durch Rückblicke merkt der Leser, dass es sich sehr negativ durch ihr gesamtes Leben zieht.
    Als der Leser ziemlich am Ende genaueres erfährt, ist man selbst im Zwiespalt, will ihr auf der einen Seite glauben, aber man zieht auch die vorgebrachten Zweifel, bzw. die Tatsache, dass es keine eindeutigen Beweise gibt, in Betracht.

    Der Erzählstil ist sehr anstrengend, da vieles immer wiederholt wird, was sicher die Verwirrheit der Protagonistin verdeutlichen soll. Mir war es oft zu viel, weniger wäre da mehr gewesen. Das Ende lässt Fragen offen, lässt aber zumindest hoffen, dass Bergljot für sich das Richtige getan hat.

  1. Es ist nicht einfach, ein Mensch zu sein

    Im Mittelpunkt von Vigdis Hjorths Roman steht Bergljot, die älteste Tochter einer Familie mit vier Kindern. Sie wird in verschiedenen Phasen ihres Lebens gezeigt und schildert immer wieder das zentrale Ereignis ihrer Kindheit, als ihr übergriffiger Vater ihr Gewalt antat. Dieses Geheimnis hat nicht nur ihre Kindheit zerstört, sondern ihr ganzes Leben überschattet. Sie konnte nur mit Freunden oder Psychotherapeuten in ihrer jahrelangen Therapie darüber sprechen. In ihrer Familie war das Thema tabu. Als sie doch darüber sprechen wollte, glaubte man ihr nicht und bezichtigte sie der Lüge. Eine besondere Rolle spielte dabei ihre Mutter, die sie nie beschützt hatte und lediglich die Schande und das endgültige Scheitern ihrer Ehe fürchtete. Die Mutter war einst eine Schönheit und sieht mit zunehmendem Alter in ihrer eigenen Tochter eine Rivalin. Der Vater ignorierte die Tochter seit diesen Übergriffen und ließ sich auf kein Gespräch ein. Irgendwann kommen auch Erbschaftsstreitigkeiten hinzu, weil der Vater keine gerechte Verteilung seines Besitzes ermöglicht hat. Die Familie ist tief gespalten, und Bergljot hat nur den ein Jahr älteren Bruder Bard auf ihrer Seite, nicht aber die beiden deutlich jüngeren Schwestern Astrid und Asa und erst recht nicht die Mutter. Bergljot begreift, dass auch 23 Jahre nach dem Bruch mit der Familie keine Versöhnung möglich ist. Sie kann einen Neuanfang versuchen, vergessen wird sie nie.
    Vigdis Hjorths Roman ist zwar Fiktion, enthält aber autobiografische Elemente, denn auch sie wurde Opfer eines übergriffigen Vaters, und die Veröffentlichung ihres Buches führte zu Streit in der Familie und zur Gegendarstellung ihrer Schwester Helga in Form eines Romans. Hjorths zentrale Botschaft besagt, dass genauso viel Schaden angerichtet wird, wenn einem nach solchen Erfahrungen nicht geglaubt wird, wie durch das Trauma selbst. Das Buch ist wichtig, aber nicht einfach zu lesen. Das liegt an der schwierigen zeitlichen Zuordnung von Handlungselementen in dieser Geschichte, vor allem aber an den unzähligen, zum Teil wörtlichen Wiederholungen von immer denselben Ereignissen und Gedanken. Das mag für die Protagonistin ein Mittel zur Bewältigung des Traumas sein, für den Leser ist es jedenfalls nicht besonders spannend und wirkt auf die Dauer geradezu lähmend. Mir hat “Ein falsches Wort“ nicht besonders gefallen.

  1. Der ausweglose Kampf um Wahrheiten

    Die Überschreibung der elterlichen Ferienhütten auf Hvaler an nur zwei ihrer vier Kinder, lässt den einzigen Bruder Kontakt zur ebenfalls übergangenen ältesten Schwester Bergljot wieder aufnehmen. Beide haben mit der Familie gebrochen, doch jetzt will Bard diesen Bezugspunkt und Ferienort für seine eigene Familie nicht verlieren und wirbt bei seiner Schwester um Beistand gegen die zwei jüngeren Geschwister.
    Bergljot, 60, selbst Mutter von 3 Kindern und Enkeln, möchte sich eigentlich nicht einmischen. Vor vielen Jahren bereits hat sie für sich beschlossen, ihren Vater nicht beerben zu wollen. Nur den Kontakt ihrer Kinder zu den Großeltern ließ sie bestehen. Bergljots Schwester Astrid war es, die sporadisch anrief und ihererseits Bergljot bat, den Kontakt zur 80-jährigen Mutter doch wieder zu suchen, da diese krank sei.
    Die Situation kocht hoch, als der Vater stirbt, die Beerdigung organisiert, und schließlich das Testament eröffnet wird. Bergljot muss sich der Familie stellen, muss verdrängte Erinnerungen wieder zulassen.

    Erbstreitigkeiten waren mein persönlicher Triggerpunkt, mich dieser Lektüre zu stellen. Bergljot erzählt mir diese Geschichte aus ihrer Sicht. Sie sitzt neben mir, ist aufgewühlt, muss ihre Gedanken sortieren, wiederholt sich ständig, aber bald merke ich, dass es ihr nicht um die Hütten auf Hvaler geht und auch nicht um das Erbe ihres Vaters. Ich brauche etwas Geduld, denn in Bergljots Erinnerungen fließen nicht nur die Begegnungen und E-mails mit ihrer Familie ein, sondern auch ihre "Männergeschichten", der Rat ihrer Freundin, die sie auf so merkwürdige Art kennengelernt hat und die es auch nicht leicht hatte. Verzweifelte Anrufe bei ihren Kindern, die Suche nach Rückhalt bei ihrem Freund, wütende, betrunkene Antworten an Astrid, all das, merke ich bald, verbirgt ein unaussprechliches Geschehen, das Bergljot zu dem Menschen gemacht hat, der sie heute ist. Ein schroffes, gestörtes, alkoholsüchtiges Geschöpf mit ambivalenten Gefühlen, auf der verzweifelten Suche nach Gehör. Ich muss lange hinhören um das ganze Ausmaß zu begreifen, aber zugleich muss ich begreifen, warum ihre Geschwister so reagieren, wie sie reagieren, warum ihre Mutter nicht die Mutter ist, die sie sein sollte.
    Und trotzdem bleibt zum Schluss ein leiser Zweifel. Zum einen wissen wir jetzt, dass Bergljot eine sehr unzuverlässige Erzählerin ist, die nie wirklich abschließen durfte, nie wirklich eine Erklärung, geschweige denn Glauben und Anerkennung erfahren durfte. Auch die Schuld verteilt sich hier auf viele Schultern, die niemals stark genug für Aufarbeitung und Versöhnung waren.
    Keine leichte Geschichte, kein leichter Text, aber psychologisch eindringlich aufgebaut und mit einer Spannung versehen, die leider keine Erlösung bietet.

    Gabriele Haefs, Jahrgang 1953 hat dieses Werk mit Fingerspitzengefühl aus dem Norwegischen übersetzt und der S. Fischer Verlag gab dem Umschlag die vier abstrakten Gestalten der Geschwister, von denen eine abseits spricht, was den anderen sichtlich schwerfällt zu akzeptieren. Vigdis Hjort selbst hat ihre Lorbeeren bereits in Norwegen und interantional gesammelt, so dass sie durchaus das Gewicht hat, den Leser mit diesem Werk herauszufordern. Bei aller Alltäglichkeit um Erbstreitereien, ist diese Geschichte als Erstlektüre dieser Autorin, eine vielfache Herausforderung.

  1. Familiengeflechte

    Mein Lese-Eindruck:

    Der Plot ist schnell erzählt: der Vater stirbt, die Familie streitet sich ums Erbe, und alte Konflikte und Verletzungen werden wieder lebendig. Eine bekannte Situation.

    Der Roman besteht aus einem einzigen Gedankenstrom, der verschiedene Zeitebenen und Lebensphasen in den Blick nimmt und der gelegentlich mit Reflexionen von psychologischer Fachliteratur unterfüttert wird. Als Leser sitzt man quasi im Kopf der Protagonistin und muss ihre ewig kreiselnden Gedanken aushalten, so wie sie selbst eben auch und auch ihre Kinder, ihre Freunde und Lebenspartner. Dieser Gedankenstrom wirkt auf den ersten Blick unstrukturiert, ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil: sehr kunstvoll kreiselt sich die Erzählerin zu dem eigentlichen Thema hin, sie verdichtet die Anzeichen und stellt das üble Geschehen in der Mitte des Romans wie in einem Showdown vor.

    Dieser Blick in einer verstörte (gestörte?) Seele ist nicht leicht auszuhalten, und die Erzählerin erschwert ihn zusätzlich durch ständige, teilweise wortwörtliche Wiederholungen, durch ständigen Aufgriff bereits gesagter Inhalte, durch identische Motive und durch Rückgriffe auf Bekanntes. Diese Art zu erzählen macht das Lesen schwer; eine straffere und weniger wortreiche Erzählweise hätte der Aussage des Buches gutgetan.

    Die Erzählerin nimmt auch in immer kleinen Facetten die anderen Familienmitglieder in den Blick und zeigt auf, was ihr Vorwurf mit ihnen macht. Hier zeichnet sie sehr subtil die Zerstörung einer Familie nach. Im Fadenkreuz steht insbesondere die Mutter. Die Mutter ist wirtschaftlich vom Vater abhängig, und ihren Sozialstatus leitet sie ebenfalls von ihrem Mann ab. Sie stellt aus eigener Kraft nichts dar. Daher kämpft sie mit teilweise merkwürdigen Mitteln um Geltung. Sehr schön stellt die Autorin heraus, wie die Mutter ihre Schwäche zur Waffe macht und sich damit immer wieder in den Mittelpunkt schiebt. Zugleich ist die Mutter bestrebt, das öffentliche Ansehen der Familie zu wahren. Der äußere Schein ist ihr jede Lebenslüge wert und erklärt den Verrat an der Tochter. Auch die Geschwister werden in diese Lebenslüge verstrickt und werden zur Parteinahme gezwungen.

    Das grundlegende Problem besteht darin, dass das gesamte Geschehen aus Bergljots Sicht erzählt wird und der Leser den Wahrheitsgehalt nicht überprüfen kann. Was stimmt? Was wird imaginiert, ohne deswegen weniger leidvoll zu sein? Bergljot ist, bei allem Mitleid für ihr Leiden, keine sympathische Protagonistin. Es gelingt ihr im Laufe eines langen Familien- und Berufslebens nicht, ihre Verletzungen zu heilen. Immer wieder heizt sie den Konflikt mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter aufs Neue an, ohne ihn einer Lösung zuführen zu wollen. Der Eindruck entsteht, dass sie in ihrem Leid verharren will.

    Und so entsteht Seite für Seite das Bild einer Familie, in der das öffentliche Ansehen und die harmonische Fassade wichtiger sind als die Probleme einzelner Familienmitglieder, die als Störfaktoren kurzerhand und dauerhaft unter den Teppich gekehrt werden.

    Eine nicht einfache, aber lohnende Lektüre.

  1. Familienverstrickung hinter bürgerlichen Fassaden

    Bergljot ist eine geschiedene Frau um die 60. Sie hat drei erwachsene Kinder sowie bereits Enkelkinder. Mit ihren Eltern und Geschwistern hat sie seit rund 15 Jahren keinen nennenswerten Kontakt mehr, vor langer Zeit kam es zum Bruch – warum bleibt lange unklar. Unerwartet meldet sich Bergljots Bruder Bard bei ihr: Der Vater will offenbar seinen Nachlass ordnen und plant, die beiden Ferienhäuser auf der Insel Hvaler nur den beiden jüngeren Schwestern Asa und Astrid zu übertragen. Bergljot und Bard sollen halbherzig dafür entschädigt werden. Bard regt sich über diese Ungerechtigkeit maßlos auf und sucht die Unterstützung seiner Schwester. Die Erbstreitigkeit ist der Auslöser dafür, dass bei Bergljot ein erlittenes Trauma wieder an die Oberfläche stößt und ihre zuletzt gewonnene Stabilität ins Wanken bringt. Dabei geht es ihr nicht um die Erbschaft, ihre Probleme sind viel weitreichender und man tastet sich nur langsam vor.

    Der Roman wird ausschließlich aus der Sicht von Ich-Erzählerin Bergljot erzählt. Als Leser sind wir dicht an ihr dran, wir erfahren ihre Gedanken, Emotionen sowie die Komplexität ihrer Seelenleiden. Wir lernen ihre Ratgeber kennen. Sie berichtet, dass sie jahrelang intensive Psychoanalyse benötigte, dass sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, um mit einem verheirateten Professor eine Beziehung zu haben. Heute lebt sie mit Lars zusammen, aber auch er kann nicht verhindern, dass sie ihre Sorgen und Nöte mit Alkohol und Rastlosigkeit betäubt. Bergljot ist keine Sympathieträgerin. Trotzdem hört man ihr zu, empfindet große Empathie mit einer Frau, die Erlebnisse aus der Kindheit, die direkt zu ihrer Herkunftsfamilie führen, nicht verwinden kann. Der plötzliche Tod des Vaters führt schließlich zu persönlichen familiären Kontakten, denen sich Bergljot nicht entziehen kann. Immer wieder ist ein Elefant im Raum, um den sich für Bergljot alles dreht, den die anderen aber nicht sehen wollen, der für sie sogar inexistent ist. Das tut ihr unendlich weh, während sich die anderen Familienmitglieder Ruhe hinter der Fassade einer intakten, glücklichen Familie wünschen. Der Kampf um die Deutungshoheit der Wahrheit bestimmt den Roman.

    Der Gedankenstrom Bergljots führt von der Gegenwart ausgehend in ausgesuchten Sequenzen zurück in die Vergangenheit. Er zeigt eine Mutter, die wenig belastbar ist und dies theatralisch zu inszenieren weiß. Der Vater zeigt sich als Patriarch. Als Geschäftsmann arbeitet er viel und erschafft ein umfangreiches Vermögen. Die Geschwister teilen sich schon recht früh in zwei Parteien auf, sie buhlen um Liebe und Zuwendung der Eltern. Für den Leser ist die Lektüre fordernd. Das Stilmittel der Wiederholung passt zwar hervorragend, um das Innenleben und die Gedankenkreisläufe der Protagonistin zu beleuchten, nutzt sich stellenweise aber auch etwas ab. Man braucht definitiv Konzentration und Aufmerksamkeit. Gegenwart und Vergangenheit wechseln sich ab. Neue Aspekte und Fakten treten fortlaufend hinzu, teilweise aber ohne Unterbau, so dass man sich manches herleiten oder erdenken muss. Es wird definitiv nicht alles auserzählt. Dennoch bekommt man ein immer klareres Bild, worum es im Kern geht, worin der eigentliche Konflikt besteht, welche Verletzungen Bergljot auch nach Jahrzehnten nicht hinter sich lassen kann. Das Leiden wird in fast jedem Satz spürbar:
    „Was ich damals empfand, habe ich später gedacht, als ich anfing mein Leben zu verstehen, war, dass ein Augenblick der Erkenntnis näher rückte, ich spürte es, wie ein Tier die Vorboten eines Erdbebens spürt, bevor es ausbricht. Mir graute, und ich zitterte vor der schmerzhaften Erkenntnis der Wahrheit, die mich beben lassen und in Fetzen reißen würde, vielleicht arbeitete ich unbewusst daran, die Erkenntnis zu beschleunigen, um es hinter mich zu bringen, wenn ich ihr schon nicht entkommen konnte.“ (S. 32)

    Dieses Psychogramm liest sich sehr fesselnd. Die Konstruktion des Romans ist gelungen, sie führt zu einem vermeintlichen Höhepunkt hin, um die Handlung anschließend wieder in ruhigere Fahrwasser zu leiten. Die einzelnen Charaktere gewinnen zunehmend an Kontur, weil andere Perspektiven in den Text Eingang finden. Bergljot ist keinesfalls selbstgerecht, sie geht mit sich hart ins Gericht, hinterfragt eigene Entscheidungen, übt Selbstkritik und leidet unter permanenten Schuldgefühlen. Sie erkennt die Leistung der Schwestern rund um die betagten Eltern an. Dieser Facettenreichtum zeigt die Komplexität der familiären Verstrickungen, die bis in die Enkelgeneration hineinreichen. Selten geht einem die Zerrissenheit und Ambivalenz einer Figur so nahe. Automatisch kommt man ins Nachdenken darüber, wie man selbst an dieser oder jener Stelle gehandelt hätte. Es liegt ein schwerwiegender Familienkonflikt zugrunde, bei dem man sich vor Augen halten muss, dass fast ausschließlich die Sicht Bergljots im Fokus steht.

    Ich habe den Roman, der bereits 2019 unter dem Titel „Bergljots Familie“ im Osburg Verlag erschien, zum zweiten Mal begeistert gelesen. Vigdis Hjorth hat einen interessanten, außergewöhnlichen Schreibstil. Die Kapitel sind meist kurz, die Geschichte baut sich langsam auf. Hat man sich aber erst einmal auf die Erzählung eingelassen, kommt man nicht mehr davon los. Ein Roman, der einen in die Tiefen erlittener Traumata und Verletzungen führt, der zeigt, dass man erlittenes Unrecht nicht einfach hinter sich lassen kann, dass es im Gegenteil sehr lange Arme hat.

    Ein starkes, psychologisch dichtes und sehr authentisches Stück Literatur! Große Leseempfehlung!

  1. 5
    02. Apr 2024 

    erschütternde Einblicke in ein familiäres Beziehungsgeflecht

    Ausgangspunkt dieses Romans der norwegischen Schriftstellerin Vigdis Hjorth ist die Absicht eines Elternpaares, zwei Sommerhäuser, in denen die Familie viele glückliche Tage erlebt hat, zwei jüngerenTöchtern im Wege der Erbfolge zu vermachen. Bergljot, Ich-Erzählerin in diesem Roman und älteste Tochter, und ihr Bruder sollen insoweit leer ausgehen, so haben es die Eltern geplant.

    Was wie ein Streit ums Erbe anfängt, spaltet die Familie weit über die Frage nach einem gerecht verteilten Nachlass hinaus. Was die Autorin hier entwirft, ist ein regelrechtes Psychogramm der ältesten Tochter Bergljot. In nüchterner Sprache wird in kurzen, unnumerierten Kapiteln die Geschichte der Familie aus der Sicht Bergljots erzählt. Ich habe diesen Roman während der Osterzeit gelesen und er hat auf mich zeitweise wie eine Passionsgeschichte gewirkt. Die Ich-Erzählerin, fast sechzig Jahre alt, ist selbst Mutter dreier erwachsener Kinder, geschieden, beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig. Eine gestandene Frau, so könnte man meinen. Doch die Art, wie sie von sich, ihrer Kindheit und ihren Konflikten mit Eltern und Geschwistern berichtet, zeigt, dass hier ein traumatisierter, ein bis ins Erwachsenenalter leidender Mensch spricht.

    Der Vater stirbt und bei Bergljot kommen traumatische Ereignisse aus ihrer Kindheit hoch. Sie, die den Kontakt zur Familie vor Jahrzehnten abgebrochen hatte, nimmt den Kontakt zu den Geschwistern und zur Mutter mehr oder weniger notgedrungen wieder auf, ihre Anwesenheit bei der notariellen Testamentseröffnung ist erforderlich.

    Langsam entfaltet sich vor dem Leser, was Bergljot in ihrer Beziehung zur Familie umtreibt, warum sie mit ihr gebrochen hat. Einzig durch die Perspektive Bergljots dringt man in das Familiengeflecht ein.
    Langsam entwirren sich die Fäden, in die alle verstrickt zu sein scheinen. Langsam ist überhaupt ein Stichwort, denn Bergljot schildert minutiös alltägliches, wiederholt Gedanken, Erlebtes, fast wie in Endlosschleife. Das ist anstrengend zu lesen, langweilte mich trotzdem nicht, sondern entwickelte einen Lesesog, der mich quasi in den Kopf oder die Seele Bergljots hineingesaugt hat. Der Leser in der Rolle des allerdings hilflosen Therapeuten, vor ihm liegt Bergljot.

    Es geht um traumatisierende Kindheitserfahrungen und die Anerkennung dessen, was passiert ist von der eigenen Familie, insbesondere von der Mutter und von den jüngeren Schwestern. Es geht um die Auswirkungen des Fehlverhaltens einer Person auf das Familiengefüge und auf den Zusammenhalt einer ganzen Familie. Dem konnte ich mich schwer entziehen, zu drängend die Fragen danach, ob Bergljot endlich Frieden finden wird, wird ihr Leiden von der Familie anerkannt oder bleibt es hier bei einer lebenslangen Lüge ?

    Ein schockierender Einblick in eine zerstörte Familie, die insbesondere die fatale Rolle der Mutter Bergljots beleuchtet, die sich, finanziell abhängig von ihrem Mann und abhängig von der möglichen Außenwirkung der Wahrheit auf ihr eigenes Leben, nicht emanzipieren kann.

    Ein großartiger Roman, den ich allen, die harte Themen nicht scheuen, nur empfehlen kann.

    Ich vergebe 5 Steren.

  1. Schockierende berührende Geschichte einer traumatisierten Frau

    Menschlich berührende traumatische Familienbeziehungsgeschichte, inhaltlich schockierend, stilistisch von Wiederholungen geprägt

    Dies ist ein Buch, das dem Leser einiges abfordert, nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch. Ich werde versuchen, es im Folgenden zu erläutern ohne zu viel aufzudecken.

    Auslöser einer familiären Krise sind Erbstreitigkeiten nach dem plötzlichen Tod des Vaters, aber sie sind nicht das eigentliche Problem, sondern bringen etwas in Gang, was lange unter der Decke gehalten wurde. Es wird aufgewühlt, was die Familie (Mutter, drei Schwestern und ein Bruder) eigentlich vergessen wollte. Diesem geht es hauptsächlich um die beiden Ferienhütten, an denen er keinen Anteil haben soll, aber der ältesten Schwester Bergljot geht es um ganz anderes. Das Materielle interessiert sie nicht, sondern die Wahrheit und Anerkennung um das in ihrer Kindheit Geschehene.

    'Wie war es, ein normaler Mensch zu sein? Ich wusste nicht, wie es war, ein normaler Mensch zu sein, ein unbeschädigter Mensch, ich hatte keine andere Erfahrung als meine eigene.'

    Sie ist die Ich-Erzählerin, die uns einen tiefen Einblick in ein ihre Seele gewährt, in ein Kindheitstrauma, das noch immer wirksam ist. Zuerst wird einiges nur angedeutet, später verdichten sich die Hinweise, wobei bei manchem Leser doch ein Hauch von Zweifel zurück bleibt. Für mich allerdings steht fest, dass die Erzählerin Bergljot als kleines Mädchen ein schweres Trauma erlitten hat, unter dem sie auch als über Fünfzigjährige noch leidet, weil nie aufgeklärt wurde was wirklich passiert ist. Es geht ihr um Anerkennung des Geschehenen; sie leidet unter dem Verhalten der anderen Familienmitglieder. Das ist schwer mitzuerleben, schmerzhaft und schockierend. Dazu kommt noch eine stilistische Besonderheit, die dem Leser einiges abfordert: nicht nur inhaltliche Wiederholungen sind es, die manchmal sogar ein wenig nerven, sondern auch stilistische, die immer wieder gleichen Sätze, nur manchmal umgebaut.

    Normalerweise würde mich das bei einem Buch sehr stören, hier nicht, weil es gut zum Seelenzustand von Bergljot passt. Die Sprache drückt aus, wie ihre Gedanken immer wieder um das Gleiche kreisen; sie fließt nicht, sondern stockt, führt im Kreis herum und strapaziert die Geduld des Lesers, wirkt aber sehr eindrücklich.

    Wir erfahren nach und nach, auch in Rückblenden, wie es um die Familie steht, wie sie zueinander stehen, wie die Geschwisterkonstellationen sind und wer wie auf das Geschehene reagiert. Das reicht von Leugnen über abwägendes Hin und Her bis zum Lügen. Wie soll Bergljot damit umgehen, wird sie eine Lösung finden? Wie soll sie sich verhalten? Wird sie es schaffen, 'ihre Narben nicht mehr zu streicheln'? All das beschäftigt auch den Leser und lässt die Gedanken rotieren.

    Dieses Buch ist schwer zu ertragen und kann nur in Etappen gelesen werden. Man sollte immer wieder innehalten, die Gedanken ordnen, das Gelesene verdauen.

    Fazit

    Wer Wiederholungen inhaltlicher und stilistischer Art nicht ertragen kann und auch das Leid anderer Menschen nicht, für den ist das Buch ungeeignet. Es vermittelt Erfahrungen, die man nicht selber machen möchte, darum aber gerade umso wertvoller sind. Es schockiert, es erweckt Mitleid und Mit-Leiden mit einer geschundenen traumatisierten Seele und gewährt tiefe Einblicke in die Psyche eines gequälten Menschen. Es tut das, was Literatur manchmal tun soll: es zwickt und sticht und weckt – jedenfalls in mir – viel Verständnis für die Opfer von Taten, die man nicht verzeihen und nicht vergessen kann.

    Und nicht zuletzt habe ich Gedanken gefunden, die über diese Familiengeschichte hinausreichen und allgemeingültig sind, denn es gibt Strukturen in Konflikten und menschliche Verhaltensweisen, die überall gleich sind:
    'Daran gehe die Welt zugrunde, sagte sie, weil Leute keine Grenzen setzten, weil sie nicht ehrlich waren und scheinheilig, nur um sich Unannehmlichkeiten zu ersparen...'

  1. Der Elefant im Raum

    „Das war gut, und es war kein Wunder, dass sie wahrscheinlich darüber gesprochen hatten, was von der Geschichte zu halten war, denn man kann nicht alles glauben, was Menschen über ihre Kindheit erzählen.“ (Zitat Seite 245)

    Inhalt
    Der Erbstreit zwischen den vier Geschwistern beginnt schon Wochen vor dem Tod des Vaters, als dieser die beiden Ferienhütten der Familie auf der Insel Hvaler auf die zwei jüngeren Töchter Astrid und Åsa überschreibt und sowohl Bård, den Ältesten, als auch die ältere Tochter Bergljot übergeht. Dreiundzwanzig Jahre ist es her, seit Bergljot mit der Familie gebrochen hat, doch nun ergreift sie Partei für Bård. Bald wird klar, in dieser Geschichte ihrer Familie, die uns Bergljot hier erzählt, ist der Streit um das Erbe nur der Auslöser, denn es ist Bergljot, die endlich gesehen werden will. Sie will, dass man ihr endlich zuhört und ihr glaubt, denn ihre Kindheit ist anders verlaufen, als die ihrer beiden jüngeren Schwestern. Vielleicht könnte sie dann endlich einen Schlussstrich ziehen.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um Familiengeheimnisse, prägende Kindheitserfahrungen, Mutter-Kind-Konflikte, Geschwister, Anerkennung, Glaubwürdigkeit, Vertuschung, Schuld und die Frage nach den Grenzen der Vergebung.

    Erzählform und Sprache
    „Ich wusste nicht, wie es war, ein normaler Mensch zu sein, ein unbeschädigter Mensch, ich hatte keine andere Erfahrung als meine eigene.“ (Zitat Seite 75) Dies sagt die Ich-Erzählerin Bergljot, beinahe sechzig Jahre alt, Literaturwissenschaftlerin und Mutter von drei erwachsenen Kindern, über sich selbst. Die aktuelle Handlung erstreckt sich über einen knappen Zeitraum zwischen dem Tod des Vaters, Notartermin und Abwicklung des Nachlasses. Die persönlichen Erinnerungen, welche die Ich-Erzählerin mit uns teilt, schieben sich als kurze Episoden und nicht chronologisch zwischen die aktuellen Ereignisse. So wird rasch klar, dass sich der tiefe Riss, der sich seit dem Erbstreit durch die Familie zieht, nur symbolisch ist für Verfälle, sie weit in der Vergangenheit liegen und die nicht klar ausgesprochen werden, aber dennoch deutlich genug sind, wenn Bergljot „darüber“ sprechen will. Durch die gewählte Form der direkt Betroffenen als Ich-Erzählerin tauchen wir tief in ihre Gedankenströme ein. Die Sprache, wie die Hauptfigur Bergljot selbst, ist anstrengend, wie ein in Wiederholungen sich drehender Gedankenkreisel, und man wird beim Lesen in diesem Sog mitgewirbelt. Als bewusst eingesetztes Stilelement passen die dauernden Wiederholungen einzelner Gedankengänge für mich perfekt, aber diese Wiederholungen der Gedanken, Worte und Sätze ziehen sich konstant durch die gesamte Geschichte. Auch wenn die Idee dahinter klar ist, es wird die Situation der Hauptfigur auch durch die Sprache eindrücklich dargestellt, so hat die Handlung dadurch trotz einiger bewusst eingesetzter Wendungen und Spannungselemente Längen. „Das Leben der Menschen ist wie ein Roman, dachte ich, wenn du in einem Roman weit genug gekommen bist, willst du, auch wenn er ziemlich langweilig ist, wissen, wie es weitergeht ...“ (Zitat Seite 310) Dieses Teilzitat beschreibt perfekt meine persönliche Leseerfahrung mit diesem Roman.

    Fazit
    Eine gespaltene Familie, verstörende Geheimnisse, über die nicht gesprochen wird, und die wiederholten Versuche einer etwas nervenden, an sich selbst und ihrem Leben zweifelnden Hauptfigur, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

  1. Eine klassische TäterOpfer-Umkehr

    Kurzmeinung: Monothematisch - zu enger Fokus - schwer lesbar.

    Bergljot hat sich mit ihrer Familie überworfen, seit Jahren hat sie nur noch durch ihre eigenen Kinder Kontakt zur Kernfamilie, Vater, Mutter, Bruder, zwei jüngere Schwestern. Anlässlich einer Erbschaftsangelegenheit bricht ein alter Konflikt wieder auf, denn es steht ein Missbrauchsvorwurf im Raum.

    Der Kommentar und das LeseErlebnis:
    Die norwegische Autorin Vigdis Hjorth lässt die Leserschaft in ihrem Roman „Ein falsches Wort“ in den Kopf des Missbrauchsopfers Bergljot schauen, nein, während der Lesezeit lebt man in Bergljots Kopf. Obwohl das Erleben und Erleiden des Missbrauchs in der eigenen Familie eigentlich von der über sechzigjährigen Bergljot bereits bewältigt ist und sie beruflich und familiär erfolgreich gewesen ist, fokussiert sich die Autorin auf diesen einen kurzen Lebensabschnitt, als für die Betroffene alles wieder aufbricht: die Tat durch den Vater, der Verrat durch die Mutter und die Unschlüssigkeit der Geschwister, die nicht wissen, wie sie sich positionieren sollen. Für Bergljot, die unter schweren Schüben von Depression und Dissoziation leidet, ist die Auseinandersetzung mit ihrer Familie immer wieder ein „Kampf auf Leben und Tod“. Der Leidensdruck ist auch auch noch nach Jahrzehnten enorm.
    Die Autorin zeigt auf, wie sich Betroffene fühlen. Dabei kommt Bergljot nicht positiv rüber, sie überdramatisiert, wobei ich nicht den Missbrauch an und für sich meine, sondern das ganze Drumherum, das ganze Ego Bergljots, und macht für alles und jedes, was in ihrem Leben nicht gut lief, den Missbrauch verantwortlich. Das geht soweit in Ordnung, da die Protagonistin für sich selber proklamiert, dass Menschen, die Leid erfahren haben, nicht notwendigerweise bessere Menschen wären. Warum auch? Aber warum sollte ich mich für sie interessieren? Ich interessiere mich nicht für Egozentriker. Und es ist nicht meine Familie.
    Bergljot kann nicht anders und will auch nichts anderes als dafür zu kämpfen, dass ihre Familie ihre Verletzungen anerkennt, was aber nicht geschieht. Sie will Gerechtigkeit und was sie bekommt, ist Geld. In ihrem Kopf geht es drunter und drüber und sie kreiselt mit ihren Gedanken stets um das eine: wie die anderen reagierten und reagieren und wie sie reagieren werden, dabei ist sie psychotisch und nervt mit ihren ständigen Wiederholungen. Ja, Bergljot nervt. Und dass sie nervt, nehme ich der Autorin übel. Es wäre auch anders gegangen, man hätte mehr Empathie empfunden. Opfer sind jedoch nicht notwendigerweise sympathische Menschen. Das wird schnell klar.Freilich vermittelt die Autorin auch das System gegenseitiger Abhängigkeit – und das macht sie gut und reicht für drei Sterne aus.

    Bergljot erzählt jedem, den sie trifft, immer wieder dasselbe (und leider auch mir!), sie ist eine fordernde Person, eine, die verlangt, dass sich die ganze Welt um sie dreht. Deshalb ist es schwer, wenn nicht unmöglich für die geneigte Leserin, eine tiefe Bindung zu ihr aufzubauen und echte Empathie zu empfinden. So mag es freilich vielen Opfern ergehen, die sich in ihrem Leid verbeißen. Doch irgendwann einmal ist man selber dafür verantwortlich, was man aus seinem Leben macht – oder eben auch nicht, selbst dann, wenn man etwas Schreckliches erlebt hat. Wahrhaft schockierend in dem Roman ist es, dass die Familie eine TäterOpfer-Umkehr versucht.
    Andererseits ist die Protagonistin, das Missbrauchsopfer, selber kein Unschuldslamm: sie nimmt die ganze Familie in Sippenhaft für das, was ihr passiert ist und ist dabei besonders ihren zwei jüngeren Schwestern gegenüber gnadenlos. Dass das Opfer selber fehlerhaft ist und "Unrecht tut", ist ein großes Plus des Romans. Müssen Opfer denn gut und edelmütig sein? Natürlich nicht.
    Bergljot entscheidet sich schließlich und endlich dafür, keine weitere Heilung zu suchen und nimmt eine kindische Haltung ein, sie ist jemand, der den Schorf über einer Wunder immer wieder aufkratzt. "Willst du gesund werden", fragt Jesus einmal in der Heiligen Schrift. Bergljots Antwort, bedauerlicherweise, darauf, wäre ein gequältes "Nein".

    Sicher ist „Ein falsches Wort“ ein lobenswerter Versuch der Autorin, sich in Missbrauchsopfer einzufühlen. Die Stilmittel der ständigen Wiederholungen verdeutlichen nur zu genau, wie sehr die Protagonistin in sich selber gefangen ist, nerven aber auch unendlich, da man ja alles schon einmal, zweimal und dreimal gehört, sprich gelesen hat.

    Fazit: Leider sind Menschen, die sich selbst für den Nabel der Welt halten, bei mir nicht sonderlich beliebt und die Stilmittel der Autorin haben mich nachhaltig abwechselnd verärgert und gelangweilt.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: S.Fischer, 2024, Neuauflage