Die Zeit im Sommerlicht: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Zeit im Sommerlicht: Roman' von Ann-Helén Laestadius
4.25
4.3 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Zeit im Sommerlicht: Roman"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:501
EAN:

Rezensionen zu "Die Zeit im Sommerlicht: Roman"

  1. 3
    29. Okt 2024 

    Kindliches Trauma mit Längen

    Anne-Risten, Else-Maj, Jon-Ante, Marge und Nilsa ereilt Anfang der 1950er Jahre das gleiche Schicksal: als geborene Samen - damals noch (abwertend) "Lappen" genannt - müssen sie die "Nomadenschule" besuchen. Dort sind sie wie in einem Kinderheim untergebracht und dürfen ausschließlich Schwedisch sprechen, ihrer eigenen Muttersprache werden sie enteignet. Dem nicht genug, steht der Schule die "Hausmutter" vor, einer bösartigen Erzieherin, die es scheinbar genießt, die kleinen Kinder zu quälen und auch vor körperlichen Übergriffen nicht Halt macht. 30 Jahre später sind alle Protagonist:innen auf ihre eigene Art von ihren schrecklichen Kindheitserlebnissen traumatisiert und die Wiederbegegnung mit der Hausmutter wird zum schicksalshaften Ereignis...

    Ann-Helen Laestadius setzt mit "Die Zeit im Sommerlicht" die Aufarbeitung der Unterdrückung der Samen im 20. Jahrhundert in Schweden fort. Bereits in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Das Leuchten der Rentiere" thematisierte sie die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Skandinaviens.
    Ihr Schreibstil mutet kindlich-naiv an, was in den Episoden der 1950er Jahre, als tatsächlich über die Erlebnisse der Kinder erzählt wird, wunderbar passend und einfühlend ist. In den Zeitsprüngen, welche die Leser:innen zwischendurch immer wieder in die 1980er versetzt, scheinen die Erwachsenen doch noch sehr viel kindliches an sich zu haben, was bestimmt auch an eben jenem Schreibstil liegt. Ob dies als Stilmittel beabsichtigt oder eben die grundsätzliche Schreibart ist, kann nicht nachvollzogen werden, ich empfand es aber über weite Teile des geschilderten Erwachsenenlebens als etwas mühsam und teilweise auch nervig.

    Grundsätzlich hat der Roman seine Längen, besonders in der ersten Hälfte des Buches. Obwohl das Erzählte berührend ist, musste ich das Buch immer wieder weglegen. Erst in der zweiten Hälfte begann der Roman wirklich mitreißend zu sein, die Geschichten fanden zusammen und verwoben sich ineinander. Exakt so ist es mir bei "Das Leuchten der Rentiere" auch ergangen. Was die Lesefreude bei mir zudem etwas hemmte, war die Tatsache, dass für die Geschichte eigentlich unwichtige Details in aller Breite ausgeschmückt werden. Natürlich ist es wichtig, samische Rituale und Gepflogenheiten zu erläutern, ob dies jedes Mal der Fall sein und sich immer wieder wiederholen muss, bleibt zu bezweifeln. Aber auch bezüglich anderer Thematiken, vorwiegend wenn es um Beziehungen geht, weiß sich die Autorin ausführlich in Details zu verlieren.

    Was mir wirklich sehr gut gefallen hat, ist der Umgang und die Thematisierung von Sprache - nicht nur, dass oft samische Ausdrücke verwendet werden, auch die Beschreibung wie diese eingesetzt wird, wie sie teils von eigenen Angehörigen aufgrund von schlechten Erfahrungen negiert wird, was sie aber trotzdem für die Sami bedeutet, das alles ist wunderschön beschreiben.

    Mein Fazit: "Die Zeit im Sommerlicht" ist ein lehrreicher Roman, der die Geschichte der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Skandinaviens fiktional nachzeichnet. Die kurzen Kapitel und die Zeitsprünge, die zwischen der Kindheit der Protagonist:innen und dem Erwachsensein derer wechseln, macht das Lesen abwechslungsreich. Leider macht die teilweise vorhandene Detailverliebtheit und der durchwegs kindliche Sprachstil es zu keinem kurzweiligen Lesevergnügen. Es ist trotzdem lesenswert, schon alleine, weil über Menschen berichtet wird, die in der europäischen Wahrnehmung bislang zu wenig Platz gefunden haben.

  1. Samische Schicksale

    Mein Lese-Eindruck:

    Fünf samische Kinder sind es, die die ebenfalls samische Autorin uns vorstellt. Fünf Kinder im Grundschulalter, die ihren Familien entzogen werden und in sog. Umerziehungsschulen zu Schweden geformt werden sollen. Eine harte Zeit! Ihre Muttersprache wird ihnen verboten, ihr traditioneller Gesang, das Joiken, wird als Sünde bezeichnet, ihre samischen Namen werden geändert, kurz: sie werden ihrer Kultur, ihrer Familie und ihrer Identität entfremdet. Dazu müssen sie mit der Verachtung der Lehrer klarkommen, die sie verächtlich als Lappen bezeichnen, und vor allem sind sie der Grausamkeit der Heimleiterin ausgesetzt. Ebenso hilflos stehen sie einer Bande älterer samischer Jungen gegenüber, die die erlittenen Grausamkeiten ungefiltert an die Jüngeren weitergeben.

    Der Autorin geht es aber nicht nur darum, das Unrecht dieser Nomadenschulen zu zeigen, sondern es geht ihr vielmehr um die Folgen dieser Maßnahmen. Und daher springt sie immer wieder von den 50er in die 80er Jahre hinein und zeigt die Folgen. Die Kinder, inzwischen Erwachsene, sind sichtlich traumatisiert. Alkoholismus, Medikamentensucht, Gewalttätigkeit, Anpassung, Verleugnung der Ethnie, Landflucht, Hypochondrie, Bindungsangst, Einsamkeit, Sinnsuche bei der Erweckungsbewegung der Laestadianer, aber auch Verdrängung und übersteigerte Anpassung an die schwedische Umgebung: die Zöglinge der Nomadenschulen sind für ihr Leben gezeichnet, und nicht jedem gelingt ein zufriedenes Leben. Allen gemeinsam ist das Verschweigen ihrer Erlebnisse.

    Die Autorin wirft nur einzelne Schlaglichter und erzählt in Episoden, und das Füllen der Zwischenräume bleibt dem Leser überlassen. Und so erfährt er eher am Rande von den Schädelvermessungen der 20er Jahre, von den aktuellen Problemen der Rentierzüchter, vom nach wie vor virulenten Rassismus und der Ausgrenzung der Samen. Laestadius erzählt das alles in einer eher spröden Sprache, und ihr Roman weist (leider) einige Längen auf, aber trotzdem entstehen hier sehr eindringliche Lebensbilder, und die seelische Not vor allem der Kinder ist berührend.

    Wer die Romane von Richard Wagamese und Zeitungsberichte über die Residential Schools in Kanada gelesen hat, kennt das unmenschliche System solcher Umerziehungsanstalten. Aber bislang war mir unbekannt, dass es solche Anstalten auch für die Samen, das letzte und einzige indigene Volk Europas, gegeben hat.

    Laestadius hält der schwedischen Gesellschaft selbstbewusst einen Spiegel vor, ohne aber in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen.

    Lesenswert!

  1. Der Türspalt in die Vergangenheit

    2022 erschien der erste Band einer Trilogie der 1971 geborenen Sámi Ann-Helén Laestadius über die samische Bevölkerung Schwedens auf Deutsch, "Das Leuchten der Rentiere". Der schwedische Originaltitel "Stöld" (Diebstahl) verrät mehr über den Inhalt: Rentierwilderei im heutigen Lappland und die unterlassenen Ermittlungen durch die schwedische Polizei als Teil von strukturellem Rassismus gegen die samische Bevölkerung.

    Auch beim nun erschienenen zweiten Band "Die Zeit im Sommerlicht" sagt der Originaltitel mehr: In "Straff" (Bestrafung) geht es um das System der Nomadenschulen, in die Rentierzüchterfamilien ihre Kinder ab sieben Jahren schicken mussten. Wochenlang von zuhause getrennt, durften sie ihre Muttersprache nicht sprechen, schreiben oder lesen, nicht joiken, erlebten die Verunglimpfung ihrer Kultur und waren physischer wie psychischer Gewalt durch das Personal und ältere Kinder schutzlos ausgeliefert. Ähnlich wie es der kanadische Indigene Richard Wagamese in seinem Roman "Der gefrorene Himmel" über die kanadischen Residential Schools beschreibt, sollte den Kindern mit Gewalt ihre Kultur und Tradition ausgetrieben werden – ein Trauma mit lebenslangen Folgen.

    Fünf Schicksale in zwei Zeitebenen
    Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Mitte der 1950er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa im Internat in Láttevárri, das unter der Leitung der brutalen Hausmutter Rita Olsson steht. Einzig die junge Betreuerin Anna, eine sanfte und zugewandte Sámi, schenkt den Kindern Zuneigung und gibt ihnen Halt. Ihre Entlassung ist ein Schock.

    Mitte der 1980er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa knapp 40. Alle leiden unter den Internatserfahrungen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Else-Majs Mann, mit dem sie in ihrem Dorf eine traditionelle Rentierzüchterfamilie gegründet hat, war ebenfalls Internatsschüler, doch ist das schmerzhafte Thema tabu. Anne-Risten lebt in Kiruna, hat einen Schweden geheiratet und spricht mit ihren Kindern nur Schwedisch. Sie leidet unter multiplen körperlichen Beschwerden, unter der Verachtung ihrer Tochter und der Angst, als Samin „enttarnt“ zu werden. Ebenfalls in Kiruna leben Marge und Jon-Ante, der im Internat von Nilsa und seiner Bande misshandelt wurde. Beiden fehlt es an Selbstbewusstsein und Mut zu einer Bindung. Als Marge ein kolumbianisches Mädchen adoptiert, erkennt sie Teile ihrer eigenen Geschichte wieder. Der allseits verhasste Nilsa, der als Rentierzüchter ins Dorf zurückgekehrt ist, leidet unter seiner Mitschuld am Tod seines jüngeren Bruders Aslak.

    Was alle vereint, ist das kollektive Schweigen. Erst als Rita Olsson wieder auftaucht, gerät etwas in Bewegung. Der klugen Anna ist es schließlich zu verdanken, dass die Mauer des Schweigens erste Risse bekommt:

    "Tastend wurden Erinnerungen formuliert, für die Anna einen Türspalt geöffnet hatte." (S. 473)

    Fiktiv und doch wahr
    Die einzelnen Kapitel springen zeitlich und zwischen den Hauptfiguren hin und her, trotzdem behält man leicht den Überblick. Wer "Das Leuchten der Rentiere" gelesen hat, wird einige der Personen wiedererkennen, doch sind die Bücher auch völlig unabhängig zu lesen. Ann-Helén Laestadius setzt sich in beiden fiktiv, jedoch auf wahren Begebenheit beruhend, mit dem Rassismus gegen die samische Bevölkerungsminderheit in Schweden auseinander und zeigt die Weitergabe des samischen Traumas über Generationen. Ich habe auch "Die Zeit im Sommerlicht" als schonungs-, jedoch nicht hoffnungslosen Roman mit großem Interesse und ausgesprochen gern gelesen und warte nun sehr gespannt auf den noch ausstehenden dritten Band.

  1. Interessant und beeindruckend

    „Als sie das Internat betrat, hatten sich die Betreuerinnen in einer Reihe aufgestellt und die Kinder angelächelt, in deren Gesichtern die Tränen Spuren hinterlassen hatten. Vor allen stand die Heimleiterin Rita Olsson, die sie Hausmutter nennen sollten. Sie lächelte nicht.“ (Zitat Pos. 49)

    Inhalt
    Vor zwei Wochen war auch die siebenjährige Else-Maj in dem Bus gesessen, der die Kinder aus den Sami-Dörfern einsammelte und in die Nomadenschule brachte, ein Internat in Láttevárri, wo sie die schwedische Sprache und Kultur lernen sollen. Wer von der gefürchteten Hausmutter Rita Olssen dabei erwischt wird, samisch zu sprechen, wird streng bestraft. Hilfe und Unterstützung finden sie bei der jungen Erzieherin Anna, doch diese verlässt eines Tages plötzlich das Internat. Die Jahre in der Nomadenschule, fern von ihren Heimatdörfern und ihren Familien, traumatisieren und prägen die Kinder wie Else-Maj, Jon-Ante, Nilsa, Marge und Anne-Risten für ihr weiteres Leben. Auch wenn sie nicht über diese schlimme Zeit reden, die Erinnerungen lassen sie auch nicht los, als sie längst erwachsen und selbst Eltern sind.

    Thema und Genre
    In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Sami auch in Schweden diskriminiert und unterdrückt, man zwang die Eltern, ihre Kinder auf sogenannte Nomadenschulen zu schicken, wo der Unterricht ausschließlich in schwedischer Sprache stattfand. Es war verboten, samisch zu sprechen und die Zustände in diesen Schulen haben die betroffenen Menschen über Generationen traumatisiert. Obwohl es sich hier um einen Roman handelt, sind viele reale Erinnerungen von Schülerinnen und Schülern der Nomadenschulen in die Handlung eingeflossen.

    Erzählform und Sprache
    Die Autorin folgt ihren Hauptfiguren in einzelnen Abschnitten und mit einigen Zeitsprüngen über mehr als dreißig Jahre, beginnend 1950. Durch den jeweiligen Namen und auch das Jahr in den Kapitelüberschriften ist die Handlung jedoch sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gerade diese Art des Erzählens macht die Geschichte packend, lebhaft und vielschichtig auf Grund der Entwicklung der einzelnen Charaktere als Folge der Kindheitserlebnisse. In Verbindung mit der präzise schildernden, empathischen Erzählsprache ergibt sich ein eindrucksvolles, berührendes Gesamtbild.

    Fazit
    Eine fiktive Geschichte mit realem geschichtlichen Hintergrund, ein beeindruckender Roman über die Sami, ihre Kultur, ihr freies Leben in der Natur und die Schicksale ihrer Kinder, die mit etwa sieben Jahren aus diesem Leben gerissen und in strenge Internate gebracht wurden, wo man versucht hat, sie mit Zwang umzuerziehen. Eine Lektüre, die nachhallt und die man noch lange in den Gedanken behält.