Nicht aus der Welt: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Nicht aus der Welt: Roman' von Anne Köhler
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nicht aus der Welt: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:352
EAN:9783832180041

Rezensionen zu "Nicht aus der Welt: Roman"

  1. Ich bin dann mal verschwunden

    Wer kennt das nicht? Alles wird einem zu viel. Die Anforderungen des Alltags wachsen einem über den Kopf, wichtige Entscheidungen müssen getroffen werden, jeder hat ein anderes Anliegen, das man unverzüglich zu erfüllen hat und man weiß nicht mehr ein noch aus.
    Wäre es da nicht himmlisch, wenn man einfach mal „untertauchen“ könnte? Verschwinden? Jetzt, in der Minute und sofort in der eigenen Stadt?
    Das dachten sich Valentin und seine Kommilitonen in ihrem Architekturstudium auch. Sie planten daher ein Hotel und forschten zum Thema „Verstecke und Geheimräume“. Gemeinsam wollten sie Menschen einen Zufluchtsort für eine private Auszeit zum Nachdenken in der eigenen Stadt ermöglichen. Das anfängliche Phantasieprojekt wurde dann auch tatsächlich Realität. Es wurde gebaut und Valentin wurde zu seinem Direktor.

    Anne Köhler erzählt in ihrem Buch „Nicht aus der Welt“ neben Valentin von drei anderen Personen, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Chance nutzen und in diesem Hotel einchecken. Die anfängliche Erleichterung der aktuellen Situation entronnen zu sein, weicht dann allerdings schnell der Sorge wie sie das Verschwinden bei ihrer Rückkehr in ihr aktuelles Leben rechtfertigen sollen. Und so tuen sich die drei Hotelgäste zusammen, kapern kurzerhand Valentins Auto und treten damit die Flucht nach vorne an. Ihnen auf den Fersen natürlich Valentin, der sein Auto wieder haben will.
    Die Geschichte wird aus der Perspektiven des/r jeweiligen ProtagonistIn heraus erzählt und ermöglicht es so den Leser die Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu erleben. Anne Köhlers sarkastischen Erzählstil habe ich sofort geliebt. Der Autorin gelingt es die jeweilige Not ihrer ProtagonistInnen nachvollziehbar und authentisch darzustellen. So habe ich z.B. mit Frederike wirklich mitgelitten. Ich wusste sofort wovon sie spricht, war ich doch selbst schon in einer ähnlichen Situation.
    Zunächst erschien mir die Möglichkeit in unangenehmen Situationen einfach „unterzutauchen“ sehr verlockend. Wenn man sich diesen Weg allerdings bis zum Ende gedanklich durchspielt, musste ich leider feststellen, dass die jeweilige Situation dadurch nicht besser sondern eher noch unangenehmer wird. Und genau das zeigt uns Anne Köhler in ihrem Buch. Sie zeigt uns aber auch, wie man es stattdessen machen kann. Man versucht sich gegenseitig zu unterstützen, hilft zusammen und kommt so gestärkt durch die „brenzlige“ Lebenslage.

    Fazit:
    Eine rundum gelungene Geschichte, absolut empfehlenswert!

  1. Eine skurrile Geschichte mit schwungvollen Wendungen

    Bing Hempel hat 26 Semester Irgendwas studiert. Seine Freundin Elfie ist Maskenbildnerin, die das Konzept Makeup, Nagellak und gepflegtes Äußeres leidenschaftlich pflegt. Im Vergleich zu ihr schneidet Hempel eher schlecht ab und so ist Elfie, das Beste, das ihm je passiert ist. Sie hat viel zu sagen, erzählt meist einfach so drauf los. Und so war das mit dem Wünschen passiert. Auf ihre Frage hin, was er sich am meisten wünsche, wollte er mit etwas aufwarten, das unmöglich zu erreichen ist, etwas Besonderes: “den Marathon in New York gewinnen”! Elfie klatschte begeistert in die Hände und verordnete ihm zuallererst dieses Lauftraining.

    Friederike leidet unter Tagträumen, ihr Baby würde aus der vierten Etage stürzen, weil sie es losließe. Wie ein heranrasender Bus den Kinderwagen erfasst. Sie überwindet ihre schreiend schmerzenden Brustwarzen, weil ihr Mann Thomas sagt, es sei das Beste, was sie ihrem Kind jetzt geben könne. Außerdem beneide er sie um die berufliche Pause, der wichtige Chirurg. Friederike, die aus Sicht ihrer Umwelt ein Baby bespaßt, hat dem Herrn Doktor, der täglich Menschenleben rettet, nichts entgegenzusetzen. Im Licht der Werteskala haben sich ihre Rollen verschoben. Friederike hat das Leben, das mit der Geburt ihres schreienden Kindes endete, geliebt. Sie war beruflich erfolgreich, hatte als Dekanin die Fakultät geleitet, tingelte durch andere Großstädte und wurde regelmäßig in ihrem Kiez gesichtet. Dann war sie mit 43 schwanger geworden, weil die Kupferspirale versagt hatte. Jetzt findet sie Erfüllung, wenn sie einmal zehn Minuten allein im Bad ist. Sie sieht mitgenommen aus, mit ihren strähnigen Haaren, dem verkniffenen Mund und den Spuckflecken auf dem Shirt. Wenn sie nicht bald Schlaf findet wird sie jemanden umbringen.

    Als der zwanghafte Valentin, Architekt und Geschäftsführer eines Hotels, das sich mitten in Berlin und doch im Verborgenen befindet, in ihr Leben tritt, verändert sich für Friederike alles.

    Fazit: Was für eine skurrile Geschichte. Die Autorin hat einige lebensechte Charaktere zusammengebracht und sie, wie im wirklichen Leben, interagieren lassen. Der eine, zwanghaft und kontrollsüchtig, mit weitreichenden Ängsten davor sich anzustecken. Die andere als Spätgebärende, verständlicherweise völlig überfordert mit ihrem Säugling, der sie mit einem Schlag aus dem Leben gerissen hat. Zusätzlich gepeinigt durch Freundeskreis und Mann, die alles bagatellisieren und besser wissen. Ein junger Mann, der den Erwartungen seiner Mutter, von Kindheit an, nicht gerecht wird, diese Erwartungen auf seine Umwelt projiziert und sich dadurch in echte Schwierigkeiten manövriert. Das Ende ist ein schönes, aber bis dahin unterhält uns Anne Köhler mit viel Ironie, Sarkasmus und schwungvollen Wendungen. Eine spritzige Reise, die ich genossen habe.

  1. Mitten aus dem Leben, etwas skurril + ganz besonders menschlich

    Friederike, Hempel, Linda, Valentin... mit diesen Menschen haben wir es in Anne Köhlers ganz besonderem Roman (überwiegend) zu tun. Einer von ihnen ist Architekt und Inhaber eines ausgefallenen, versteckten Hotels in Berlin, die anderen sind dort Gäste. Jede*r von ihnen (einschließlich Hotelbesitzer Valentin) hat ein ordentliches Päckchen zu tragen und befindet sich in einer sehr schwierigen Situation. Linda ist schon länger im Hotel, Friederike und Hempel werden quasi neu "rekrutiert". Es ist ein Hotel, das die Gäste zum absoluten Rückzug einlädt. Es ist geheim und verspricht die Einhaltung der Privatsphäre eines jeden Gastes. Aufgrund der ganz speziellen Architektur des Hotels kann man sich schnell verirren und begegnet im Normalfall keiner Menschenseele. Valentin hat alles gut im Blick. Hofft er. Doch dann verselbständigt sich so einiges, womit der Hotelbesitzer niemals gerechnet hat...

    Sehr feinfühlig erzählt die Autorin die Geschichten dieser Menschen und bringt mich dazu zu verstehen und mitzufühlen. Es sind Geschichten mitten aus dem Leben und könnten genauso jede*n von uns betreffen. Ich habe sogar hin und wieder inne gehalten und mich selbst in den Personen ein Stück weit erkannt. Die Idee mit einem "Hotel zum Verschwinden" und Abschalten ist dann schon eine gewagte Sache und ich frage mich, ob diese Personen in der Realität tatsächlich so mutig gewesen wären dort einzuchecken. Denn eines zeigt sich doch im Verlauf dieser Geschichte: am wichtigsten ist wohl nicht das Alleinsein. Zumindest nicht für längere Zeit. Viel wichtiger ist das Miteinander, zwischenmenschliche Aktion. Von daher sollte Valentin das Konzept seines Hotels - auch um seiner selbst willen - vielleicht noch ein wenig überarbeiten ;-)

    Zum Ende hin wird der Roman dann fast schon ein bisschen klamaukig. Aber das stört nicht, es passt. Es lässt vieles mit einem Schmunzeln betrachten. Die Ernsthaftigkeit des Romans leidet darunter nicht. Nicht zuletzt, weil immer wieder, bis zum Schluss, wunderbare (psychologisch) kluge Gedanken eingestreut werden, die zum Verweilen auffordern. Einige (Neben-)Charaktere erscheinen mir allerdings als entweder zu wenig oder gar zu viel beleuchtet. Das ist ein kleiner Kritikpunkt meinerseits. Der teils offene Schluss ist aber nicht das Problem, hier werden durchaus Möglichkeiten angedeutet und das reicht mir.

    Ich habe das Buch sehr gern gelesen, es liest sich flüssig, es wärmt, es schafft Lichtpunkte in der dunklen Jahreszeit. Hat mir Freude bereitet :)