Der entmündigte Leser

Buchseite und Rezensionen zu 'Der entmündigte Leser' von Melanie Möller
3.5
3.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der entmündigte Leser"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:0
EAN:

Rezensionen zu "Der entmündigte Leser"

  1. Ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst, besonders der Literatur

    „Also bitte gar keine Kompromisse, keine Änderungen an den Texten, schon gar nicht bei toten Autoren, die sich nicht wehren können. Wer etwas nicht lesen möchte, darf es gerne lassen oder entsprechend kommentieren.“ (Zitat Pos. 260)

    Thema und Inhalt
    Eine Streitschrift für die Freiheit der Literatur, so nennt die Autorin dieses Fachbuch. Schon das Cover zeigt aussagekräftig, worum es geht. Es ist ein eindringliches Plädoyer für die Freiheit der Kunst, hier die Freiheit der Literatur, und gegen alle zeitgeistigen Wokeness-Bestrebungen, Ecken und Kanten in aktuellen Texten zu entschärfen, klassische Texte nachträglich umzuschreiben. Derartige Eingriffe, die von den Lesern selbst nicht gewünscht werden, sind Versuche, so Marlies Möller, aus mündigen unmündige Leser zu machen. „In Sachen Kunst darf es keine Abstriche geben. Wer verwässert, entmündigt den Leser – und der ist schlauer, als man denkt.“ (Zitat Pos. 95)

    Umsetzung
    Melanie Möller ist Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin. Daher stellt sie in neun Kapiteln jeweils einen griechischen oder römischen Autor der Antike einem klassischen oder modernen Autor oder Autorin gegenüber. Wobei das erste Kapitel hier eine Ausnahme macht, denn hier geht es um die großen Epen Homers einerseits und die Bibel andererseits. Es sind generell spannende und ungewöhnliche Gegenüberstellungen, wie zum Beispiel Catull und Casanova, Euripides und Annie Ernaux. Besonders interessant ist natürlich die jeweilige Begründung und Herleitung der Kombination und das Aufzeigen der literarischen und thematischen Gemeinsamkeiten. Mein persönliches Highlight ist das Kapitel 9: Sappho und Astrid Lindgren.
    Mit Textbeispielen stellt Melanie Möller in allen Kapiteln, durchaus ironisch, die theoretisch-rhetorische Frage, ob nicht doch an den Zeitgeist angepasst werden sollte, besonders auch, was das Frauenbild betreffe, um zu begründen, warum genau das falsch wäre. Ihre Argumente und Ausführungen belegt sie durch Textzitate und fachlich fundierte Einblicke in das Leben, die Gesellschaft und die Gedankenwelt jener Zeit, in welcher die besprochenen Werke jeweils entstanden sind. Immer wieder erinnert sie daran, das reale Leben des Schriftstellers von seinem fiktiven Werk und den ebenso fiktiven Figuren zu trennen. So ergibt sich auch ein sehr interessanter Streifzug durch die Welt der Literatur und zum Beispiel auch die Problematik, die entsteht, wenn wir mit dem heutigen Wissensstand und Denkart literarische Frauenfiguren, Ausdrücke, Wortwahl, Sprache aus längst vergangenen Zeitaltern und völlig anderen Kultur- und Gesellschaftskreisen woke interpretieren wollen.

    Fazit
    Das vorliegende Buch ist kein Sachbuch, sondern definitiv ein Fachbuch. Es ist sicher eine Herausforderung für Leser wie mich, bei denen Latein und die Werke des klassischen Altertums (mit einer Ausnahme, Homers Illias, da mich der Themenkreis Troja nach wie vor fasziniert) mit dem Ende der Gymnasialzeit geendet haben. „Die Studie bemüht sich lediglich um einen weiträumigen Gang durch die Zeiten, um der Geschichte der Gewalt gegen die (in diesem Fall primär literarische) Kunst historische Tiefe und Breite zu verleihen.“ (Zitat Pos. 306). Dies ist der Verfasserin mit dieser lesenswerten Streitschrift gelungen.

  1. Von der Anmaßung einer Literatursäuberungswelle

    Kurzmeinung: Hab mich durchgebissen, weil mich das Thema interessiert.

    Melanie Möller, Professorin für Latinistik an der FU Berlin wünscht sich „einen leidenschaftlicher Kampf für die Autonomie der Literatur, der diese schützt wie eine bedrohte Minderheit – und zwar kompromisslos. Denn wo kämen wir da hin, wenn jeder seine mehr oder weniger berechtigte Befindlichkeit erwartungsvoll an sie herantrüge?“.

    Der Kommentar:
    Die geneigte Leserin ist ganz bei der Vortragenden. Wohl kaum eine andere Nation denunziert und diffamiert die eigene Sprache im In- und Ausland in vorauseilendem Gehorsam aus Angst vor woker Kritik so wie die Deutschen es tun. Sie versehen die eigene Sprache mit Warnlabels und mit Triggerwarnungen. So geschiehts auf den Homepages vieler Goetheinstitute weltweit, wenn Tabellen "verdächtiger" Worte aufgestellt werden und man sich quasi im Vornhinein dafür entschuldigt, dass unsere Sprache unsere Sprache ist, denn „die rassistischen Wurzeln vieler deutscher Wörter lägen in der Zeit des Kolonialismus und wirken bis heute“. Natürlich trägt Sprache die Geschichte der Menschheit mit. Das muss sie auch. Soll man die Geschichte rückwirkend glätten?
    Tatsächlich ist der Angriff auf die Literatur, auf die Kunst und die Sprache alt. Das macht Melanie Möller klar, „früher“ wurden unliebsame Autoren verbannt oder entsorgt, heute entschärft man sie „nur“. Der Gedanke an das Attentat auf Salman Rushdie sollte jedoch klar machen, wie weit zu gehen auch heute noch Menschen bereit sind, um unliebsame Literatur und ihre Urheber einzuschüchtern. Die woke Ideologie ist nur einen kleinen Schritt von solchen Zuständen entfernt, zur Zeit übt sie Gewalt nur auf psychischer Ebene aus, doch Gewalt bleibt Gewalt.
    Dabei bleibt der Spaß an Literatur und ihre von den Autoren gewollte Anstößigkeit auf der Strecke. Humor ist eine zuweilen beißende Angelegenheit, dieses Bissige ist ein Ärgernis für die woke Ideologie. Ihre Angriff gegen die Satiriker unser Tage sind bekannt, ob Oliver Welke, Harald Schmidt, Dieter Nuhr, und viele andere – keiner ist vor rassistischen oder sexistischen Vorwürfen verschont und am liebsten würde man sie ganz zum Schweigen bringen.
    Ist Kunst frei und was darf sie? Alles. Die woke Ideologie will dieses „Alles“ nicht hinnehmen und die sprichwörtlich gewordene Axt von Franz Kafka, die das gefrorene Meer in uns aufbrechen soll, stumpf machen.
    Wie die Säuberungs – und Überschreibungswelle heutzutage im Einzelnen funktioniert zeigt Melanie Möller, ganz ihres Faches gerecht, an literarischen Beispielen (an ollen Kamellen), wobei sie jeweils einen oder mehrere antike Autoren – das ist nun einmal ihr Berufsfeld - einem (oder mehreren) modernen Autoren gegenüberstellt. Dabei geht sie für meinen Geschmack viel zu tief auf einzelne Werke ein. Das ist zu fachspezifisch und wird den „normalen“ Leser nicht interessieren und nicht erreichen. Denn es ist (leider) langweilig.
    Klar wird dennoch, dass die Autorin dafür plädiert, auszuhalten, was die Literatur dem Leser zumuten will und es dem Leser zu überlassen, was er daraus macht. Auf Triggerwarnungen können wir verzichten, eine Sprachkontrolle/Zensur/Polizei braucht es nicht. Der Leser ist schon groß. Einen Text zu entschärfen, ihn umzuschreiben und glättend zu übersetzen, ist ein Vergehen am Geist der Literatur, ja am Geist der Kunst überhaupt: „Beim Übersetzen sollten Anpassungen an den Zeitgeist unterbleiben.“ So ist es. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

    Fazit: Leider ist der Text von Melanie Möller reine Fachliteratur und gehört in den einschlägigen Fachjournalen publiziert und diskutiert. Demgemäß ist auch die Sprache fachspezifisch und schwer aufzuschlüsseln. Einige allgemeine Ableitungen und Bemerkungen sind dennoch höchst bemerkenswert.

    Kategorie: Fachbuch. Literatur
    Verlag: Galiani Berlin ein Imprint von Kiepenheuer & Witsch, 2024