Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
![Buchseite und Rezensionen zu 'Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht' von Julia Jost](https://m.media-amazon.com/images/I/41usS2xC0cL._SL500_.jpg)
Im Hof vom Gratschbacher Hof, dem Gasthaus ihrer Eltern, der Heimat der elfjährigen steht also nun der LKW, der all ihr Hab und Gut in seinem großen Inneren aufnehmen und sie von hier fort bringen wird. Fort von der schönen Luca, die ihr den Rücken zugedreht hat und in ihrer eigenen Landessprache langsam rückwärts zählt. Die Beine der Mutter schreiten großschrittig an ihrem Versteck vorbei, um hier und da einzugreifen, zu korrigieren, sich aber auch auf die Stufen zu setzen und zu stöhnen.
Sie erinnert ein Klassenfoto von neunzehnhundertneunundachtzig, da war der Franzi noch dabei. Zuerst hatte sie ihm eine gepatscht, weil er was blödes zu ihr gesagt hatte. Dann war ihr schlechtes Gewissen so groß, dass sie ihn zum Waldhaus eingeladen hatte. Dort hatte er sich bereit erklärt, sich Kopfüber in den Brunnen zu wagen, während die anderen Kinder ihn abseilten. Dann kam das Seil ohne den Franzi wieder nach oben und sie mussten die Feuerwehr rufen.
Sie hört Luca immer noch zählen und sieht jetzt außerdem, aus ihrer Position, die krampfadrigen Beine der Stubenhofoma das Gatter passieren. Man sieht ihr die schlechte Laune gleich am Gangbild an und da schimpft sie auch schon auf die Mutter und ihre Geldgier, weil sie den Hof verkauft hat.
Die Stubenhofoma, heute zu alt um die Tochter zu watschen, ist mit ihrem fahlen Gesichtsausdruck, die Wurzel der Aversion ihrer Enkelin. S. 36
Im Religionsunterricht hatte sie erfahren, dass das Rotkehlchen ja deswegen die rote Brust habe, weil es bei dem Herrn Jesus am Kreuze verweilt hatte und ein Blutstropfen, der sich, wegen der Dornenkrone von dessen Stirn gelöst hatte, das Rotkehlchen traf.
Fazit: Diese Scharade auf ein Dorf in Österreich hat mir so gut gefallen. Julia Jost macht sich Luft, lässt alles raus. Sie erzählt über die menschlichen Abgründe, die sich in einem Dorf nicht so gut verheimlichen lassen, wie in der Anonymität einer Stadt. Pädophilie in der katholischen Kirche, Homophobie der Dorfbewohner, Bigotterie und Faschismus. Und in all diesen Untiefen, findet ein junges Mädchen, das viel lieber ein Junge wäre, ihren Sinn des Lebens. Die Geschichte ist so lustig und bissig erzählt, dass ich sie als Satiere verstehe. Ein wirklich gut gelungenes Debüt.
Uffz... was habe ich mich hier anstrengen müssen. Zwischendurch pausiert und dann wieder versucht - immerhin erfolgreich. Aber mal von vorn:
Die Erzählerin ist 11 Jahre alt, als sie sich unterm Umzugs-LKW versteckt und rückwärts zählt, denn sie spielt ein Versteckspiel mit ihrer Freundin Luca. Während dieser Zeit wird ihr Wohnhaus von ihren Eltern und vielen helfenden Dorfbewohnern leergeräumt für den Umzug in einen anderen Ort. Gleichzeitig folgen wir als Leser/innen den Gedanken und Erinnerungen der Erzählerin, die da unterm LKW hockt, in einem Dorf in Kärnten, nicht weit von dort, wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauffletscht.
Die vielen Erinnerungen der Erzählerin in Form von unzähligen Anekdoten aus dem Dorfleben und aus ihrer Familie reihen sich aneinander. Viel Personal tritt auf, was es mir nicht immer leicht gemacht hat bei der Orientierung. Österreichische Mundart und auch Dialekte sind eingefügt - das macht es insgesamt sehr authentisch, aber auch manchmal schwierig lesbar für mich Norddeutsche. Die Erzählperspektive, insbesondere die Aneinanderreihung verschiedener Zeitformen, tut ihr übriges. All dies hat den Lesefluss stark gehemmt, ist für mich auch nicht immer klar nachvollziehbar.
Nicht alle Anekdoten haben mich fesseln können, durchaus aber ein paar. Das dörfliche Leben -mit einigen gemeinschaftlichen Traumata- ist athmosphärisch dargestellt, insbesondere, wenn es um die sehr patriarchalen und rechtspopulistischen Zustände geht. Noch in den 1990er Jahren, als unsere Erzählerin umzieht, wird von normgerechter Erziehung schwadroniert. Problematisch nur, dass die Erzählerin selbst und ihre beiden älteren Brüder alles andere als das sind.
Nachdem ich zwei Drittel des Romans mit Mühe geschafft hatte, musste ich erst einmal pausieren. Einige Zeit später las ich weiter und musste feststellen, dass der letzte Abschnitt mich durchaus fesseln konnte. Hier werden viele Geschehnisse präsenter und verständlicher, auch, weil es insbesondere die eigene Familie der Erzählerin betrifft. Das hat mich deutlich mehr interessiert als die vielen Dorfbewohnergeschichten.
Insgesamt ist der Roman mit dem hinreißenden Titel einen Tick zu anstrengend gewesen. Es ist durchaus viel Schönes dabei. Es bleibt aber ein fader Beigeschmack der Quälerei ;) Und ich glaube außerdem, dass es bei dieser Lektüre ganz besonders darauf ankommt, ob man selbst gerade genügend Zeit und Ruhe für diese Art des Erzählens aufbringen kann. Definitiv kein Roman zum fix nebenher lesen. 2,5 Sterne von mir.
Blick ins ländliche Kärnten
Mit diesem ungewöhnlich langen Titel ist Julia Josts (*1982) Debütroman auf der Shortlist des österreichischen Buchpreiseses 2024 gelandet. In wenigen Wochen wird sich herausstellen, ob es zum Debütpreis 2024 reichen wird. Als Vielleserin interessierte mich natürlich, wovon dieses Buch handelt.
Zuerst habe ich mich allerdings gefragt, wo eigentlich die in diesem ewig langen Titel erwähnten Karawanken liegen. Das Internet präsentierte mir beeindruckende Bilder von dem Gebirgszug an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien. Beim Lesen kam später klar heraus, dass die Geschichte in Kärnten spielt.
Die ersten Seiten begeisterten mich ob der bildhaften Sprache: „Man sieht Jagdhunde im Dreisprung über den frisch gepflügten Acker einem Fasan nachsabbern“ oder „du vernimmst das heilige Trommeln eines Spechts und siehst ein Rehkitz auf seinen Stelzenbeinen hechten“ sowie „Bienen mäandern unter dem Gewicht der Blütenstaublast über die Felder wie Betrunkene“. Doch die Begeisterung ließ bald nach: Der Roman besteht aus vielen verschiedenen Geschichtchen, die einem Mädchen durch den Kopf gehen, das unter einem Lastwagen heraus dem Umzug seiner Familie zuschaut.
Diese Erinnerungen sind wie die Bergsilhouette: Mal in leuchtendem Licht, mal im dunklen Tal. Durch die beliebig angeordneten Episoden ergeben sie keinen Roman, in den man sich fallen lassen könnte. Die Autorin erzählt in dieser Welt zwischen Beichtstuhl und Stammtisch von menschlichen Abgründen und von einem Mädchen, das viel lieber ein Junge wäre. Seine Mutter strebt nach mehr, nicht erst, seit der Vater durch einen unerwarteten Deal zu viel Geld gekommen ist. Sie kauft alles ein, was ihr gefällt, so dass der Platz im ererbten Hof nicht mehr ausreicht und dieser Umzug nötig geworden ist.
Das Buch zu lesen war für mich harte Arbeit. Nicht nur, weil die Sprache oft nicht zu der Elfjährigen passt, die als Erzählerin fungiert. Sondern auch, weil unter anderem bis zum Umfallen gesoffen wird, um Widrigkeiten zu vergessen. Zum Glück lockern Seiten, die einen zum Schmunzeln bringen, die Schwere auch mal auf.
Die Personenbeschreibungen sind gelungen und ein Unfall, bei dem ein Kind ums Leben kam, bleibt im Gedächtnis. Doch vieles andere verschwindet in den Tiefen des Vergessens, trotz des lebendig erzählten Dorflebens.
Im Nachhinein kann ich für mich sagen, dass mir stringent erzählte Romane, ohne so viele Umwege und Nebengassen, besser gefallen. Aber vielleicht soll das zeigen, dass sich Literatur weiterentwickelt – ohne Rücksicht auf die Leser.
Fazit: Das Buch zu lesen hat mir wenig Freude geschenkt.