Kosakenberg: Roman
Kosakenberg, ein kleines Dörfchen im Osten Deutschlands. Berufliche Perspektiven bietet der Ort nicht, so dass viele weggehen. So auch Kathleen, die froh ist zu entkommen. Sie studiert und landet dann in London und fasst dort Fuß. In Kathleens Beschreibung ist ihr Leben in London in allen Punkten besser, schöner und erstrebenswerter als ihr altes, das sie zurückgelassen hat. Der Leser erfährt allerdings sehr wenig von ihrem Leben dort. Redet sie sich alles nur schön? Oder empfindet diese junge Frau es tatsächlich so?
Kosakenberg besucht sie eher sporadisch, und das nur, weil die Mutter und die Großmutter immer noch dort leben, in dem Haus ihrer Kindheit, die sie gemeinsam mit der jüngeren Schwester Astrid dort verbracht hat. Der Vater verschwand irgendwann einfach, ließ die Mutter allein zurück.
Die Kindheit, wie wir von Kathleen erfahren, war nicht unbedingt schlecht. Sie war aber geprägt von den Zuständen im Osten, die durch die Wiedervereinigung entstanden sind. Viele Arbeitslose, wenig Geld, die jungen Erwachsenen orientieren sich woanders hin. Nadine, die damalige Freundin, bleibt in Kosakenberg. In Nadine haben wir das passende Gegenstück zu Kathleen. Die eine baut sich eine neue Zukunft außerhalb auf, die andere bleibt und arrangiert sich mit dem was machbar ist.
Der kurze Roman ist in Kapitel unterteilt, die die einzelnen Heimfahrten beschreiben, 11 an der Zahl. Meist nur zu besonderen Anlässen, wie Hochzeiten oder Beerdigungen. Wenig zieht die Protagonistin zurück, es ist eher ein Pflichtprogramm, von Wiedersehensfreude keine Spur.
Das Verhältnis zwischen der Mutter und der erwachsenen Tochter steht oft im Vordergrund, denn die Mutter ist das einzige, was sie überhaupt noch mit der alten Heimat verbindet. Es bröckelt, als die Oma stirbt und das Elternhaus verkauft werden soll, ab da merkt man ein Umdenken bei Kathleen, gut getarnt zwar, aber es macht etwas mit ihr.
Kathleen selbst war mir während des Lesens nie sonderlich sympathisch, muss sie aber auch nicht sein. Der Roman funktioniert auch so. Die Botschaft der Autorin kommt dennoch an. Auch wenn wir uns von der Heimat abwenden, bleibt sie zu gewissen Teilen immer noch unsere Heimat. Und wenn man sich für eine neue Heimat entscheidet, muss man die alte nicht ganz streichen, aber man muss diese Entscheidung auch mittragen, damit man mit sich selbst im Reinen ist. Oft benötigt es auch eine gewisse Reife um diese Erkenntnis zu erlangen. Kathleen hat es am Ende geschafft!
„Der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Nabokov hat einmal gesagt, dass jeder, der seine Heimat verlassen hat, zwei Leben besitzt. Das eine, das man lebt, und das andere, das an dem Ort weitergeht, von dem man weggegangen ist.“ (S 11)
1997 verlässt Kathleen nach dem Abitur Kosakenberg. Nicht nur Kathleen, „fast alle aus ihrer Klasse sind weggegangen.“ (vgl. S. 9)
In London findet sie eine Stelle als Grafikerin und baut sich dort ein neues Leben auf.
„Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit. Wir wollten andere werden und in dem Wollen steckte schon die Trauer um den Verlust. Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat. Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. (S. 9)
Die Autorin hat die Kapitel am Anfang in „Weggehen“ und am Ende in „Wiederkommen“ geteilt. Zwischen diesen beiden Kapiteln sind zehn Kapitel numerisch in „Heimfahrt“ eingebettet, die als Brücke zwischen den beiden Phasen fungieren und dem Leser einen tieferen Einblick in Kathleens Gedankenwelt geben. Während dieser Fahrten hat Kathleen Zeit, über ihre Vergangenheit, ihre Entscheidungen und ihre Beziehung zur Heimat nachzudenken und ihre Gefühle zu sortieren.
Die Autorin illustriert eindrucksvoll die emotionale Komplexität, die Kathleen bei ihren Besuchen in der Heimat erlebt. Die zunehmende Distanz und Kluft zwischen ihr und den Menschen, die in ihrer Heimat geblieben sind, zeigen eine Veränderung der Beziehung, die durch verschiedene Lebensentscheidungen entstanden ist. Während Kathleen ihren Weg geht und sich persönlich sowie beruflich weiterentwickelt, scheinen die Zurückgebliebenen auf ihrem eigenen Weg verharrt zu sein. Es entsteht eine Mischung aus Wehmut, Entfremdung, aber auch einem Hauch von Stolz. Sie erkennt die Kluft und spürt, wie sie sich zwischen den Welten bewegt - einerseits die Welt ihrer Vergangenheit, ihrer Wurzeln und andererseits die Welt, in der sie sich weiterentwickelt hat. Diese Erfahrung offenbart ihr eine schmerzhafte Realität.
„ Heimreisen,[…], waren Manöver durch energetische Felder. Es war, als kreiste man um einen Magneten, der entweder anzog oder abstieß.“ (S. 107)
Eine besondere Verbindung zu Kosakenberg besteht aus Eiern. Kathleen bekommt von ihrer Mutter einen Karton Eier nach London geschickt. Die Eier haben tausend Kilometer überstanden.
„Eier waren Zahlungsmittel und Liebesbeweis. Eier gibt es immer, hatte meine Großmutter gesagt." (S. 69)
Ein Ei war an der Schale eingebrochen und hinterließ einen Fleck auf Kathleens Wohnzimmerteppich. Sie will ihn entfernen, doch der Fleck wird immer größer.
Der Eierfleck steht für Herkunft. Sie versucht, den Fleck zu beseitigen, doch es gelingt ihr nicht. Der Fleck wird größer.
Der Fleck bleibt. Kathleen kann ihre Heimat verlassen, aber die Herkunft bleibt bestehen.
Das Motiv des Flecks wird symbolisch noch einmal aufgegriffen, als Nadine Kathleens ehemaliges Elternhaus kauft und ihr Haus umwandelt. Es erscheint ein nasser Fleck an der Hauswand, der von einem undichten Wasserrohr herrührt, das zu weinen scheint.
Ausgerechnet die Antagonistin Nadine ist geblieben. Ihr gehört nun das Haus, was Kathleens Zuhause war. Sie ist geschäftstüchtig mit Eiern. Wer zahlt schon 10 Euro für sechs Eier?
„Wie gut Nadine den Kapitalismus verinnerlicht hatte.“ (S. 153)
Jetzt ist Kathleen "Zaungast im Eier-Valley".
„Nadine, drei Jahre jünger als ich, war schon damals die Mutigere gewesen.“ (S. 73)
Sabine Rennefanz erzählt mit Ironie und Melancholie, gepaart mit bildhaften und symbolischen Elementen. „Warum hieß es Vaterland, aber Mutterboden?“ (S. 209)
Sie verwendet interessante sprachliche Konzepte, die verschiedene Aspekte von Zugehörigkeit, Identität und Verbundenheit reflektieren. Sie schafft eine vielschichtige Darstellung von Themen wie Gehen und Wiederkommen, Heimat und Herkunft und lässt den Leser in die Welt der Protagonisten tief eindringen.
Das letzte Kapitel des Romans „Wiederkommen“ deutet eine Versöhnung an, die nicht nur die Vergangenheit betrifft, sondern auch die Zukunft mit Hoffnung erfüllt.
Fazit
Was ist Heimat, was bedeutet Herkunft und wie lässt man die Provinz hinter sich?
Der Roman „Kosakenberg“ beschreibt die Zeit nach der Wende und reflektiert, wie sich die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche auf das Leben der Menschen ausgewirkt haben.
Die Darstellung des Wandels in Ostdeutschland nach der Wende, die durch zahlreiche Beispiele im Buch veranschaulicht wird, bietet einen interessanten Kontext für Kathleens persönliche Reise. Die Feststellung, dass nicht nur Kathleen der Heimat untreu geworden ist, sondern auch die Heimat selbst sich verändert hat, verdeutlicht die Komplexität der Veränderungen, die in der Gesellschaft und in den Lebensumständen vieler Menschen in Ostdeutschland seit der Wende stattgefunden haben.
Der Wegzug von rund vier Millionen Menschen löste im Osten Deutschlands nach 1989 eine demografische Krise aus. Eine von denen, der im Osten die Luft zum Atmen fehlte, ist Kathleen, Ich-Erzählerin im Roman "Kosakenberg" von Sabine Rennefanz. Nach dem Abitur 1997 verlässt sie ihr fiktives Dorf im Osten Brandenburgs, um im Westen zu studieren:
"Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat." (S. 9)
Immer seltener werden fortan ihre Besuche und sie wird zu einer Fremden mit zwei Leben, wie es der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Navokov formuliert:
"Das eine, das man lebt, und das andere, das an dem Ort weitergeht, von dem weggegangen ist." (S. 11)
Gehen – ein Vergehen?
Mit 25 Jahren hat Kathleen es geschafft: Als Grafikdesignerin ergattert sie einen Posten in London. Damit lässt sie ihre Herkunft nun sogar doppelt hinter sich: geografisch und sozial. Die Entfremdung manifestiert sich in einer unüberbrückbaren Sprachlosigkeit. Das Desinteresse der Eltern, die sich weder etwas unter ihrem Beruf noch unter einem Leben in London vorstellen können, empfindet Kathleen als feindselig, sie ist verletzt und zunehmend verbittert. Was sie stolz macht, ist in Kosakenberg nichts wert. Sie wiederum schämt sich für das Dorf, die Eltern, die Wegbegleiterinnen und –begleiter ihrer Kindheit und Jugend und blickt mit nicht verborgen bleibender Arroganz auf die Gebliebenen herab:
"… ich ging, sie blieben, meine Welt wurde größer, ihre blieb klein und eng." (S. 17)
Zugleich leidet sie unter der Verachtung, mit der man sie im Dorf straft, und die ihr ein Gefühl des Verrats vermittelt:
"Gehen, ein Vergehen." (S. 113)
Zehn Heimfahrten
Zehn Besuche in der Heimat innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre geben dem Roman seine Struktur. Jedes Mal leidet Kathleen unter der Ambivalenz ihrer Gefühlen: Sie reist mit „Widerwillen und Neugier, Ablehnung und Sehnsucht“ (S. 107) an und verspürt Erleichterung beim Gehen. In London bleibt sie trotz beruflicher Erfolge und einer Einladung zur königlichen Gartenparty, mit der man „es geschafft hat“, fremd, auch wenn sie es kaum eingesteht. Der Verkauf ihres Elternhauses nach dem Tod der Großmutter, ausgerechnet an ihre Jugendfreundin Nadine, bringt sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Nadine, eine der wenigen Gebliebenen, steht Kathleens Mutter näher als sie selbst. Hatte Kathleen vorher in der Gewissheit der jederzeit möglichen Rückkehr gelebt, ist dieser Weg nun versperrt. Hätte sie das Haus, eine winzige Backsteinkate mit Plumpsklo, Kohleofen und grauem DDR-Verputz, übernehmen sollen? Aber wäre die Rückkehr nicht das Eingeständnis einer Niederlage? Wie kann sie stattdessen in London eine echte Heimat finden?
Eine uneingeschränkte Leseempfehlung
"Kosakenberg" ist ausdrücklich kein autobiografischer Roman, obwohl die 1974 geborene, in Eisenhüttenstatt aufgewachsene Journalistin und Autorin Sabine Rennefanz spürbar viele Erfahrungen mit ihrer Protagonistin teilt. Ob auch sie nach ihrem Weggang mit Eiern aus der Heimat versorgt wurde, diesem gleichermaßen als Zahlungsmittel wie als Liebesbeweis dienenden Nahrungsmittel, das man auf dem hervorragend zum Roman passenden Cover sieht? Mir hat diese fast komplett aus der subjektiven Perspektive einer nicht immer sympathischen Protagonistin erzählte Geschichte über Wurzeln und Neubeginn ausnehmend gut gefallen, nicht nur als Beitrag zur andauernden Ost-West-Problematik, sondern auch zur Landflucht überall. Sabine Rennefanz ist eine ausgezeichnete Erzählerin, die den melancholischen Grundton ihres Romans mit feiner Ironie durchbricht, minimalistisch, elegant, sensibel und punktgenau formuliert, passende Sprachbilder findet, weder beschönigt noch übertreibt und deren exzellent gezeichnete Figuren sich glaubhaft entwickeln. Unbedingt lesen!
Kathleen ist aus ihrem brandenburgischen Heimatdorf weggezogen. Bis nach London hat sie es gebracht. Doch ihre Eltern verstehen noch nicht einmal ihren Beruf. Grafikdesignerin? Bilder auf dem Computer hin- und herschieben? Dafür hat sie studiert? Entsprechend unverstanden und fremd fühlt sich Kathleen auf ihren Heimatbesuchen. Erinnerungen an ihre Großeltern, an glückliche Kindertage, aber auch an die Wendezeit, als ihr Vater mit seinem neuen, gebrauchten Mercedes abhaut und noch mal ganz von vorn anfangen möchte, kann sie nur noch schwer mit der Gegenwart verbinden.
Ihre alte Schulfreundin Nadine ist daheim geblieben, hat es nicht "geschafft", doch hat es den Anschein, dass sie die bessere Entscheidung getroffen hat, mit einem eigenen Eierbusiness und der Eingebundenheit in der Dorfgemeinschaft. Kathleen findet mit ihr keine gemeinsame Grundlage mehr. Aber auch ihre Mutter scheint sich immer mehr von ihrer eigenen Tochter zu entfremden. Der Bruch scheint endgültig, als die Mutter beschließt, in die nächst größere Stadt zu ziehen und das alte sanierungsbedürftige Haus Nadine zu verkaufen. Der letzte Flucht- und Referenzpunkt fällt weg, die Wurzeln sind ausgerissen, Kathleens Leben in London muss und wird sich entwickeln.
Ein Leben auf dem Dorf, oder in der Kleinstadt kennen bestimmt viele von Rennefanz Lesern, das Vertsändnis für die Flucht der Jugend in die großen Zentren des Lebens ist folgerichtig. Ein typisch deutsches Sommermärchen, das an eigenes Erleben erinnert, eng an geschichtliche Ereignisse geknüpft ist und dadurch an Glaubwürdigkeit gewinnt. So weit, so gut. Die Freude, dass es Kathleen geschafft hat, wird überschattet von ihren Zweifeln, die sie bei ihren Heimatbesuchen überfallen. Doch ergreift sie keine Initiative, steht nur als Beobachterin da und fällt ihre eigenen Lebensentscheidungen erst, als sie merkt, dass es kein Zurück mehr gibt.
Das Herzblut der Autorin, die selbst 1974 in einer brandenburgischen Kleinstadt geboren wurde, scheint reichlich in dieses Buch geflossen zu sein. Das fiktive Kosakenberg strotz vor Echtheit und eigener Erfahrung. Witzige und wunderbare Sprachbilder geben dem Text ein Leichtigkeit, die die Autorin durch winzige Ausfälle ins Absurde auf eine Ebene hebt, auf der man sich bestens unterhalten, wunderbar erinnert und seufzend erleichtert fühlt, auch wenn Tod und Verlust dazwischenfunken. Die Eier des Lebens, ob teuer verkauft, oder über Ländergrenzen verschickt, bergen immer wieder neues Leben. Das Titelbild ist Programm, es hätte auch ein Fleck sein können (Erklärung im Buch ).
Ein moderner Heimatroman, eine Erinnerungsreise und eine Außenansicht der Weggezogenen; vielmehr geht gar nicht.
Kathleen ist tief im Osten Deutschlands geboren. Das Leben in Kosakenberg erscheint ihr unerträglich. Sie wandert nach London aus, um dort als Grafikerin für eine Zeitschrift zu arbeiten. Doch bestimmte Ereignisse führen sie immer wieder zurück nach Kosakenberg und konfrontieren sie mit ihrer Vergangenheit. Die alte Heimat und die Veränderung dort drohen ihr dabei allmählich entgleiten, der Ort und ihre Familie verändern sich. Doch auch in London und in ihrem neuen Leben fasst Kathleen nicht wirklich Fuß.
Ich kannte die Autorin Sabine Rennefanz bisher nicht und war überrascht von den tiefen Einblicken in den Alltag des ländlichen Ostdeutschlands, den ihre Geschichte bietet. Die familiäre Konstellation, die Kathleens Familienleben zugrunde liegt, der Argwohn und die Eigenheiten anderer Dorfbewohnern, aber auch Kathleens Einsamkeit, ihr Mangel an sozialen Beziehungen, kommt gut zum Ausdruck. Insbesondere die Spannungen mit der Mutter nehmen breiten Raum ein in ihrem Dasein. Manche Enthüllung überraschte mich und brachte mir als „Westlerin“ neue Erkenntnisse. Das Wort „Heimat“ und seine Bedeutung sind der rote Faden, der sich geschickt durch die Geschichte zieht. Die Autorin schreibt in einem klaren, flüssigen Stil. Sie hat einen interessanten Aufbau für ihren Plot gewählt. Es brauchte keine unnötige Gewalt und keine groß angelegten Katastrophen, um ihre Geschichte lesenswert zu machen. Ich werde mir ganz sicher auch ihr nächstes Buch anschauen.
Knapp vier Millionen Menschen sind zwischen 1991 und 2017 aus dem Osten Deutschlands weggegangen, fast ein Viertel der Bevölkerung. Die meisten, die gingen, waren Frauen.
So auch Kathleen, die Protagonistin und Ich- Erzählerin, in Sabine Rennefanz‘ neuem Roman. 1997, kurz nach dem Abitur, verlässt Kathleen ihr kleines Dorf Kosakenberg irgendwo im Osten Brandenburgs, wie viele aus ihrer Klasse. „ Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit….Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat.“
Ja, Kathleen hat es geschafft, hat als Erste ihrer Familie ein Studium abgeschlossen und ist weg aus der ostdeutschen Provinz in die Metropole London. Doch wirklich heimisch geworden ist sie dort lange nicht. Immer wieder reist sie zurück in ihr Dorf, zurück zu Mutter und Freundin. „ Heimreisen,…,waren Manöver durch energetische Felder. Es war, als kreiste man um einen Magneten, der entweder anzog oder abstieß.“ Jeder Besuch in der Heimat ist mit zwiespältigen Gefühlen verbunden. Denn jedes Mal spürt Kathleen stärker die Kluft, die sich zwischen ihr und den Zurückgebliebenen auftut. Jeder versucht im Grunde dem anderen zu beweisen, dass seine Entscheidung „ Gehen oder Bleiben“ die richtige war. „ Gehen, ein Vergehen.“ Ist Kathleen ein „ Verräter“ und ihr beruflicher Erfolg etwas, was ihr missgönnt wird? Schmerzhaft hierbei ist vor allem das Desinteresse der Eltern an ihrer Arbeit und ihrem Alltag. Wie sehr wünscht sich Kathleen ein bisschen Anerkennung. Doch hierbei zeigt sich ein Phänomen, das viele Bildungsaufsteiger erfahren und das wir aus den Büchern von Annie Ernaux und Didier Eribon kennen: Der soziale Aufstieg macht eine Kommunikation auf gleicher Ebene unmöglich, nicht nur bei denen, die man verlassen hat. Nein, auch in der neu angekommenen Klasse fehlen einem das Wissen um die richtigen „ Codes“. Nicht umsonst hat Sabine Rennefanz dem Roman ein Zitat des französischen Soziologen vorangestellt.
Und bei jedem Besuch verschwindet mehr aus dem früheren Umfeld. Die jüngere Schwester wandert nach Australien aus, der Vater verlässt die Familie, die Großmutter stirbt, das Elternhaus wird verkauft. Einzig Mutter Elke bleibt. Aber hier scheint Nadine , die frühere Schulfreundin, den Platz der Tochter eingenommen zu haben. Sie, die geblieben ist und Kinder hat, scheint der Mutter näher zu stehen. Denn Nadine hat, anders als Kathleen, den Lebensentwurf der Mutter bestätigt.
Es sind insgesamt zehn Heimfahrten, die dem Roman Struktur geben. Diese sind oft bedingt durch äußere Geschehnisse, wie Hochzeiten, Umzug, Beerdigungen. Entlang dieser Besuche wird erzählt, das bedingt Lücken im Roman. Z.B. erfahren wir sehr wenig vom Leben in London.
Dafür wird der Wandel in Ostdeutschland nach der Wende bis heute an zahlreichen Beispielen vorgeführt. Nicht nur Kathleen war der Heimat untreu geworden, „ …auch die Heimat war nicht treu geblieben, sondern veränderte sich.“
Da alles aus der Perspektive von Kathleen erzählt wird, erhält der Leser natürlich nur eine einseitige Sicht der Dinge. Er ist dadurch gezwungen, das Geschehene richtig zu deuten. Erleichtert wird dies aber, weil auch die anderen Figuren im Roman vielschichtig gezeichnet werden und somit Tiefe bekommen,
Sabine Rennefanz geht sorgfältig mit der Sprache um, findet schöne Vergleiche und macht sich Gedanken über das, was hinter den Worten steckt. „ Warum hieß es Vaterland, aber Mutterboden?“
Die das Cover zierenden Eier bekommen auch eine tiefere Bedeutung im Roman. Zu DDR-Zeiten und auch später noch hielten sich die meisten Kosakenberger Hühner. Eier stellten eine eigene Währung dar,
„ waren Zahlungsmittel und Liebesbeweis.“ Eier haben aber auch eine tiefe Symbolik, ihre Zerbrechlichkeit steht für das Fragile in Beziehungen.
Sabine Rennefanz ist selbst in einem kleinen Ort in Brandenburg aufgewachsen, hat dann einige Jahre in London gelebt und gearbeitet, bevor sie in Berlin heimisch geworden ist. Sicher ist deshalb vieles aus ihren eigenen Erfahrungen in dieses Buch eingeflossen.
„ Kosakenberg“ ist ein wunderbarer Roman über das Weggehen und Ankommen, über Heimat und Verlust, über schwierige Mutter- Tochterbeziehungen und speziell über den Wandel in Ostdeutschland. Viele werden sich darin wiederfinden, unabhängig davon, ob sie aus einem ostdeutschen oder westdeutschen Ort weggingen. Was bedeutet Heimat, was deren Verlust, wie lässt sich eine neue Heimat finden? Welche Konsequenzen hat der Aufstieg aus seiner sozialen Klasse? Welches Leben will ich führen? Das sind universelle Themen, die der Roman gekonnt verknüpft, ohne überfrachtet zu sein.
Auch das Ende kann überzeugen, es ist versöhnlich, aber schlüssig.
Ost und West, Stadt und Land – sich woanders ein neues Leben aufbauen und doch an der alten Heimat hängen
Kathleen hat es geschafft. Sie hat nicht nur die Enge und Spießigkeit des Dorfes im Osten von Berlin verlassen und sich den Beschränkungen des Elternhauses und der Ortschaft im Niedergang entzogen, sondern sie hat als Graphik-Designerin die Welt bereist und sich nun in London niedergelassen. Und doch kann sie sich von dem, was man Heimat nennt, noch immer nicht ganz lösen, obwohl der Hintergrund entmutigend ist: das Elternhaus ist marode, die Eltern interessieren sich nicht für sie und ihre Erfolge, der Vater verschwindet plötzlich und die jüngere Schwester ebenfalls, die Mutter zieht in eine Wohnung und verkauft das Haus. Das klingt nach einer ziemlich trostlosen Geschichte, ist aber doch universell und allgemeingültig, denn von zu Hause weg geht jeder mal und immer steht die Frage im Raum, ob man sich vom Alten lösen und Neues beginnen und wagen kann.
'Wir verließen auch unsere Vergangenheit. Wir wollten andere werden und in dem Wollen steckt schon die Trauer um den Verlust.' (9)
Kathleen braucht lange, um einzusehen, dass sie eigentlich nichts mehr im alten Heimatdorf hält, wo sie sowieso nicht gut angesehen ist. Nicht nur sie hat Probleme mit den Kosakenbergern, sondern auch umgekehrt.
'Gehen, ein Vergehen.'
So hat die Autorin ihre Kapitel nach den Heimfahrten nummeriert und nach und nach findet Kathleen für sich heraus, was sie will oder auch nicht, ob sie ein Haus will oder nicht, ob sie ein Kind will oder doch nicht. Langsam gewinnt sie Orientierung in ihrem Leben und baut sich etwas Neues auf. Ob sie weiterhin an Kosakenberg hängt, bleibt unklar, auch, ob sie jemals wieder – zu Besuch – dorthin zurückkehren wird.
Es ist ein Buch mit wenig Handlung, einigen Handlungslücken und ganz aus der Sicht von Kathleen erzählt. Sie macht sich viele Gedanken um das Dazugehören, um das Weggehen und was es mit einem macht. Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass sich jeder etwas Neues aufbauen kann ohne die Wurzeln, die Herkunft, zu verleugnen.
Wie dem auch sei, es ist ein Buch, das den Leser zum Vergleichen und zum Nachdenken bringt und das macht die Autorin mit viel Symbolik – z.B. 'der Mutterboden, wo etwas Neues auf Altem wächst' (209) und einer bildhaften Sprache. Wer mit einer ruhigen Handlung und Denkanregungen zufrieden ist, dem kann ich das Buch empfehlen.
Kathleen reist aus London an, um ihre Eltern in Kosakenberg zu besuchen. Schon am Bahnhof holt sie dieses alte Gefühl ein, an einem Rand zu stehen, hier am Ende der Welt. Ihr wortkarger Vater, dessen Blaumann über dem Bauch strammt, verspätet sich auch noch, was ganz untypisch für ihn ist. “Der Verkehr”, als sei er durch Berlin hierher gekommen. Im Auto sitzen sie schweigend nebeneinender. Wie immer fragt er sie nichts, stattdessen fährt er ziemlich schnell.
Ihrem Freund Octavio verschweigt sie ihre Herkunft, so sehr schämt sie sich für ihre Eltern, für das Dorf, ihr Elternhaus. Das Leben, das sie in London führt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Vergangenheit. Sie war nach dem Abitur nach Berlin gegangen, um Grafikdesign zu studieren. Ein Praktikum in Hannover, dann wieder Berlin, folgten. Alles war gut, aber sie war noch nicht weit genug von Zuhause weg, fand sie. Deshalb hatte sie ihren vorletzten Arbeitgeber gefragt, ob er sie nach Amerika versetzen könnte. Er bot ihr London an, sie sagte sofort zu und hat es keinen Tag bereut. Ihr Highlight war der Besuch bei der Queen, auf der Gartenparty im Buckingham Palace. Dort waren nur hochrangige Persönlichkeiten geladen. Sie schüttelte Camilla die Hand, die in Natura ganz anders aussah, als auf Fotos.
Jetzt ist sie wieder hier in dem Haus, das schon ihrer Großmutter gehört hat, ohne Heizung, mit dem Plumpsklo im Garten. Ihr Vater verlor schon 1990 seine Arbeit als die Fabrik geschlossen wurde, das Geld, das er mit seinen Nebenjobs verdient reicht gerade so.
Fazit: Die Autorin lässt ihre Protagonistin zurückblicken. Jedes Kapitel beschreibt eine Heimreise und was sie dort erlebt. Sie schwelgt in der Vergangenheit und lässt mich erfahren, wie sie aufgewachsen ist, dann blickt sie in die Gegenwart und beschreibt ihr Leben in England. Ich mochte die Interaktionen mit den Dorfbewohnern sehr, damit hat mich die Autorin in ihren Bann gezogen. Die Protagonistin mochte ich ebensowenig, wie ihre damalige Freundin Nadine. Müssen Protas immer sympathisch sein? Nein sicher nicht, aber es erleichtert die Identifikation mit ih*r und damit das Lesen ungemein. Was ich allerdings beanstande ist, dass die Autorin ziemlich dünn gezeichnet war. Ich hätte mir ein wenig mehr Charakterfestigkeit und klare Ansichten gewünscht und weniger Schuldzuweisungen.
Moderner, lesenswerter Heimatroman
Kathleen hat 1997 ihre Heimat, den in der brandenburgischen Provinz gelegenen Ort Kosakenberg, verlassen. Die Gegend leidet unter der Landflucht der jungen Leute. Die Gebliebenen wirken frustriert, fühlen sich noch immer von der Wende überrollt, die ihre Existenzen auf den Kopf gestellt hat, hohe Arbeits- und Perspektivlosigkeit sind die Folge. Kathleen studierte in Berlin, sie hat sich mittlerweile einen attraktiven Job als Grafikdesignerin bei einem Londoner Modemagazin erarbeitet. Eindeutig ist ihr der soziale Aufstieg gelungen. Leider können sich ihre Eltern nicht darüber freuen. Das Verhältnis zu ihnen ist angespannt, sie zeigen keinerlei Interesse an Kathleens Leben oder tun ihren Beruf als „Bilderverschieberei“ ab. Begegnungen sind von Schweigen und Missverständnissen geprägt. Offensichtlich nehmen es die Eltern ihrer Tochter übel, dass sie Kosakenberg (und damit sie selbst) verlassen hat. Ständig muss sich Kathleen mit persönlicher Kritik auseinandersetzen. Schmerzhaft wird ihr die fast gleichaltrige Jugendfreundin Nadine als lobendes Beispiel vorgeführt, weil diese der Heimat treu blieb und dort eine Familie gründete.
Im Verlauf des Romans entwickelt sich Nadine zum Gegenentwurf Kathleens. Die beiden Frauen haben völlig diametrale Lebenswege eingeschlagen. Sie treffen jedoch in Kosakenberg immer wieder aufeinander. Dabei werden bei Kathleen vielfältige Reflexionen in Gang gebracht, die sich nicht nur mit der Vergangenheit auseinandersetzen, sondern elementare Themen wie Heimat, Zugehörigkeit, Wurzeln, Identität, Gehen und Bleiben oder die Frage, was ein glückliches Leben ausmacht, berühren. Einer der ersten Sätze des Romans fängt diesen Grundtenor wunderbar ein: „Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit. Wir wollten andere werden und in dem Wollen steckte schon die Trauer um den Verlust. Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat.“ (S.9) Das ist genau der Zwiespalt, in dem sich Kathleen auch Jahre nach ihrem Weggang noch befindet. Sie sehnt sich nach Zugehörigkeit und buhlt latent um Anerkennung.
Im Wesentlichen bildet der Roman zehn Heimfahrten Kathleens ab, zwischen denen große Zeitabstände liegen und die deutlich eine Entwicklung beschreiben. Oft fährt Kathleen aufgrund besonderer Ereignisse nach Hause: Der Vater verlässt seine Frau auf Nimmerwiedersehen und ohne Worte, die geliebte Großmutter stirbt, das Haus von Kathleens Kindheit wird verkauft, eine Jugendfreundin heiratet, die Mutter zieht um. Immer wieder sucht Kathleen die Berührung, die Konfrontation mit der Heimat. Meist wird sie zurückgestoßen, insbesondere von ihrer Mutter, die keinen Hehl daraus macht, dass ihr der Lebensentwurf Nadines viel besser gefällt. Es gelingt der Autorin hervorragend, die ambivalenten Gefühle Kathleens, die noch immer auf der Suche nach ihrem Lebensmittelpunkt ist, sowie die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung vielschichtig herauszustellen. Die Protagonistin muss sich erst von der Heimat und fremden Erwartungen emanzipieren, um in ein zufriedenes Leben durchstarten zu können, was in ihrem Fall ein langwieriger Prozess ist.
Dieser Roman stellt zwar einen brandenburgischen Ort in den Fokus, seine Themen gehen aber über ostdeutsche Befindlichkeiten weit hinaus. Rennefanz beherrscht einen wunderbar verknappten, eindringlichen Schreibstil, der mit wunderschönen Sätzen direkt ins Bewusstsein der Leser vordringt. Mit wenigen Worten gelingen ihr treffgenaue Charakterisierungen, die Figurenzeichnung wirkt ebenso effektiv wie präzise. Immer wieder fließt eine feine Ironie in den Text ein, der die Besonderheiten der heimatlichen Gefilde beschreibt. Die Autorin verfügt über eine differenzierte Beobachtungsgabe und hat ein Gespür für das allzu Menschliche. Ihre Sprachbilder und ihre unaufdringliche Symbolik haben mich immer wieder innehalten lassen, so genau treffen sie ins Mark, bringen das Wesentliche auf den Punkt.
Über weite Strecken habe ich diesen Roman begeistert gelesen, habe aber leichte Schwierigkeiten mit dem Ende, das mir in Teilen zu holprig, zu konstruiert erscheint, weil es nicht recht zur dargestellten Ich-Erzählerin passen will. An dieser Stelle erscheint mir die Symbolik zu gewollt, zu sparsam hergeleitet. Aber das ist mein persönlicher Leseeindruck, viele andere hat gerade dieser Ausgang mitgenommen und das Buch hochzufrieden schließen lassen. Es ist eben Geschmackssache. (Ich las den Roman im Rahmen einer engagierten Leserunde.)
Sabine Rennefanz hat mit „Kosakenberg“ einen beeindruckenden Roman vorgelegt, dem viele Leser zu wünschen sind und der aufgrund seiner stilistischen Raffinesse auch eine Zweitlektüre vertragen kann.
Leseempfehlung!