Unsereins

Buchseite und Rezensionen zu 'Unsereins' von Inger-Maria Mahlke
3.9
3.9 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Unsereins"

Eine Lübecker Familie, protestantisch, konservativ, kaisertreu: die Lindhorsts. 1890 kommt Marthe in dem weitläufigen Patrizierhaus in der Königstraße zur Welt. Um sie eine Schar älterer Brüder, deren Freiheiten nicht ihre sein werden. Und doch ist es ein Leben mit glänzenden Aussichten. Bis ein Bestsellerroman, verfasst vom Sohn eines verstorbenen Bekannten, den respektablen Lindhorsts klarmacht, dass sie für ihr Umfeld auch nach zwei Generationen noch immer «die Jüdischen» sind. Unsereins ist der Roman einer Stadt und ihrer Gesellschaft, ihrer Bürger und Lohndiener, der Handwerker und, vor allem, ihrer Frauen. Ob Dienstmädchen, Hausfrau, Weißnäherin oder Schriftstellerin, ob manisch-depressiv wie Marthes Mutter, durchlässig wie Marthe selbst, die mit eigenen und fremden Erwartungen ringt. Inger-Maria Mahlke erzählt von Identität und Zugehörigkeit, von Geschlecht und Klasse, von Macht- und Liebesverhältnissen – von allem, was nicht nur den vormals «kleinsten Staat des deutschen Reichs» formte und zusammenhielt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:496
EAN:9783498001810

Rezensionen zu "Unsereins"

  1. Komplexes Gesellschaftsbild um 1900 in Lübeck

    REZENSION – Schon ihrem mit dem Deutschen Buchpreis 2018 ausgezeichneten Roman „Archipel“, der Geschichte mehrerer Familien über fünf Generationen hinweg auf Teneriffa, wurde damals eine Nähe zu Thomas Manns „Buddenbrooks“ nachgesagt. Einen direkten, diesmal von Inger-Maria Mahlke (46) sogar gewollten Bezug erkennt man nun in ihrem im November beim Rowohlt Verlag erschienenen Roman „Unsereins“. Darin beschreibt die in Lübeck aufgewachsene Schriftstellerin nicht nur das gesellschaftliche Leben des hanseatischen Großbürgertums sowie deren Hauspersonals, der Lohndiener und Handwerker in den Jahren zwischen 1890 und 1906 in Lübeck, dem „kleinsten Staat“ des deutschen Kaiserreichs. Ganz konkret erscheint in ihrem Roman sogar der junge Thomas Mann als Autor eines damals in der Lübecker Gesellschaft Aufsehen erregenden Familienromans. Dennoch sollte man „Unsereins“ völlig losgelöst und frei von dieser literarischen Bürde lesen – als eine Familiengeschichte, die mir in ihrem modernen Stil sowie in ihrer historischen Authenzität und Komplexität der Handlung ebenfalls preiswürdig erscheint.
    Im Vordergrund dieses inhaltlich üppigen Gesellschaftsromans steht vor allem das Leben der kinderreichen Familie von Friedrich Lindhorst - „protestantisch, konservativ, kaisertreu“ - und dessen Ehefrau Marie, Tochter des „berühmtesten Dichters aller Zeiten“, deren jüngste Tochter Marthe als deren achtes Kind im Jahr 1890 im großen Patrizierhaus in der Königstraße geboren wird. Schon Friedrich Lindhorst ist als Rechtsanwalt in gewisser Weise ein Außenseiter seiner Kaufmannsfamilie, folgten doch seine Brüder, der Senator Achim und der Konsul Heinrich Lindhorst, noch der beruflichen Familientradition. Doch der gesellschaftliche Umbruch jener Zeit wird weitere Veränderungen bringen.
    Der Patrizierfamilie gegenüber stellt Mahlke die Handwerker und Lohndiener wie Charlie Helms oder Ratsdiener Isenhagen und das Hauspersonal der Lindhorst-Familie, allen voran deren Dienstmädchen Ida. Wir begleiten Ida von ihrem Dienstbeginn im Hause Lindhorst, erleben mit ihr die schrittweisen Veränderungen jener Jahre, die auch an der Familie Lindhorst ihre deutlichen Spuren hinterlassen bis hin zum Tod des an Syphilis erkrankten Sohnes Cord und der manischen Depression seiner Mutter Marie. Es braucht Jahre bis sich Ida aus ihrem Dienstmädchen-Leben zu befreien versucht, heimlich Steno und Schreibmaschine lernt, um ein selbstbestimmtes Leben führen und als Büroschreibkraft arbeiten zu können. „Ich werde nicht in Diensten sterben“, hämmert sie immer wieder in Großbuchstaben als Mahnung an sich selbst in die Maschine.
    Mahlke beschreibt in „Unsereins“ ein beeindruckend komplexes Gesellschaftsbild um die Wende ins 20. Jahrhundert, die auch vor der konservativen Hansestadt nicht Halt macht. Wir erfahren, wie festgefügte Rollen und damit verbundene konservative Erwartungen an Politik und gesellschaftlichen Stand aufbrechen und Hoffnungen auf Veränderung zu keimen beginnen.
    Zwar zwingt die Vielzahl von Mahlkes Protagonisten anfangs mehrmals zum Zurückblättern auf die im Vorspann zum Glück eingefügte Liste handelnder Personen, zumal verschiedene Handlungsstränge sich erst später zum komplexen Gesellschaftsbild fügen, doch bald gewinnt man dann doch den Überblick, kann die Figuren jeweils zuordnen und vollends in die Geschichte und ihre Zeit eintauchen. Man lebt mit Mahlkes Figuren und bedauert schließlich das Ende der Geschichte, die sich auch gut verfilmen ließe. „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang“, lautet Mahlkes letzter Satz im Buch. Damit kann das weitere Leben ihrer Protagonisten gemeint sein. Der Satz kann aber auch Mahlkes doppeldeutiger Hinweis auf eine Fortsetzung ihres Romans „Unsereins“ sein.

  1. Der Versuch einer Neuauflage von „Buddenbrooks“ ist gescheitert.

    Kurzmeinung: BruchstückTechnik: zu oberflächlich für mich.

    Auf fast 500 Seiten entwickelt die Autorin die Familiengeschichte der Lindhorsts, die so viele Kinder produzieren, dass Marie, die Mutter meint, es seien zu viele, um alle so zu lieben, wie es sich gehöre. Man schnappt nach Luft. Marie hat nämlich nichts zu tun und zwar so rein gar nichts. Es wäre nicht zu viel verlangt gewesen, die Kinderschar angemessen zu betreuen. Aber die feine Gesellschaft hat sich noch in dem Zeitraum der Romanhandlung, circa 1890 bis 1906, kaum um die Nachkommenschaft gekümmert. Das haben andere getan, Dienstboten. Selber trank man Tee, rümpfte die Nase über andere, verreiste, wobei andere die Koffer packten, machte Musik und die Männer konkurrierten um Rang und Ansehen und gingen fremd. Ja, sorry, so wars. Diese Schiene der feinen Lübecker Gesellschaft hat Inger-Maria Mahlke vortrefflich zu Papier gebracht. In ihrer Erzählung reitet sie freilich xmal zu oft auf dem Begriff des kleinsten Staats des deutschen Reiches herum und nervt damit.

    Der Kommentar:
    Die Erzählung mäandert umher: der die Leser anfangs in Beschlag nehmende Junge Georg, der vom Großvater abgeschoben in ein Jungsinternat unter der unkreativen „Anstalt“ leidet, bekommt erst am Ende, nun als Erwachsener, einen weiteren Auftritt, wobei er resümiert, was aus ihnen allen, nämlich seinen Altersgenossen und den übrigen Zöglingen der Anstalt geworden ist. Einer wurde Schriftsteller und veröffentlichte ein berühmt-berüchtigtes Buch über seine Heimatstadt „Die Buddenbrooks“.
    Die Passagen, wie sich die Bürger Lübecks über „Die Buddenbrooks“ aufregen und skandalträchtig sich gegenseitig im Beschriebenen wiederzufinden suchen, sind allerdings nur mäßig interessant. Viel mehr hätte interessiert, was aus Isenhagen, dem Ratsdiener, mit seiner unglücklichen Liebe zu einer mit einem Schwulen verheirateten jungen Frau geworden sein mag und wie Ida, die Dienstmagd mit ihren mannigfaltigen Versuchen eines sozialen Aufstiegs und ihrem Scheitern fertig geworden ist. Warum ist sie keine Sozialdemokratin geworden zum Beispiel?
    Und warum hat die Autorin, Georg so völlig links liegen lassen, nachdem sie so viel Zeit darauf verwendet hat, ihn uns ans Herz zu legen, unsere Sympathie zu wecken, denn Georg ist so ziemlich die einzige Figur, mit der man sich hätte solidarisieren können. Zuerst trösten wir uns mit ihm jede Woche eine halbe Stunde lang im warmen Bad in einer öffentlichen Badestube, wo er seine Striemen behandelt, dann lässt ihn die Autorin fallen wie eine heiße Kartoffel. Leider ist das nicht die einzige Figur, die uns die Autorin nahe bringt und dann fallen lässt. Sie strickt und strickt und es könnte ein hübsches Muster entstehen, aber dann lässt sie absichtlich die Maschen fallen. Man kann diese Technik "Kunst" nennen, oder auch "Loch im Strumpf". Ich bevorzuge neue Strümpfe ohne Löcher.
    Allenfalls bei der Verfolgung der Familie Lindhorst lässt die Autorin so etwas Ähnliches wie einen roten Faden erkennen. Freilich ist die Problematik Judentum vollkommen ausgespart. Dass es sich um eine jüdische Familie handelt, ist im Roman kaum erkennbar, sie leben kein jüdisches Leben. Und sie reden auch nicht darüber, dass sie Juden sind. Oder gewesen sind. Die Männer reden sowie so wenig, wenn sie nicht in fremden Betten turnen, kommandieren sie herum. Der ekligen Schilderung der Syphilis wird dann wieder reichlich Raum gegeben.

    Die Autorin kann schreiben und vorzüglich mit Sprache umgehen, keine Frage. Was indes fehlt ist Zusammenhang, zu viel bleibt liegen, zu viel Gewicht liegt auf den „gnädigen Herrschaften“ und auf den sexuellen Praktiken der jungen Herren. Statt das Problem der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung vertiefend zu behandeln, verliert sich die Autorin in der Ausfeilung völlig unwichtiger Details. Details können Atmosphäre schaffen, aber in „Unsereins“ verschleppen sie den Roman; Innenansichten fehlen vollständig, man schaut drauf und fühlt: nichts.

    Anmerkung zum Hörbuch: Normalerweise liest ein Hörbuch einen Roman nach oben. Trotz der wunderbar eingelesenen Interpretation von Julia Nachtmann ist es diesem Roman dennoch nicht gelungen, mir mehr Sterne abzuringen: dies spricht für sich. Dem Hörbuch fehlt zudem das Verlesen des Personenverzeichnisses, was bei einem so sprunghaften Roman aber nicht unwichtig gewesen wäre. Was wirklich positiv zu Buche schlägt, ist die Hörbuchsprecherin selbst. Sie macht alles richtig.

    Fazit: Dasselbe hat man schon oft gelesen. Auch wenn der Roman mit schönen Formulierungen glänzt und mit dem Erscheinen des Romans „Buddenbrooks“ von Thomas Mann jongliert, reicht dieser Spielzug meiner Meinung nicht aus, um literarische Bedeutung zu kreieren.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Für das Hörbuch: Argon, 2023
    Sonst: Rowohlt, 2023

  1. Ein Gesellschaftsroman aus der Perspektive einer Drohne

    Mein Hör-Eindruck:

    „Und wäre dies das Ende eines Films, so würde die letzte Einstellung aus der Perspektive einer Drohne gedreht“, heißt es am Ende des Romans. Und genau so beginnt auch der Roman: mit der Perspektive einer Drohne. Da wird der Weg eines Regentropfens verfolgt, der sich von oben her dem „kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs“ nähert und seinen Weg sucht und findet, nämlich das Haus des Rechtsanwaltes Lindhorst und seiner Familie. Und auch wie von oben werden weitere Figuren anvisiert und dann herangezoomt, die in einer Verbindung zu dieser Familie stehen. Mit diesen Nebenfiguren – sind es wirklich Nebenfiguren? – entfaltet die Autorin die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Problemfelder der Zeit um die Jahrhundertwende: Sozialdemokratie, Antisemitismus, Homosexualität, Pauperismus, merkantile Krisen, Nationalismus, gesellschaftliche Umbrüche.

    Zugleich zoomt sie sich bis in das Innerste der Figuren hinein.

    Da ist z. B. Georg, Sohn eines Bankrotteurs, von den Klassenkameraden verachtet und isoliert. Hier erfährt der Leser etwas über die gesellschaftliche Rangordnung der Zeit: oben stehen die ostelbischen Großgrundbesitzer, dann das Patriziat der Hansestadt, und hinter jedem Schülernamen wird die Position des Vaters aufgeführt: Senator, Konsul oder doch zum mindesten Bürgerschaftsmitglied. Da ist für einen Jungen wie Georg kein Platz vorgesehen.

    Oder Ida, eine der weiblichen Figuren. Sie will ihrem Schicksal des Dienstmädchens entfliehen und zum Bürofräulein aufsteigen. In vielen Abendstunden lernt sie mühsam das Stenografieren, um dann zu erkennen, dass sie auch die Schreibmaschine beherrschen muss. Und als sie sich diese Kenntnisse angeeignet hat, wird sie ausgebremst durch ihre arthritischen Hände. Sie bleibt gefangen in ihrer Schicht, jeder Aus- und Aufstieg bleibt ihr verwehrt.

    Die Parallelen zu den „Buddenbrooks“ sind unübersehbar. Die Autorin ahmt den Ton sehr geschickt nach, und sie spielt mit dem bekannten Personal, das sie ausweitet auf die unteren Schichten. Sie spielt auch mit dem Roman „Buddenbrooks“ selber, der als eine Art gesellschaftliches Ratespiel in der Lübecker Bürgerschaft mit Häme und Schadenfreude entschlüsselt wird. Und hier macht die Autorin eine einfach überzeugende und sehr witzige Volte: denn genau dieses Entschlüsselungsspiel spielt auch der Leser mit ihrem Roman.

    Das Hörbuch wurde eingelesen von Julia Nachtmann. Von einer verwirrend falschen Betonung abgesehen ( Monàco statt Mònaco): eine rundum angenehme Stimme, ihr interpretierendes Vorlesen ist gut durchdacht.

    5/5*

  1. Der intime Blick auf eine deutsche Stadt

    Dieser fast 500 Seiten starke Roman spielt während der vorigen Jahrhundertwende im "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", in Lübeck. Auch wenn die Stadt nie bei ihrem Namen genannt wird. Zu dieser Zeit wirkt ein großer Schriftsteller in Lübeck: Thomas Mann. In seinen Romanfiguren bei den Buddenbrooks, meint sich die bürgerliche Familie Lindhorst wiederzuerkennen und fühlt sich schließlich einen latenten Antisemitismus ausgesetzt.

    Die Sprache von Inger - Maria Mahlke ist einfach phantastisch detailgetreu, verliert sich aber nicht. Die verschiedenen Figuren breiten ihr Innenleben vor einen aus, ohne das sie viel sagen müssen. Das Buch ist im Präsens geschrieben, was einen das Geschehen sehr intensiv erleben lässt. Sehr gut finde ich, dass am Anfang eine Auflistung der handelnden Figuren erfolgt, so kann man hier immer mal wieder nachschlagen.

    Das einzige Manko für mich war, dass ich die Buddenbrooks nicht gelesen habe und mir wahrscheinlich so einige kluge Verbindungen entgangen sind.

    Aber auch ohne dem Wissen konnte ich in die bürgerliche Welt um 1900 eintauchen, die sich wie ein Panorama vor einen entfaltet.

    Das Buch ist keine einfache Lektüre, aber wenn man sich ganz darauf einlässt, kann es ein richtiges Lesevergnügen werden.

  1. Eine besondere Geschichte!

    Klappentext:

    „Eine Lübecker Familie, protestantisch, konservativ, kaisertreu: die Lindhorsts. 1890 kommt Marthe in dem weitläufigen Patrizierhaus in der Königstraße zur Welt. Um sie eine Schar älterer Brüder, deren Freiheiten nicht ihre sein werden. Und doch ist es ein Leben mit glänzenden Aussichten. Bis ein Bestsellerroman, verfasst vom Sohn eines verstorbenen Bekannten, den respektablen Lindhorsts klarmacht, dass sie für ihr Umfeld auch nach zwei Generationen noch immer «die Jüdischen» sind.“

    Inger-Maria Mahlke hat ihrem aktuellen Roman den Titel „Unsereins“ gegeben - ein Titel der eigentlich bereits alles sagt! Gehört man dazu oder ist man doch ausgegrenzt? Alles Ansichtssache! Drehort der Geschichte Lindhorst ist die wunderschöne Stadt Lübeck. Wir erlesen die Familiengeschichte mit all ihren positiven und negativen Lichtern. Aber wir erlesen auch die Menschen die um diese Familie herum sind und die die Stadt ausmachen. Die vielen tiefgründigen Beschreibungen über die all die vielen Menschen überfordert hier und da den Leser, ja, aber es ergibt sich dadurch ein äußerst stimmiges Gesamtbild, welches sich wunderbar analysieren lässt! Jeder trägt seine Geschichte mit sich herum, jeder hat seine Meinung nur sind wir alle dadurch eine Art Gemeinschaft? Auch die Lindhorst‘s erleben dies am eigenen Leib und genau da will Mahlke mit uns Lesern hin: Wo kommen wir her? Wo gehören wir hin? Wer sind wir auf Grund einer bestimmten Religion?

    Mahlkes Schreibstil ist trotz der Vielzahl an Personen verständlich und sehr eindringlich. Ihre Wortwahl ist bewusst gewählt und fängt den Leser immer und immer wieder ein und dieser darf dann selbst seine Gedanken zu dem erlesenen walten lassen. Hier geht es explizit um Vorurteile und wie damit umgehen. Die Autorin wählt immer wieder zur Situation den passenden Ausdruck und dadurch bleibt die Geschichte lebendig und als Leser bleibt man aufmerksam am Ball. Einerseits erleben wir Leser die Stadt Lübeck zu einer besonderen Zeit aber auch ein Sittenbild dieser. Vieles steckt auch hier wieder zwischen den Zeilen und es darf gern der Kern im Detail gesucht und gefunden werden - es lohnt sich definitiv! In vielen Dialogen oder auch nur einfachen Sätzen der Figuren ist es dann immer wieder zu entdecken - der Buchtitel zeigt seine Wirkung und es gibt dabei Situationen des Erschreckens, des Zuckens, des Fremdschämens. Ist das negativ für das Buch? Keineswegs! Im Gegenteil! Mahlke zeigt nur die damalige Zeit gekonnt auf bohrt in vielen kleinen und großen Wunden unserer Gesellschaft. Diese Geschichte hier wird oft mit denen der Buddenbrooks von Thomas Mann verglichen. Ist das korrekt? Einerseits ja aber es ist eine Geschichte von Inger-Maria Mahlke mit recht ähnlichen Parts aber dennoch einem anderen Stil.

    4 sehr gute Sterne hierfür!

  1. Schön erzählt

    Das Cover ist grau in grau gehalten, fast alles symmetrisch angeordnet. Das einzige "aufständische" ist die fehlende Symmetrie beim Porzellan.
    Sofort denkt man an das Klischee des Bürgerlichen. Dazu passt auch der Titel. Man kann sofort im Kopf den Satz vervollständigen, das macht unsereins nicht.
    Diese Gesellschaftsschicht fühlt sich sicher in ihren Vorschriften, Zwängen und ungeschriebenen Gesetzen. Wenn man die Regeln befolgt, gehört man dazu und es kann einem nichts passieren.
    Voran steht eine Art Register der handelnden Personen. Etwas gewöhnungsbedürftig sind Zusätze wie kein Bäckermeister oder eine Bulldogge wird namentlich erwähnt.
    Vorne und hinten befindet sich eine Karte, aus jeweils unterschiedlichen Zeiten. Leider grau in grau und nicht so gut strukturiert, dass man sie während des Lesens leicht nutzen kann.
    Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Ein durchgehender Lesefluss stellte sich bei mir nicht ein. Es wird zwar ganz die Atmosphäre und die Zeit dargestellt, aber es ist schon sehr gewöhnungsbedürftig und mühsam bis sich man in die einzelnen Personen und Orte eingelesen hat.

  1. 3
    19. Nov 2023 

    Porträt einer längst vergangenen Epoche

    Inger-Maria Mahlkes neuer Roman “Unsereins“ spielt überwiegend in Lübeck in der wilhelminischen Zeit von 1890-1906. Im Mittelpunkt steht Rechtsanwalt Lindhorst mit seiner Frau Marie und den sechs Söhnen und zwei Töchtern. Anfangs geht es der Mittelschichtfamilie mit jüdischen Wurzeln finanziell gut, später müssen sie immer mehr zurückstecken, zumal sich Lindhorsts Pläne, in der Politik Karriere zu machen, nicht verwirklichen lassen. Es geht aber auch um viele andere Familien und ihr Personal und Figuren wie Ratsdiener Isenhagen, den schwulen Lohndiener Charlie Helms oder Lindhorsts Dienstmädchen Ida, deren Schicksal zeigt, wie rechtlos und schlecht bezahlt die unteren Schichten in einer hierarchisch geordneten Gesellschaft ihr Leben fristen mussten. Um die Chancen von Frauen, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, stand es generell schlecht. Da waren auch die von acht Geburten überforderte manisch-depressive Marie Lindhorst und ihre Töchter Alma und Marthe keine Ausnahme. So muss auch Alma Lindhorst schon mal die Aufgaben eines Dienstmädchens übernehmen. Bei Eheschließungen ging es sowohl bei Söhnen als auch bei Töchtern nicht um Liebe, sondern um finanziell lohnende Verbindungen mit Vorteilen in Bezug auf das gesellschaftliche Ansehen.
    Die in epischer Breite ungeheuer detailreich erzählte, dennoch relativ handlungsarme Geschichte enthält zahlreiche Anspielungen auf real existierende und fiktive Personen, z.B. auf Thomas Mann und Figuren aus seinen Romanen. Da brauchte man zum Verständnis eigentlich umfangreiche Vorkenntnisse. Die ungeheure Personenvielfalt macht die Lektüre nicht leichter. Ich musste immer wieder im längst nicht vollständigen Personenverzeichnis zu Beginn des Romans nachschauen und war dennoch oft ratlos, um wen es sich nun eigentlich handelte und wie die erwähnten Figuren zu einander standen. So richtig warm geworden bin ich mit der Geschichte und ihren Figuren nicht. Schade.

  1. 4
    15. Nov 2023 

    Anspruchsvolle Lektüre

    Ein Roman, der in Lübeck Ende des 19. Jahrhunderts spielt, lässt unwillkürlich an „ Die Buddenbrooks“ denken. Mit dieser Assoziation liegt man nicht falsch, hat Inger- Maria Mahlke doch eine Art Gegenentwurf zu Thomas Manns weltberühmten Roman geschrieben.
    Allerdings beschränkt sich die in Lübeck aufgewachsene Autorin nicht nur auf das gehobene Bürgertum der Stadt, sondern nimmt auch die Bediensteten in ihren Blick.
    Die Erzählung setzt ein im Jahr 1890 und führt bis ins Jahr 1906. Im Zentrum steht die wohlhabende Familie Lindhorst, kinderreich, konservativ und kaisertreu. Friedrich Lindhorst ist Rechtsanwalt; mit seiner Frau Marie hat er sechs Söhne und zwei Töchter. Als Anwalt hat Lindhorst nicht den Stand, den ein reicher Kaufmann einnimmt und ein Hindernis für eine politische Karriere ist auch seine jüdische Herkunft . Diese Tatsache steht aber nicht so im Vordergrund, wie der Klappentext vermuten ließe, sondern wird von Inger- Maria Mahlke nur ganz subtil angedeutet. Marie Lindhorst ist von ihrer Aufgabe als Haushaltsvorstand und Mutter ( „ Irgendwann waren es zu viele, um alle zu lieben, wie man soll.“) überfordert; monatelang ist sie wegen psychischer Probleme in Sanatorien. Auch die Kinder weichen zum Teil vom vorgezeichneten Lebensweg ab, dabei fehlt es nicht an Tragik .
    Die Autorin blickt mit einem leicht spöttischen Blick auf die Lübecker Gesellschaft. So ist Marie Lindhorst die „ Tochter des berühmtesten Dichters aller Zeiten“. Das Denkmal von ihm ragt hoch über den nach ihm benannten Platz in der Stadt. Stolz ist man hier auf den berühmten Sohn, auch wenn man sich außerhalb Lübecks über ihn nur lustig machen sollte. „ Millionen mit Keitels Worten bestickte Geschirrhandtücher können nicht irren.“ Tatsächlich ist dieser Dichter, im Roman heißt er Keitel, bei Thomas Mann Hoffstede, Emmanuel Geibel, den man heute lediglich als Verfasser des Liedes „ Der Mai ist gekommen“ kennt.
    Noch weitere Familien und deren Lebenswege verfolgt die Autorin in ihrem Buch. Dabei zeigt sich das enge gesellschaftliche Korsett, in das letztendlich alle gezwängt sind. Frauen betrifft das allerdings in größerem Maße, auch das zeigt die Autorin . Vereinzelt gelingen Ausbruchsversuche, so z.B. einer jungen Frau, die nach dem Tod ihres Vaters über ein Erbe verfügt, das sie unabhängig sein lässt. Sie veröffentlicht kleine Geschichten aus dem Alltag einer Kurstadt, allerdings unter männlichen Pseudonym.
    Der Roman erzählt auch von den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen. So vom Bau des Kaiser - Wilhelm - Kanals, der die Nordsee und die Ostsee miteinander verbindet, was anfangs zu Widerstand in Lübecks Senat führt. Bekommt doch dadurch Hamburg einen direkten Zugang zur Ostsee. Auch wird die Einführung von Wasserclosetts in den Haushalten kontrovers diskutiert. Wenn, dann sollte nur die gehobene Bürgerschicht in den Genuss kommen, die Bedürfnisse der Arbeiterschaft kümmern die Herren Senatoren nicht.
    Die aber haben ihre Fürsprecher in der aufkommenden Sozialdemokratie. Im Buch ist deren Vertreter ein ehemaliger Metallarbeiter, „ Unser aller Unheil“, wie Lindhorst seinem Sohn erklärt.
    Inger - Maria Mahlke gibt dieser gesellschaftlichen Gruppe den gebührenden Raum. Hier treten Bedienstete nicht nur als Nebenfiguren auf. Das Dienstmädchen Ida im Hause Lindhorst begleitet uns die ganze Zeit. Ausführlich wird deren tägliche mühselige Arbeit beschrieben, Tag und Nacht muss sie bereit stehen für ihre Herrschaft. Verständlich, dass sie davon träumt, diesen Verhältnissen zu entkommen. Im Arbeiterbildungsverein lernt sie heimlich Tippen und Stenografie und hofft auf eine Anstellung als Tippmamsell.
    Oder der Lohndiener Charlie Helms, der mit seiner Liste der für den gesellschaftlichen Verkehr in Frage kommenden Familien eine wichtige Rolle spielt. Doch er stürzt über seine homosexuellen Neigungen.
    Auch der Ratsdiener Isenhagen bekommt neben seiner Arbeit ein aufregendes Privatleben bei Inger- Maria Mahlke.
    Thomas Mann darf im Roman natürlich nicht fehlen. Als eitler und arroganter Schüler , Pfau“ genannt, hat er seinen Auftritt; im Schlepptau immer einen Mitschüler, seinen „Schatten“. Jahre später kehrt er als erfolgreicher Jungschriftsteller in seine Heimatstadt zurück und liest aus seinem Werk. Der Roman „ Die Buddenbrooks“ sorgt für Unruhe in Lübeck, da einige sich darin wiedererkennen. „ Es ist das Spiel der Saison. Bei jedem Dinner werden nach dem Dessert Papier und Stifte ausgeteilt. Wer- ist- wer im Roman.“ In Buchhandlungen gibt es sogar „ sogenannte Lektürehilfen“ zu kaufen.
    Die Erzählweise ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftig. Sprachlich orientiert sich die Autorin an dem Stil von Thomas Mann, auch an dessen Ironie, unterbricht dabei immer wieder den altertümlichen Duktus mit modernen Wendungen. Die Vielstimmigkeit vermittelt zwar ein breites Panorama, erschwert es dem Leser aber, den Überblick zu behalten.
    Hat Inger- Maria Mahlke in ihrem 2018 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „ Archipel“ eine ungewöhnliche Struktur gewählt, die Geschichte wurde rückwärts aufgerollt, so folgt sie hier ganz traditionell der Chronologie. Dabei gibt es immer wieder Sprünge innerhalb des Erzählten.
    Von einer intensiven Recherche zeugt der Detailreichtums des Romans. So entsteht ein plastisches Bild jener Zeit und von den verschiedenen Gesellschaftsschichten.
    Dem Roman vorangestellt ist ein ausführliches Personenverzeichnis, auf das man während der Lektüre immer wieder zurückgreifen muss.
    Zu loben ist der Verlag für die Buchgestaltung. Das Vorsatzpapier zeigt zwei alte Stadtpläne von Lübeck.
    Trotz kleiner Kritikpunkte ist der Autorin mit „ Unsereins“ ein umfassendes Porträt der Lübecker Gesellschaft zur Kaiserzeit gelungen , eine anspruchsvolle Lektüre, die einen aufmerksamen Leser erfordert.