Zwei Monde: Roman in Erzählungen

Buchseite und Rezensionen zu 'Zwei Monde: Roman in Erzählungen' von Maria Kuncewiczowa
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Inhaltsangabe zu "Zwei Monde: Roman in Erzählungen"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:247
EAN:

Rezensionen zu "Zwei Monde: Roman in Erzählungen"

  1. Eine (doch nicht völlig) vergangene Welt

    Maria Kuncewiczowa (1895 – 1989) hat ihre zwanzig Erzählungen im Städtchen Kazimierz Dolny angesiedelt, das im Osten Polens idyllisch zwischen malerisch bewaldeten Hügeln am Weichselstrand gelegen ist. Zwischen den Weltkriegen war dieser Ort ein bevorzugtes Ferienziel für die Bohème aus der Großstadt, auch zahlreiche Künstler trafen sich hier zur Sommerfrische. Die Autorin selbst hatte ein Grundstück vor Ort und man darf davon ausgehen, dass sie zahlreiche eigene Beobachtungen und Erlebnisse in ihren Erzählungen verarbeitete. In der ersten Geschichte „Zwei Monde“ werden die wesentlichen Figuren vorgestellt, auch findet sich eine Schlüsselmetapher für den Buchtitel: „Vielleicht sind es überhaupt zwei Monde… Einer für die da (die Unterhaltung suchenden Feriengäste), und der andere – nur für uns (die hart arbeitende einheimische Bevölkerung).“ (S. 12) Die Diskrepanzen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind das zentrale Thema des Romans, der ein vielfältiges Kaleidoskop an menschlichen Konflikten, Gegensätzen und Begegnungen abbildet.

    Die Handlungsschauplätze werden sehr atmosphärisch und anschaulich ausgestaltet. „Es nieselte, ein kalter Sturm fegte vom Fluss ins Städtchen und überfiel die Menschen: ein lästiger, sommerlicher Dreitageschnupfen. Das Grau war so einheitlich, die Kälte so rücksichtslos, dass das Wetter von vor ein, zwei Tagen – das grell und heiß gewesen war – wie eine Vision aus einem Fiebertraum zu sein schien.“ (S.107) Die Strukturen des Städtchens sind eher traditionell und patriarchalisch. Die Stadt wirkt provinziell, auch wenn schon regelmäßig ein Autobus dort verkehrt. Kuncewiczowa erzählt aus relativer Distanz, lässt keine allzu große Gefühlsregung oder Nähe zu ihrem Figurenkarussell aufkommen. Es wird nichts romantisch verklärt oder geschönt. Dennoch ergeben sich auch bewegende Momente, oft in Nebensätzen, die kleine Geheimnisse preisgeben.

    Die ländlich geprägte Bevölkerung muss überwiegend hart arbeiten, sei es zum Beispiel als Bauer, Tagelöhner, Träger, Händler oder in der nahen Gerberei. Standesunterschiede sind festgezurrt, Neid und Missgunst charakterisieren den Umgang miteinander. Wirklich sympathische Figuren gibt es wenige. Der Kampf ums Tägliche lässt die Menschlichkeit in den Hintergrund treten. Andersartigkeit wird diskriminiert, offener Antisemitismus ist allgegenwärtig. Es gibt Frauen, „die nicht gut zu ihren Männern sind“, es gibt welche, die regelmäßig von Mann oder Sohn geprügelt werden, ohne dass es jemanden interessiert. Es gibt Paare, die sich lieben, denen aber die abergläubische, vorurteilsbeladene Familie das Leben schwer macht. Niemand möchte sein Ansehen im Ort verlieren. Deshalb vermeidet man es aufzufallen oder für das Richtige einzutreten. Traditionen werden eingehalten, Sehnsüchte gesteht man höchstens sich selbst gegenüber ein. Nachbarschaftliche Freundschaft oder Zusammenhalt sind selten.

    In dieser rückwärtsgewandten Welt verbringen nun Scharen von sorglosen Urlaubern ihre Ferien. Dabei handelt es sich primär um gut situierte Akademiker-Ehefrauen oder um junge, lebensfrohe, leichtlebige Künstler/innen, die gerne zum Feiern oder zum Baden am Flussstrand zusammenkommen. Bei ihnen stehen Unterhaltung, Liebeleien, Spaß, Malerei und Dichtung im Vordergrund, auf die Einheimischen wird wenig Rücksicht genommen. Die immanenten Unterschiede werden deutlich herausgearbeitet. Die Bohème fokussiert sich auf ihre eigenen Bedürfnisse. Mit Geld kann man zwar manches kaufen, ist aber auch vor Abzocke und Übervorteilung nicht gefeit, wenn die diesbezügliche Erfahrung fehlt. Kleine Kinder wachsen hüben wie drüben in einer kalten, lieblosen Umgebung auf. Empathie fehlt an allen Orten – ist das eine Folge des Großen Krieges?

    Jede Erzählung steht für sich und lässt mindestens zwei unterschiedliche Perspektiven oder Figuren aufeinander treffen. Auch wenn Distanz gehalten wird, sind manche Geschichten doch sehr berührend, insbesondere wenn sie Sehnsüchte nach Glück oder einem anderen Leben offenlegen. Die Sprache strahlt Intensität aus, die Texte sind dabei leicht verständlich. Die Figuren tauchen ebenso wie der symbolträchtige Mond wiederholt auf. Dadurch vervollständigen sich Charakterzeichnungen, Atmosphäre sowie die Beziehungen der Figuren untereinander.

    Die Autorin zeigt zwar eine vergangene, jedoch keine unbekannte Welt. Viele der gezeigten sozialen Konflikte, wie die Angst vor Diversität oder die Intoleranz anderen Lebensformen und Glaubensrichtungen gegenüber, begleiten uns auch noch 90 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses Buches auf der ganzen Welt.

    Kuncewiczowa zeigt das Wesen des Menschen erstaunlich zeitlos und aktuell. Sie setzt es in Beziehung mit einer faszinierenden Natur, die mit den Figuren in Wechselwirkung tritt. Eine zentrale Rolle hat der blinde Michal dabei, dessen Instinkte ihn über manch Sehenden erheben. Die Autorin spannt einen schlüssigen Bogen, der die Erzählungen miteinander verbindet. Es lohnt sich, diesen am Ende der Lektüre Revue passieren zu lassen, um die Vielschichtigkeit des Romans würdigen zu können. Ein Kompliment an Peter Oliver Loew für die gekonnte Übersetzung sowie an Anna Artwínska für das umfangreiche, informative Nachwort.

    Große Leseempfehlung für alle Freunde klassisch zeitloser Texte. Danke für die Wiederentdeckung dieser fast vergessenen polnischen Autorin!