Zweistromland: Roman

Zweistromland, das meint jene Kulturlandschaft in Vorderasien, die durch die beiden großen Flüsse Euphrat und Tigris geprägt wird.
Und „ Zweistromland“ nennt die junge Autorin Beliban zu Stolberg ihren Debutroman.
1993 als Tochter eines Kurden und einer Deutschen geboren, gehört sie der zweiten Generation von Migranten an. Von deren Erfahrungen zwischen zwei Kulturen zeugen mittlerweile unzählige literarische Texte, die man unter dem Begriff „ Brückenliteratur“ zusammenfassen kann. Warum sollte man nun einen weiteren Roman zu diesem Thema lesen? Weil es sich lohnt.
Im Zentrum steht die Ich- Erzählerin Dilan, eine junge Frau um die Dreißig. Sie lebt mit ihrem schwedischen Ehemann in Istanbul und arbeitet dort als Anwältin für Wirtschaftsrecht. Als ihre Mutter stirbt, reist sie zurück in die norddeutsche Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist. Bei der Beerdigung spricht sie eine fremde Frau an, die mehr über ihre Vergangenheit zu wissen scheint als Dilan selbst.
Wieder in Istanbul lässt sie diese Begegnung nicht mehr los. Schemenhafte Erinnerungen lösen längst verdrängte Fragen aus und sie spürt, dass sie mehr über sich und ihre Familie wissen muss. Weshalb suchten ihre Eltern, alevitische Kurden, Asyl in Deutschland ? Und was war mit ihrem älteren Bruder, der nur in den Ferien zu Besuch kam? Über all das wurde in der Familie geschwiegen. Der Vater reagierte auf Nachfragen ausweichend. „ Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur Dinge, die passieren. Wenn du anfängst, nach einer Wahrheit zu suchen, verlierst du dich und dann verpasst du dein ganzes Leben,“ ist seine Antwort.
Doch Dilan weiß, dass sie die Geschichte ihrer Familie kennen muss, das ist sie sich und ihrem ungeborenen Kind schuldig. Und so macht sie sich hochschwanger auf, erst nach Diyarbakir, jener heimlichen Hauptstadt der Kurden im Osten der Türkei, unweit der syrischen Grenze. Hier haben ihre Eltern einst gelebt. Doch die Reise ist nicht ungefährlich. Wir sind im Jahr 2016 und die Stadt wird noch immer von politischen Unruhen erschüttert, die ein Jahr zuvor ihren Anfang nahmen. Das macht Dilans Unterfangen nicht einfach, doch nach und nach findet sie heraus, was damals ihre Eltern aus der Türkei flüchten ließ. Und Antworten bekommt sie auch von jener Fremden, mit der ihre Suche begann.
Beliban von Stolberg erzählt eindringlich von einer jungen Frau, die ihren Platz finden muss. Dabei zeigt sie, dass Schweigen und Verdrängen keine Lösung sein können, auch wenn die Erinnerungen schmerzhaft sind. Mit ihrer feinen Erzählweise und ihrer höchst poetischen Sprache nimmt sie den Leser sogleich gefangen. Der Gegenwartsebene im Jahr 2016 wird das Aufwachsen der Ich- Erzählerin im Jahr 1999 gegenübergestellt. So wird manches im Verhalten der Protagonistin verständlicher, z.B. spiegelt sich das Schweigen der Eltern in ihrem Verhältnis zu ihrem Ehemann wider.
Beliban zu Stolberg hat mit „ Zweistromland“ eine intensive Familiengeschichte geschaffen, die sich zeitlich von den 1970er Jahren bis ins Jahr 2016 erstreckt, von den Ufern des Tigris bis an die deutsche Norseeküste .„ Als der Tigris in die Nordsee floss“ heißt es deshalb auf dem Klappentext.
Mit der privaten Geschichte eng verwoben sind die geschichtlichen und politischen Geschehnisse.
Ein gelungenes Debut!
Das Leben der kurdischen Minderheit
Dilan und Johan leben in Istanbul. Er wollte nicht nach Schweden zurück und so folgte er Dilan in die Türkei. Obwohl sich die Sprachlosigkeit zwischen sie geschlichen hat, erwarten sie ein Kind. Dilan fährt alleine zur Beisetzung ihrer Mutter nach Deutschland, vor allem um ihrem Vater beizustehen. Bei der Beerdigung taucht eine Frau auf, die Dilan nie zuvor gesehen zu haben glaubt, aber die Ähnlichkeit mit ihrem Vater ist unverkennbar. Als diese Frau anfängt abfällig über Dilans Mutter zu sprechen, möchte Dilan ihr das Glas Wein ins Gesicht schütten, das sie fest umklammert. Die Frau behauptet tatsächlich die Schwester Dilans Vater zu sein und dass sie an Dilans Bett gewacht habe, als die nach einem Unfall mehrere Monate im Koma gelegen habe.
Zurück in Istanbul verbringt Dilan die Abende und fast jede Nacht allein in ihrem Bett, weil Johan jetzt häufiger fern bleibt. Sie arbeitet in einiger Enfernung von Zuhause am Taksim Platz in einer Kanzlei für Wirtschaftsrecht. Ihre Kolleginnen sind hier, ganz anders als in ihrem Stadtteil, europäisch gekleidet. Dilan arbeitet gewissenhaft ihre Fälle durch, die Arbeit gefällt ihr. Doch dann bekommt sie eine Akte auf den Tisch, deren Bearbeitung sie viel Zeit kosten wird. Spontan verlässt Dilan das Gebäude und läuft durch die Stadt. Sie denkt an ihre Eltern, was weiß sie eigentlich über sie. Sie steigt in einen Bus, der nach Dijarbakir fährt, den kurdischen Teil der Türkei nahe Syrien und folgt den Spuren ihrer Eltern.
Fazit: Beliban zu Stolberg erzählt über das Leben der kurdischen Minderheit in der Türkei. Sie findet Worte darüber was verboten ist und welches Verhalten mit Folter geahndet wird. Die Geschichte ist durchgehend melancholisch, die Kindheit der Protagonistin voller Geheimnisse. Selbst in Deutschland lebend legen die Eltern die kurdische Sprache ab. Nur heimlich und wenn Dilan nicht verstehen soll wird kurdisch gesprochen. Niemand bringt ihr die Sprache bei, als sei Herkunft und Kultur ausgelöscht. Dabei hatte damals alles so gut angefangen. Beide Elternteile haben studiert und sich verliebt. Die Mutter hat sich für Aufklärung engagiert. Ganz kurz lässt die Autorin auf zwei späten Seiten aufblitzen, was Menschen passierte, die nicht ins System passen und dabei wird klar, dass das ihrer Mutter passiert ist. Eine tragische und wichtige Geschichte, die Menschen eine Stimme gibt, die niemand hören will, aber leider hat sie mich emotional nicht erreicht.