Mein Herz ist eine Krähe

Buchseite und Rezensionen zu 'Mein Herz ist eine Krähe' von Lina Nordquist
3.5
3.5 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mein Herz ist eine Krähe"

Norrland um 1900: Unni, Armod und der kleine Roar mussten überhastet aus Norwegen fliehen. Inmitten der blauen Berge und dunkelgrünen Wälder Hälsinglands finden sie ein neues Zuhause. Doch die brutalen Launen der Natur und des Landbesitzers lassen die kleine Familie kaum Frieden finden. Mehr als 70 Jahre später plant Kåra die Beerdigung ihres Schwiegervaters Roar. Was ist damals wirklich passiert? Und welche Geheimnisse verbinden Kåra und Unni über die Jahrzehnte hinweg?

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:416
Verlag: Diogenes
EAN:9783257072617

Rezensionen zu "Mein Herz ist eine Krähe"

  1. Hütet der Wald alle Geheimnisse?

    Mit dem deutschen Titel: „Mein Herz ist eine Krähe“ konnte ich wenig anfangen, mit dem Inhalt allerdings umso mehr. Auch wenn er schwer – bis extrem schwer – verdaulich ist. Vieles begreift man erst zum Schluss, warum die Protagonisten so agieren, wie sie agieren.

    Der schwedische Titel, übersetzt: „Wohin du gehst, folge ich“ trifft es bedeutend besser. Auch wenn hin und wieder mal eine Krähe im Roman vorkommt.

    Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen, also etwa um 1900 und später etwa um 1973 oder ab da. Im Wesentlichen spielt sich alles in einer einsamen Kate namens „Frieden“ im schwedischen Wald ab. Und in der Umgebung der Kate. Dennoch ist hier eine ganze Welt dieses Romans zu finden und die familiäre Verbundenheit der insgesamt neun Personen, die hier die Hauptrolle spielen.

    Das sind um 1900 Unni, Armod, ihr Geliebter, und Unnis kleiner Sohn Roar. Dazu kommen später noch zwei gemeinsame Kinder: Tone Amalie und Brita Elise.

    Ab 1973 ist dann aus der ersten Zeitebene nur noch Roar vertreten, dazu Bricken, seine Frau, der gemeinsame Sohn Dag und Kara, Dags Frau. Später kommt noch der kleine Bo dazu. Und die Kate wurde natürlich um einen ersten Stock ergänzt. Oben wohnen Dag, Kara und Bo.

    Der Roman ist unglaublich gut geschrieben, das Glück und Leid der Familie erlebt der Leser wirklich hautnah mit und es geht auch tief unter die Haut. Der große Boss wartet also nie, bis alle sich vom Unglück erholt haben, sondern es kommt stellenweise so knüppeldicke, dass man am liebsten mitheulen möchte. Oder mal Luft schnappen und etwas Positiveres zwischendurch lesen. Also: Minuslektüre vom Feinsten.

    Dazu ein wunderbares Cover, hochwertiges Papier, Ganzleinen, wie man es heutzutage nur noch ganz selten – oder eben bei Diogenes – findet. Zum allerfeinsten Lesegefühl fehlt also nur noch das Lesebändchen.

    Fazit: Wirklich selten Minuslektüre gelesen, die derart gut geschrieben ist. Hier möchte man ja schon als Leser einen Mord begehen. Und mehr als fünf Sterne gibt es ja nicht.

  1. Dramatische Familiengeschichte

    Der Roman beginnt mit einer düsteren Szene, die programmatisch wird für den ganzen Roman: eine Beerdigung wird vorbereitet. Roar, Ehemann, Schwiegervater und Großvater, ist tödlich verunglückt und soll beerdigt werden. Dieser Roar ist Dreh- und Angelpunkt des Romans. Zwei Frauenstimmen aus zwei Generationen kommen zu Wort, und in beiden Erzählungen spielt Roar eine zentrale Rolle.

    Die erste Stimme ist die Stimme Unnis, der Mutter Roars. Unni flüchtet mit dem unehelichen kleinen Roar und ihrem Geliebten in die Einsamkeit Norlands. In einer verlassenen Kate kämpfen sie in einer unwirtlichen und rauen Natur um ihr Überleben. Hungerwinter, Bärenangriffe, Dürreperioden, Ernteausfälle, Unfälle, die Abhängigkeit vom Pachtbauern, Elend und Gewalt – die Autorin schildert eindringlich das harte und entbehrungsreiche Leben der jungen Familie.

    Die zweite Stimme gehört Roars Schwiegertochter Kara. Ihre Heirat mit Roars Sohn schützt sie vor der Verbringung in eine sog. Irrenanstalt, insofern kann man auch sie, so wie Unni, als Flüchtling bezeichnen. Kara ist psychisch auffällig und wird von Ängsten, Depressionen und Aggressionen gequält. Ihre Schwiegermutter Bricken, Roars Ehefrau, stellt das Bindeglied dar.

    Stück für Stück werden die beiden Erzählstimmen zusammengeführt, und die grausamen Geheimnisse der Familiengeschichte öffnen sich dem Leser. Dieser Plot bietet eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten.

    Die Ausgestaltung ist aber derart überfrachtet mit Grausamkeiten aller möglichen Art, dass die Handlungslogik darunter leidet. Ein vierjähriges, zudem ausgehungertes Kind soll in der Lage sein, einen ausgewachsenen Dachs abzubalgen und anschließend einzusalzen? Unni hatte bei ihrer überstürzten Flucht tatsächlich Bettwäsche und Stickgarn dabei, um Monogramme zu sticken? Gelegentlich rutscht dadurch eine Szene bei aller Grausamkeit ins Komische ab, wenn z. B, der Vergewaltiger „die Hose wie ein Fallstrick um seine Knöchel“ einem Kind nachsetzt und es trotz des Fallstricks erwischt und schwer misshandelt. „Gebrochener Arm, zertrümmerte Wangenknochen“: diese schweren Verletzungen halten das Kind jedoch nicht davon ab, den Rest der Nacht schwere körperliche Arbeit zu verrichten.
    Ein bisschen weniger Drama hätte dem Roman gutgetan...

    Auch die vielen Wiederholungen und die äußerst bildstarke Sprache können die logischen Schwächen der Handlung nicht verdecken, sondern bringen den Text immer wieder sehr nahe an die Herz-Schmerz-Literatur heran („Mit meinen Fingern sang ich ‚ich liebe dich..‘ .“).

    Sehr gekonnt fand ich allerdings die Lebens- und Naturbeschreibungen und das Symbol der Krähe, das die Erzählstränge zusammenbindet und dem Roman seinen Namen gibt: für Unni ist die Krähe eine Vertraute, für Kara hingegen eine Botin ihrer Ängste.

    Wer Romane mit Beschreibungen der nordischen Natur liebt und gerne Familiengeheimnissen auf der Spur ist und dabei logische Brüche in der Handlung nicht so wichtig findet, hat sicher Lesefreude an diesem Roman.

  1. 4
    19. Dez 2023 

    Eine Familientragödie

    Als ob die Berufstätigkeit als Professorin, Forscherin und Politikerin nicht schon tagesfüllend genug wäre, hat sich die Schwedin Lina Nordquist, die in ihrer Heimat sicherlich bekannter ist als bei uns, an die Schriftstellerei herangewagt. Gleich mit ihrem ersten Roman „Mein Herz ist eine Krähe“ hat sie zumindest in ihrer Heimat direkt für Aufsehen gesorgt. Talent kann man Frau Nordquist also definitiv bescheinigen. Nun ist ihr Roman im deutschsprachigen Raum erschienen.
    Es geht um eine Familiengeschichte, erzählt über zwei Generationen und zwei Zeitebenen: Ende des 19. Jahrhunderts und etwa 75 Jahre später.
    1897 flieht die junge Mutter Unni mit ihrem kleinen Sohn Roar und ihrem Lebensgefährten Armed von Norwegen nach Schweden. Der Grund für diese Flucht zeichnet sich erst im Verlauf des Romans ab. Die kleine Familie schafft sich ein Zuhause in Hälsingland. Die Familie ist arm, sie lebt von dem bisschen, das Wald und Boden bereithalten - zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Doch ein eiserner Überlebenswille und die Liebe zueinander sorgen dafür, dass die Familie die Hoffnung nie verliert. Die Familie wird wachsen, doch die Natur sowie die Menschen in ihrem Umfeld meint es selten gut mit ihr. Die Schicksalsschläge, die diese Familie heimsuchen, werden immer heftiger.
    Etwa 75 Jahre später und am selben Ort, betrauern zwei Frauen den Tod von Roar: Seine Ehefrau Bicken und Schwiegertochter Kara. Dieser Part des Romans wird aus der Perspektive von Kara erzählt.
    Schnell wird klar, dass die junge Frau und Roar ein Verhältnis hatten, das sie irgendwie geheim halten konnten. Während der nächsten Tage, in denen die beiden Frauen die Beerdigung organisieren und trauern, wird sich Kara immer wieder in Erinnerungen über ihre Kindheit, ihre Heirat mit Roars und Bickens Sohn sowie ihr Leben
    im Haus der Schwiegereltern verlieren.
    Das verbindende Glied zwischen beiden Handlungsebenen ist der verstorbene Roar, der im Vergleich zu Unni und Kara keine eigene Erzählstimme hat. Natürlich fragt man sich, wie aus dem kleinen Jungen, jener Familienvater geworden ist, der ein fragwürdiges Verhältnis mit der Schwiegertochter angefangen hat. Zunächst einmal lassen sich die Handlungsebenen losgelöst voneinander betrachten und erzählen jeweils eine Geschichte, die jede für sich das Zeug für einen eigenen Roman hätte.
    Roars Mutter Unni war also mit ihrer Familie auf der Flucht. Die Hintergründe kristallisieren sich erst nach und nach heraus. Dieser Handlungsstrahl ist eine einzige Abfolge tragischer Momente im Leben dieser Familie und verlangt dem Leser einiges ab. Nur selten gibt es kurze Momente des Glücks und des Durchatmens für den Leser, mit der Gewissheit, dass der nächste Tiefschlag folgen wird. Die Autorin erzählt die Tragödie dieser Familie zwar in einer wunderschön poetischen Sprache, steht aber damit gleichzeitig im krassen Gegensatz zu dem Geschehen. Man muss als Leser schon eine dicke Schale haben, um das Elend dieser Familie ertragen zu können.
    In dem Handlungsstrang der Gegenwart geht es weniger tragisch zu.
    Stattdessen sorgt die unzuverlässige Erzählstimme von Kara für Irritationen. Fast wäre man der jungen Frau auf den Leim gegangen, doch die Unstimmigkeiten zwischen der Realität und Karas Sichtweise werden immer auffälliger. Mit Kara stimmt etwas nicht. Und während man rätselt, was das sein könnte, nähern sich die Geheimnisse um die beiden Familien und ihrer Verbindung immer mehr der Auflösung.

    Fazit
    Dieser Roman hat mir viel gegeben. Auf die Handlungsebene der Vergangenheit bezogen habe ich einiges über das Leben der schwedischen Landbevölkerung ihrer Zeit sowie den damaligen Moralvorstellungen erfahren. Mit dem modernen Handlungsstrang, der durch die mysteriöse Kara Thriller-Elemente aufweist, stellt der Roman eine interessante Mischung dar.
    Sprachlich ist dieser Roman großes Erzählkino, da die Autorin durch ihren poetischen Erzählstil Emotionen transportiert, die man als Leser erstmal verpacken muss. Daher habe ich „Mein Herz ist eine Krähe“ als einen sehr mitreißenden und spannenden Roman erlebt, der mich mit seiner ungewöhnlichen Familiengeschichte sehr berührt hat.

    © Renie

  1. Leid verbindet

    Bei dem Roman "Mein Herz ist eine Krähe" handelt es sich um das Debut der schwedischen Autorin, Professorin und Politikerin Lina Nordquist. Der Titel hat mich sehr neugierig gemacht, nicht zuletzt da er in Schweden zum besten Buch des Jahres gekürt wurde.

    Es handelt sich um eine Geschichte, die auf zwei Zeitebenen angesiedelt ist. Eine geht in die Vergangenheit zurück bis ins späte 19. Jahrhundert. Dort verfolgen wir das Schicksal von Unni, die aufgrund eines drohenden Prozesses verfolgt und in die Flucht geschlagen wird. In Begleitung ihre Geliebten Arnold sowie ihrem kleinen Sohn Roar flieht sie von Norwegen nach Schweden. Etwa 80 Jahre später steht Roars Beisetzung an. Es ist Káras Schwiegervater. Kára ist ein ganz anderer Charakter als Unni, auch unberechenbar, aber beide teilen ein schweres Schicksal. Natürlich werden die beiden Perspektiven am Ende zusammengeführt.

    Von einem als "Mein Herz ist eine Krähe" betiteltes Buch erwartet man sicher kein Wohlfühlbuch. Dennoch sollte man vielleicht vor der Lektüre wissen, dass es über weite Strecken sehr viel Gewalt und Elend geht. Das ist mitunter schwer zu ertragen. Ich habe die Geschichte dennoch gerne gelesen, allerdings brauchte ich eine gewisse Zeit, um ins Buch hineinzufinden. In jedem Fall aber würde ich noch ein weiteres Buch der Autorin lesen.

  1. Geheimnisse, die die Jahre überdauern

    Skandinavien zum Ende des 19. Jahrhunderts: Unni und Armod fliehen mit dem kleinen Sohn Roar in Eile von Norwegen nach Schweden. Zwar finden sie ein neues Zuhause, aber das hat seine Tücken. Mehr als 70 Jahre später ist Roar tot. Die Witwe Kåra plant die Beerdigung ihres Schwiegervaters. Welche Geheimnisse verbinden Kåra und Unni? Was ist in der Vergangenheit Schlimmes passiert?

    „Mein Herz ist eine Krähe“ ist der Debütroman von Lina Nordquist.

    Meine Meinung:
    Der Aufbau des Romans erschließt sich schnell. Er beginnt mit einem kurzen Prolog, an den sich etliche Kapitel anschließen. Die Handlung spielt auf zwei Zeitebenen: einmal im Jahr 1897 und einmal im Jahr 1973. Erzählt wird dabei im Wechsel aus zwei verschiedenen Ich-Perspektiven: der Sicht von Unni und der von Kåra.

    In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman beeindruckt. Die Sprache ist atmosphärisch, intensiv und bisweilen fast poetisch. Die starken Bilder sind kreativ und anschaulich.

    Die beiden Protagonistinnen, Kåra und Unni, sind einerseits ganz unterschiedliche Charaktere, weisen andererseits jedoch einige Gemeinsamkeiten auf. Beide sind dabei keine Sympathieträgerinnen. Beim Lesen kommt man ihrem Innenleben jedoch recht nahe.

    Was den Inhalt angeht, ist die Geschichte düster, brutal und deprimierend. Die Themen sind unter anderem Armut, Elend, Gewalt und Verlust. Psychische Krankheiten spielen dabei eine wesentliche Rolle. Insgesamt wirkt der Roman ein wenig überfrachtet.

    Auf den rund 450 Seiten ist die Handlung durchaus spannend, aber auch etwas redundant. Vor allem in der zweiten Hälfte bietet sie - trotz des eher unspektakulären Settings - unerwartet viel Dramatik, mehrere Überraschungen und eine Menge Action. Allerdings geht das zulasten der Realitätsnähe. Zudem empfinde ich den Roman zum Ende hin nicht als komplett schlüssig.

    Der deutsche Titel unterscheidet sich erheblich vom schwedischen Original („Dit du går, följer jag“), das ich besser formuliert finde. Das verlagstypische, reduzierte Cover mit dem Pinienwald, ein Gemälde von Max Ducos, passt meiner Ansicht nach jedoch sehr gut.

    Mein Fazit:
    Meine hohen Erwartungen hat Lina Nordquist mit „Mein Herz ist eine Krähe“ nur auf sprachliche Ebene erfüllt. Ihren Debütroman kann ich leider nur bedingt empfehlen.

  1. Endloses Elend

    Seit 2016 stellt die Redaktion des schwedischen Bonniers Buchklub eine Liste mit zwölf schwedischen oder ins Schwedische übersetzten Titeln von hoher sprachlicher Qualität zusammen, die sich für ein breites Publikum eignen und Geschichten gut erzählen. Aus diesen Vorschlägen wählen Leserinnen und Leser ihr Lieblingsbuch, das "Årets bok". Zwei der Siegertitel habe ich mit großer Freude gelesen: 2017 erhielt Alex Schulman den Preis für "Glöm mig", 2021 Ann-Helén Laestadius für "Stöld", in deutscher Übersetzung "Das Leuchten der Rentiere". Meine Erwartungen waren daher beim Gewinnertitel von 2022 "Dit du går, följer jag", dem Debüt der 1977 geborenen Physiologie-Professorin und schwedischen Parlamentsabgeordneten Lina Nordquist, im Diogenes Verlag als "Mein Herz ist eine Krähe" erschienen, hoch.

    Zwei Frauenleben
    Unni und Kåra, die sich kapitelweise als Ich-Erzählerinnen abwechseln, stehen im Mittelpunkt des Romans. Obwohl sie sich nie begegnen, sind ihre Schicksale eng miteinander verbunden. Beiden droht aus unterschiedlichen Gründen die Zwangseinweisung in eine Irrenanstalt, beide leben, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten, in derselben Bauernkate in Hälsingland, die sie schließlich verlassen, und beide lieben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, den selben Mann: Roar. Er ist der dritte, leider jedoch stumme Protagonist.

    Unni
    1897 muss Unni, die wegen ihrer Heilkunde von der Kirche und der Justiz verfolgt wird, aus dem norwegischen Trondheim fliehen. Zusammen mit ihrem einjährigen unehelichen Sohn Roar und ihrem Geliebten Armod wandert sie bis ins schwedische Hälsingland. Dort beziehen sie eine leerstehende Bauernkate auf einer sonnigen Waldlichtung, die sie „Frieden“ nennen, doch der kehrt nicht ein. Erdrückende Schulden beim Waldbauern, Wetterkapriolen, schwierige Böden, furchtbare Hungerperioden, Elend, Tod und unvorstellbare Gewalt lassen Unni oft verzweifeln, "Herbstbangen", "Winterdarben" und "Frühlingshunger" (S. 136) wechseln sich in Endlosschleife ab:

    "Es nahm kein Ende." (S. 319)

    Kåra
    Mehr als 70 Jahre später bereiten Roars Schwiegertochter Kåra und dessen Witwe
    Bricken seine Beerdigung vor. Kåra, psychisch krank seit Kindertagen, inzwischen verwitwet, hat einst geheiratet, um der Einweisung in eine Anstalt zu entgehen. Sie ist abhängig von Psychopharmaka, angstgestört, missmutig und selbstmitleidig, verabscheut die freundliche Schwiegermutter, geht bei Menschen wie Tieren über Leichen und streut wiederholt Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erzählung. Was also ist wahr an ihrer angeblichen Liebesbeziehung mit Roar?

    Ein zwiespältiges Fazit
    Legt man die Kriterien für das "Årets bok" zugrunde, so erfüllt "Mein Herz ist eine Krähe" die sprachlichen Anforderung klar. Lina Nordquist beschreibt die ebenso atemberaubend schöne wie lebensbedrohliche Natur, Stimmungen und Licht poetisch, bildstark und lebendig. Auch die Schilderung der existentiellen Nöte Unnis hat mir, bevor sie in der zweiten Romanhälfte zu gehäuft und zu detailliert brutal wurden, gefallen. Bei den Wendungen der beiden Erzählstränge, beim Übermaß an Dramatik, bei der Logik, der klischeehaften, statischen Charakterzeichnung und beim Plot hat der Roman jedoch für mich ernüchternde Schwächen und die zweite Hälfte fällt deutlich gegen die erste ab. Selbst wenn man über diverse Zufälle hinwegsieht, handeln die Figuren an entscheidenden Stellen weder zu ihren körperlichen Möglichkeiten noch zu ihrer charakterlichen Beschreibung passend. Schade, denn mit dem Interesse von Lina Nordquist an sozialen und gesundheitspolitischen Fragen und am Schicksal stigmatisierter Frauen früher und heute wäre mehr möglich gewesen. Dafür hätte es allerdings mehr Tiefe, Subtilität und Glaubwürdigkeit, dafür weniger Effekthascherei und Holzhammer gebraucht.

  1. 3
    20. Nov 2023 

    Empfehlung mit Einschränkungen

    Die Autorin Lina Nordquist, 1977 geboren, ist Professorin für Physiologie und Mitglied im schwedischen Parlament. Daneben hat sie noch Zeit gefunden zum Schreiben. Ihr Debut „ Mein Herz ist eine Krähe“ wurde in ihrer Heimat als „ Buch des Jahres“ ausgezeichnet.
    Im Zentrum ihres Romans stehen zwei Frauen, Unni und Kara. Beide leben in der schwedischen Provinz Hälsingland, eine dünn besiedelte Gegend im Norden Schwedens, eine Landschaft voller Wälder und unberührter Natur. Und die Natur spielt eine ganz zentrale Rolle im Roman.
    Die Geschichte wird abwechselnd aus zwei Perspektiven und auf zwei Zeitebenen erzählt. Der eine Erzählstrang führt in die Vergangenheit, die Gegenwartsebene spielt Mitte der 1970er Jahre.
    Unni flüchtet 1897 mit ihrem kleinen Sohn Roar und ihrem Geliebten Armod aus Norwegen nach Schweden. Die Gründe dafür werden erst nach und nach enthüllt. Eine heruntergekommene und verlassene Hütte in der Einöde schwedischer Wälder wird ihre Zuflucht. Hier hoffen sie, Heimat und Frieden für sich zu finden und „ Frieden“ nennen sie auch ihr neues Zuhause. Aber das Leben wird für sie ein steter Kampf ums Überleben. Der Boden rund um die Kate ist steinig und unfruchtbar, die Winter sind lang und streng. Die Familie, zu der bald noch eine Tochter gehört, ist nah am Verhungern.
    Sehr eindringlich beschreibt die Autorin den Überlebenskampf der Familie. Einziger Halt ist die Liebe, die sie verbindet und die Gabe, sich auch an kleinen Dingen zu erfreuen. Doch als Armod bei der Arbeit im Wald tödlich verunglückt, muss Unni sich und die Kinder allein durchbringen, eine schier unmögliche Aufgabe.
    Jahrzehnte später ist Roar, Unnis Sohn, tot und zwei Frauen trauern um ihn, Bricken, seine Ehefrau und Kara, die Schwiegertochter. Auch Kara hat keinen Frieden gefunden in dem Haus im Wald, fühlt sich fremd, nicht angenommen. Von Kindheit an leidet sie unter Angstattacken und bekommt später diese nur mit Hilfe von Tabletten einigermaßen in Griff. Obwohl es das Schicksal auch mit Kara nicht gut gemeint hat, kann man als Leser wenig Verständnis für ihr Verhalten aufbringen. Sie ist unberechenbar und böse, gewalttätig gegenüber Mensch und Tier. Kara wird dem Leser zusehends unsympathisch.
    Doch das ist nicht der Grund, warum mich das Buch letztendlich enttäuscht hat.
    Ich bin mit viel Vorfreude an die Lektüre gegangen und bis zur Mitte ungefähr habe ich den Roman sehr gerne gelesen. Die Autorin versteht es, Spannung aufzubauen und Empathie für ihre Figuren auszulösen. Besonders der Erzählstrang um Unni hat mich gepackt und berührt. Einfühlsam und plastisch beschreibt die Autorin, was Armut, Not und Hunger konkret bedeutet. Die beinahe archaischen Zustände sind für uns heutige Leser kaum noch vorstellbar und mögen deshalb übertrieben erscheinen. Doch ein solches Leben, wo ein Schicksalsschlag auf den anderen folgte, war nicht ungewöhnlich.
    Auch sprachlich konnte mich der Roman überzeugen. In ausdrucksvollen Szenen und mit viel Atmosphäre vermittelt die Autorin ein Bild von der Schönheit und Rauheit der Natur.
    Doch leider vertraut Lina Nordquist am Ende nicht mehr auf die Kraft ihrer Geschichte. Manche Geschehnisse wurden, um des Effektes Willen, unnötig aufgeblasen, mit unappetitlichen und gewaltsamen Details versehen. Man stolpert über Ungereimtheiten in der Handlung und wundert sich über das Verhalten mancher Figuren, das nicht mehr zu vorherigen Charakterisierung passt.
    Deshalb kann ich „ Mein Herz ist eine Krähe“ nur mit Einschränkungen empfehlen. Wer über die Kritikpunkte hinwegsehen kann, erfreut sich an einem spannenden und sprachlich gelungenen Unterhaltungsroman.

  1. Drastisches Familiendrama auf zwei Zeitebenen

    Dieser Debütroman wurde als das schwedische „Buch des Jahres 2022“ ausgezeichnet. Nun sind die Nordländer dafür bekannt, dass sie packende Kriminalromane schreiben können, in denen es auch mal blutig bis brutal zugehen darf. Hätte mir diese Tatsache eine Warnung sein sollen, als ich mich dem poetisch klingenden „Mein Herz ist eine Krähe“ zuwandte?

    Zum Inhalt: Erzählt wird diese Geschichte abwechselnd auf zwei Zeitebenen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts berichtet Unni ihre Lebensgeschichte; im Jahr 1973 Kara, die Schwiegertochter von Unnis Sohn Roar. Die Abschnitte sind entsprechend mit dem Namen der jeweiligen Ich-Erzählerin überschrieben. Die schwangere Unni musste 1897 aus ihrer Heimat Norwegen fliehen, weil man sie dort an einem Mord für schuldig hielt. Aus Angst vor Strafe schlägt sie sich mit ihrem Mann Armod und Sohn Roar über die Grenze nach Schweden durch, wo sie mitten im Wald eine kleine Kate finden, die sie pachten können. Da Unni sich vor Verfolgern fürchtet, meidet die Familie Kontakte zum benachbarten Dorf und lebt weitgehend sozial isoliert. Armod verdingt sich als Tagelöhner, der Boden ist karg und steinig, der Verpächter unnachgiebig, so dass die bald vierköpfige Familie am Existenzminimum darben muss. Diese Not macht Nordquist sehr greif- und fühlbar, man hat zunächst große Empathie mit den handelnden Figuren. Ein lebensbedrohlicher Hungerwinter zeigt die Ausweglosigkeit der einfachen Leute, macht deren Elend bildmächtig und anschaulich deutlich – Gänsehaut pur.

    In der näheren Gegenwart von 1973 ist Karas Schwiegervater Roar jüngst verstorben. Kara und ihre Schwiegermutter Bricken leben nun allein in der besagten Kate. Beide Frauen trauern um einen Mann, der offenbar der verlässliche Rückhalt der Familie war. (Wir lernen ihn ja parallel auch als Kind in den Erzählungen Unnis kennen.) Kara scheint eine missmutige, eifersüchtige Frau zu sein, die große Vorbehalte gegenüber Unni hegt. Als Leser belauschen wir nicht nur Karas Gedanken und die Dialoge der beiden Frauen, sondern wir bekommen auch zahlreiche Rückblicke in deren Vergangenheit geboten, die die familiären Beziehungen untereinander verdeutlichen. Mancher Konflikt wird dabei offenkundig. Die Autorin versteht es, Hinweise auszulegen, Fragen aufzuwerfen und für kontinuierliche Spannung zu sorgen. Die erste Hälfte des Buches habe ich diesbezüglich sehr genossen. Hervorzuheben ist dabei die bildmächtige Sprache der Autorin, mit der sie auch die farbenprächtige, wechselhafte Natur ausdrucksvoll in Szene zu setzen weiß. Vereinzelt eingestreute Metaphern sowie innovative, beinahe lyrische Wortkreationen sind beeindruckend.

    Leider hat die ohnehin traurig bis deprimierende Handlung ab der zweiten Buchhälfte eine Richtung eingeschlagen, die für mein Empfinden nicht mehr durchgängig glaubwürdig ist. Die Schicksalsschläge, die Unnis Familie zu verkraften hat, gehen über das menschlich Verkraftbare und Realistische hinaus. Wir begegnen nicht nur Tod und Trauer in vielen Facetten, sondern auch Gewaltdarstellungen mit fortdauernder, sich wiederholender Brutalität, die in ihrer Detailfülle den Leser zwar schockieren, die eigentliche Handlung aber nicht voranbringen. Im Gegenteil habe ich manche Szene in ihrer übertriebenen Dramatik und mit der Schicksalsergebenheit der Figuren zunehmend als Effekthascherei empfunden. Anfangs noch sensibel ausgelegte Hinweise wurden immer aufdringlicher, wiederholten sich und wirkten dadurch wenig authentisch vor dem gegebenen Szenario.

    Leider entglitt mir auch auf der Kara-Ebene die Glaubwürdigkeit immer stärker. Insbesondere Kara, deren bewegende Kindheit mich in der ersten Buchhälfte noch sehr gefesselt hat, nimmt eine persönliche Entwicklung, die schwer nachvollziehbar ist. Dasselbe gilt für den alternden Roar. Über die diesbezügliche Handlungsebene kann ich nichts sagen, ohne zu spoilern, sie wirkte aber in Teilen überkonstruiert, pathetisch und völlig abstrus.

    Dieser Roman wird mit Sicherheit eine breite Fangemeinde finden. Wer sich gerne in menschliche Schicksale vertieft oder Serien schaut, in denen es in jeder Folge eine Katastrophe oder menschliche Abgründe zu entdecken gibt, der wird an diesem Buch bestimmt seine Freude haben. Sprachlich ist es gut gemacht, Spannung ist durchaus vorhanden. Ich persönlich bin nur angesichts des beschriebenen Elends immer mehr abgestumpft und habe mir ständig Plausibilitätsfragen gestellt, die ich mir nicht zufriedenstellend beantworten konnte.

    Kein schlechtes Buch, aber für mich definitiv nicht das richtige. Deshalb dieses Mal nur eine eingeschränkte Leseempfehlung von meiner Seite.

  1. Geteiltes Leid ist doppeltes Leid

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts flieht Unni gemeinsam mit ihrem Mann Armod und Söhnchen Roar zu Fuß von Norwegen nach Schweden. Die Frau, eine junge Heilerin, soll offenbar wegen eines tödlichen Behandlungsfehlers eingesperrt werden, doch ihr gelingt die Flucht. In den Wäldern Schwedens findet sie mit ihrer Familie ein neues Zuhause, genannt "Frieden". Ein zynischer Name, denn tatsächlich stellt sich der gewünschte Frieden nie ein. Mehr als 70 Jahre später existiert das Haus noch immer, mittlerweile leben dort Kåra und ihre Schwiegermutter Bricken. Gemeinsam sind sie dabei, Roars Beerdigung zu planen. Doch nach und nach scheinen die Geister der Vergangenheit auch nach Kåra zu greifen...

    "Mein Herz ist eine Krähe" ist der Debütroman der schwedischen Parlaments-Abgeordneten Lina Nordquist, der kürzlich in der deutschen Übersetzung von Stefan Pluschkat bei Diogenes erschienen ist. Während Nordquist sprachlich durchaus die richtigen Töne trifft, kann der Roman inhaltlich selten überzeugen. Umso überraschender, dass er in Schweden zum "Buch des Jahres" gekürt wurde.

    Nordquist teilt "Mein Herz ist eine Krähe" konsequent in die beiden oben geschilderten Erzählstränge. Dies gelingt ihr anfangs gut, denn die beiden Ich-Erzählerinnen Unni und Kåra unterscheiden sich deutlich voneinander. Während der Leserschaft mit Unni eine vermeintlich starke Frauenfigur präsentiert wird, die sofort die Empathie der Leser:innen auf sich zieht, ist Kåra eher eine Art Antiheldin. Die modernere Frau sitzt eigentlich die ganze Zeit über in der Küche und äußert sich despektierlich über Roars Frau Bricken, wobei aber nicht klar wird, was genau ihre Abneigung speist. Offenbar hatte Kåra ein Verhältnis mit dem deutlich älteren Roar. Alles also nur Eifersucht?

    Ganz anders hingegen der Unni-Strang. In der Darstellung der ärmlichen Verhältnisse, die die Familie mehr als einmal an den Rand ihrer Existenz führt, erinnert der Roman in seinen stärksten Momenten mehrfach an die Schwesterglocken-Trilogie des begnadeten Erzählers Lars Mytting, ohne allerdings deren Tiefe zu erreichen. Denn Nordquist meint es grundsätzlich nicht gut mit Unni. Hungersnot reiht sich an Hungersnot, drastischen Gewaltszenen gegen Frau und Kinder folgen Tod und weitere unzählbare Unglücke. Kurzum: Unni und den Leser:innen bleibt nichts erspart. Irgendwann im letzten Drittel des Buches beklagt sie sich endlich einmal: "Es nahm kein Ende. Um nicht zu zerbersten, schlang ich mir die Arme um den Leib." Und man mag das nur allzu gern unterschreiben, auch wenn die Wirkung auf Unni und die Leserschaft eine andere ist. Denn während die Protagonistin all die Tragik und Gewalt nicht mehr aushält und darunter leidet, stumpft man als Leser:in eher ab. In der Summe ist das einfach zu viel des Schlechten. Oder auch "Geteiltes Leid ist doppeltes Leid". Ad absurdum führt Nordquist zudem das Bild der "starken Frau" Unni. Denn letztlich ist sie selten in der Lage dazu, ihrer Familie die Mutter zu sein, die diese eigentlich benötigt. In den entscheidenden Situationen scheitert sie oder ist auf die Hilfe von Armod oder des mittlerweile knapp elfjährigen Roar angewiesen.

    Ähnlich repetitiv entwickelt sich der Kåra-Strang. Neben den Lästereien blickt sie in einzelnen Episoden auf ihr Leben zurück. So erfährt man über die psychischen Probleme der zweiten Ich-Erzählerin, über ihre schwere Kindheit und die Verfehlungen ihrer Eltern. Dennoch will sich so etwas wie Empathie für Kåra nie einstellen. Zu gewalttätig gegenüber Mensch und Tier und unsympathisch zeigt sich der Charakter. Mit zunehmender Dauer entpuppt sich das Konstrukt der beiden Ich-Erzählerinnen zudem als einschränkende Falle. Denn die interessanteste Figur ist Roar, gleichzeitig das verbindende Element der beiden Erzählebenen. Seine Sichtweise auf all die Ereignisse bleibt jedoch ein Rätsel, so dass wir ihn ständig nur aus Sicht der beiden Erzählerinnen als liebenswerten Jungen, liebenden Ehemann, ehebrechenden Potenzprotz und sabbernden Demenzkranken präsentiert bekommen. Ohnehin wirken die Figuren viel zu statisch und lassen kaum Entwicklung erkennen.

    Auf der Handlungsebene weist der Roman etliche Logik- respektive Konstruktionsfehler auf. So versucht der mittlerweile auf einen Gehwagen angewiesene Roar mal eben, behende ein Baumhaus zu erklimmen. Und Unni versucht ihre zweitgeborene Tochter Amalie ausgerechnet damit zu beruhigen, dass die in den Wäldern vergessene heißgeliebte Puppe natürlich durch eine andere ersetzt wird, falls diese bei den sich nähernden Waldbränden zu Schaden kommen sollte...

    Entgegenzusetzen hat Nordquist den inhaltlichen Schwächen eigentlich nur ihre Sprache. Insbesondere in den atmosphärischen Beschreibungen der Wälder, aber auch des Lebens in vergangenen Zeiten gelingen ihr durchaus bemerkenswerte Bilder. Und wenn man es sich kurz vor dem Ende der 450 Seiten schon in einer Mischung aus Langeweile und Ärger bequem gemacht hat, gibt es ihn plötzlich doch noch, diesen inhaltlichen Aha-Moment, der lange im Gedächtnis bleiben wird. Dieser eine Moment, in dem Unni endlich ihre viel beschworene Stärke zeigen darf und der selbst die ewig lästernde Kåra sprachlos macht.

    Insgesamt ist "Mein Herz ist eine Krähe" ein Roman, der sprachlich zwar über weite Strecken überzeugt, auf der Handlungsebene hingegen ein Ärgernis ist. Mit dem gelungenen Twist im Finale schafft es Lina Nordquist zumindest, dass man das Buch in besserer Erinnerung behält als es eigentlich ist.

  1. Ausgegrenzt

    Kurzmeinung: Ich habe den Roman gern gelesen, vor allem wegen der Sprache - meine Mitstreiter in der Leserunde seufzten jedoch schwer.

    Lina Nordquist folgt einem relativ neuen Trend, nämlich demjenigen, eine Geschichte zu erzählen, in der zwei Frauenschickale in historisch unterschiedlichen Zeitverläufen verhandelt werden, jedoch erzählerisch parallel verlaufen. Man fragt sich, wie solche Trends immer wieder entstehen. Jarka Kubsova schreibt so, inzwischen macht es gefühlt jeder.
    Lina Nordquists erste Heldin ist eine sehr junge Heilerin namens Unni, die mit ihrem Kind aus Norwegen nach Schweden flieht, dabei wird sie von ihrem guten, starken und kompetenten Geliebten Armod begleitetet, einem Mann ohne jeden Fehl und Tadel. Nach einer langen gefährlichen Wanderung mietkaufen sie eine kleine Kate, für deren endgültigen Erwerb sie zehn Jahre lang auf dem Hof des Verkäufers, einem hartherzigen gemeinen Bauern schuften müssen. Es kommt wie es kommen muss, Missernten und andere Unglücksfälle ziehen eine immer größere Abhängigkeit von dem Bauern nach sich.
    Die moderne Protagonistin, Kåra, ist von einer psychischen Krankheit geplagt; ihre Erzählzeit beginnt ungefähr um 1920 und erstreckt sich bis 1973. Lina Nordquist lässt Kåra in derselben Kate leben, die Unni und Armod in langer Schufterei erworben haben und in der jetzt Roar, der Sohn von Unni lebt. Kåra hat wiederum deren Sohn Dag geheiratet. Aber glücklich ist sie nicht. Beide Frauen erzählen aus der Ichperspektive.

    Der Kommentar:
    Sowohl der historisch-alte Erzählstrang wie auch der modernere zeigen Zeitgeist. Während man um die Jahrhundertwende schlechte Karten hatte, wenn man als Außenseiter über kein soziales Netzwerk verfügte und einen Beruf ausübte, der einen in prekäre Verhältnisse zwingt, wenn man schlechte Überlebenschancen hatte, falls man keine Rücklagen bilden konnte, um die in der Landwirtschaft schnell entstehenden Schräglagen auszugleichen, zeigt der modernere Strang, wie man auch als psychisch Kranke noch weit über die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus ausgegrenzt und ausgeliefert gewesen ist. Ausgegenzte sind beide, Unni und Kåra.
    Grundsätzlich sind diese beiden Schicksale mehr als interessant, denn beide Male stehen ausgegrenzte Menschen im Mittelpunkt der Erzählung. Ausgegrenzt durchs Frausein, durch Armut, durch Isolation, durchs Fremdsein, durch Krankheit. Die Charaktere sind sich entgegensetzt, Unni ist die Tapfere, Kåra die schwache. Unni ist die Gute und Kåra die Böse. Bei der Gestaltung Unnis greift Lina Nordquist zu sehr in die Klischeekiste, bei der Ausgestaltung Kåras macht sie nicht den Fehler, Kåra die Opferrolle auf den Leib zu schreiben.
    Sprachlich bereichert uns Leser die Autorin mit vielen guten Sätzen und Metaphern. Besonders mag ich an ihrem Stil, wie sie manchmal, beabsichtigt oder nicht, mit dem altertümelnden Stil, den sie ihren Protagonisten in den Mund liegt, bricht und plötzlich ganz modern wird. Das mag natürlich auch auf eine gewisse Ungeschicklichkeit der Autorin zurückzuführen sein, aber für mich sind diese stilistischen Brüche besonders reizvoll.
    Der Plot des Romans muss allerdings bemängelt werden. Besonders im historischen Strang trifft die Familie von Unni jedes denkbare Unglück der Welt. Klischee reiht sich an Klischee, die Autorin tut des Guten bzw. des Bösen zu viel. Man kommt dadurch dem Schmierentheater gefährlich nahe, besonders wenn es am Ende einen dramatisch/kitschigen Twist gibt. Es mag sein, dass sich Lina Nordquist hier zuviel von ihren schwedischen Krimikollegen abgeschaut hat oder die Schweden einen zu starken Hang zum Drama haben. Hätte sie doch bloß nicht so sehr auf den Putz gehauen! Der Roman bricht etwas ein.

    Was man der Autorin aber bei aller Kritik an dem aufgeladenen und aufgeblasenen Plot mit Drama, Unglück und Unwahrscheinlichkeiten zugutehalten muss, ist die Art und Weise, wie ihre Protagonisten mit dem sie immer wieder treffenden Unglück umgehen. „Es hört nie auf“, seufzt Unni. Und so trivial es klingt, ist es doch oft so wahr.

    Fazit: Für ihren Plot verdient die Autorin trotz guter Anlagen keine guten Noten. Aber die Verarbeitung von Schicksal, die Thematik des Außenseitertums hat sie gut bewältigt, sprachlich mag ich ihren Stil. Was soll ich sagen, ich schwanke zwischen drei und vier Sternen und will dem Debüt Tribut zollend, auf vier Sterne aufrunden, wobei der vierte nur mit einem leistungsstarken Teleskop aufzuspüren ist. Aber er ist da, irgendwo, draussen am Himmel.

    Kategorie: Unterhaltung
    Verlag, Diogenes 2023