Inhaltsangabe zu "Ich hätte da ein paar Fragen an Sie"
Eigentlich wollte Bodie Kane ihre Zeit am Internat in New Hampshire für immer hinter sich lassen. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung an vier Jahre als Einzelgängerin und an den Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia Keith. Trotzdem kehrt Bodie als Dozentin für Medienwissenschaften zurück an das College. Als eine ihrer Schülerinnen beginnt, an einem Podcast über Thalias Tod zu arbeiten, gerät sie in einen obsessiven Strudel aus Erinnerung, nächtlicher Internetrecherche und imaginären Gesprächen mit ehemaligen Zeitgenossen. Immer deutlicher steht die Frage im Raum, ob mit dem Sporttrainer Omar Evans damals der richtige Täter gefasst wurde – und Bodie wird klar, dass sie etwas über den wahren Mörder weiß, etwas, das schon seit den 90er Jahren in ihrem Unterbewusstsein verschüttet liegt.
Campusroman mit Krimi-Elementen
Bodie Cane ist eine Frau Ende 30, die sich aktiv als Podcasterin in der Metoo Bewegung engagiert, als sie das Angebot bekommt, einen Workshop an ihrer ehemaligen Schule, dem Elite-Internat Granby in New Hampshire, zu leiten. Eigentlich wollte sie nie wieder dorthin zurück, weil sie damals als Mädchen aus prekären Verhältnissen persönliche Differenzen hatte und des Öfteren auch von Kamerad/innen bloßgestellt wurde. Doch das Projekt ist reizvoll: Sie darf mit jungen Menschen ihre eigenen Podcasts entwickeln und sie in ihrem Tun unterstützen. Außerdem beschäftigt Bodie noch immer ein alter Mordfall Ende der 1990er Jahre: Kurz vor Schuljahresende wurde die 17-jährige Thalia Keith brutal zugerichtet in den schuleigenen Pool geworfen, in dem sie hilflos ertrank. Die Ermittlungen wurden seinerzeit sehr schlampig geführt. Die honorige Einrichtung scheute jegliche negative Aufmerksamkeit. Nur halbherzig wurden Lehrer und Schüler befragt. Schnell konnte man mit dem schwarzen Sporttrainer Omar Evans einen Schuldigen präsentieren, der sich im Dschungel der amerikanischen Justiz verfing und eine lebenslange Strafe erhielt.
Bodie lässt dieser Fall nicht los. Sie freut sich, als eine ihrer Studentinnen genau diesen Fall zur Grundlage ihres Podcast-Themas macht. Motiviert beginnt die junge Frau zu recherchieren und konfrontiert Bodie mit ihrem jüngeren Ich. Sie selbst wohnte eine Zeitlang mit Thalia gemeinsam in einem Zimmer. Sie waren zwar keine Vertrauten, doch dass Thalia eine sexuelle Beziehung mit Omar gehabt haben soll, wie die Anklage behauptete, erscheint ihr völlig unglaubwürdig. Ebenso zweifelhaft kommen ihr die belastenden Indizien vor, die zur Verhaftung des sympathischen Trainers geführt haben. Hat Bodie ihn etwa auch selbst mit ihrer damaligen Aussage belastet?
Als gereifte Frau hat Bodie einen anderen, einen neuen Blick auf die Ereignisse und die vermeintlichen Beweise von damals. Die Konfrontation mit ihrer Schulzeit lässt Bodie immer wieder in Erinnerungen an Granby abdriften, an denen sie den Leser ausführlich beteiligt. Wir lernen eine Fülle von Schüler/innen kennen, ebenso ihre Beziehungen untereinander. Auch damals wurde schon geneckt, gemobbt, gefeiert, getrunken und geraucht – auch sexistische Übergriffe kamen vor. Wer gerne in Campuswelten entführt wird, wird diese lebendige, nostalgisch verzerrte Atmosphäre in Bann ziehen, zumal man nie vergisst, dass sich an diesem Schauplatz ein brutaler Mord ereignet hat. Man lernt Thalia in ihrem Umfeld besser kennen, kann die Recherchen der jungen Leute sowie aufgedeckte Widersprüche gut nachvollziehen.
Die Autorin versteht es, die verschiedenen Ebenen geschickt miteinander zu verbinden und auch den topaktuellen Zeitgeist in ihren Plot einzuarbeiten. Während die alleinerziehende Bodie das Podcast-Projekt in Granby betreut, kümmert sich ihr Ex-Mann Jerome partnerschaftlich um die beiden gemeinsamen Kinder. Interessant wird es, als gerade er als Universitätsdozent mit Vorwürfen einer jungen Mitarbeiterin konfrontiert wird, sie sexuell ausgenutzt zu haben. In Windeseile entfacht sich ein medialer Shitstorm, so dass Bodie am eigenen Leib erfährt, wie schnell man sich befangen fühlt und die eigenen Prinzipien vernachlässigt.
Im Verlauf des Romans spielt Bodie zahlreiche konkrete Szenarien durch, wie es zum Tod ihrer Zimmergenossin gekommen sein könnte. Bald schon hat sie einen konkreten Verdächtigen, den sie gedanklich mit ihren Recherchen konfrontiert und auch immer wieder persönlich mit „Sie“ anspricht – ein ungewöhnliches Stilmittel, dem der Roman auch seinen Titel verdankt.
Ich habe den Roman recht gerne gelesen. Es wird deutlich, wie stark Misogynie und Rassismus in den USA ausgeprägt sind, wie schwer es ist, vor diesem toxischen Hintergrund zu seinem Recht zu kommen. Die moralische Bewertung solcher Fälle scheint sich in den vergangenen 20 Jahren verändert zu haben, man urteilt heute strenger über sexuellen Missbrauch – ihn nachzuweisen und Glauben geschenkt zu bekommen, ist für die Betroffenen jedoch immer noch sehr schwer. Besonders spannend auch der Blick hinter die Fassade des amerikanischen Justizsystems, in dem es fast unmöglich zu sein scheint, einen einmal gefällten Schuldspruch wieder aufzuheben.
Makkai schreibt flüssig, die lebhaften Dialoge lockern den Text auf, machen ihn greifbar. Die Charaktere werden durchweg glaubwürdig gestaltet, der Plot trägt und überrascht zum Ende hin. Ich persönlich hätte mir eine Straffung im Mittelteil gewünscht. Die einzelnen Episoden rund um das Campusleben sind nicht unbedingt langweilig, lenken aber regelmäßig von der eigentlichen Haupthandlung ab, ohne sie voranzubringen. Für meinen Geschmack ist diese Erzählweise etwas weitschweifig, andere mögen das anders beurteilen.
Gemäß Klappentext vergleicht das Peoples Magazine diesen Roman mit Donna Tartts „Die geheime Geschichte“. Thematisch mag es Parallelen geben, stilistisch sind die Unterschiede groß.