Tasmanien
„In einem Augenblick kehrte ich allem den Rücken und machte mich mit leichtem Gepäck auf in eine unvorhersehbare Zukunft. Was würde ich dort draußen vorfinden?“ (Zitat Seite 183)
Inhalt
Paolo ist mit Giulio seit der gemeinsamen Zeit ihres Physikstudiums befreundet. Giulio arbeitet als Physiker an einem Forschungsauftrag in Paris, Paolo wurde Schriftsteller, Journalist, unterrichtet Wissenschaftsjournalismus und lebt in Rom. Im November 2015 ist er Anfang vierzig und nimmt an der Klimakonferenz in Paris teil, wohnt dort bei seinem Freund Giulio, lernt den Klima- und Wolkenforscher Dr. Novelli kennen. Für Paolo ist dies der Beginn einer Rastlosigkeit, eine Zeit vieler Reisen, er beobachtet die Beziehungen in seinem Umfeld, doch entzieht sich seiner eigenen seit jenem Tag im November 2015, wo ihm nach drei Jahren intensiver, aber erfolgloser Versuche klar wird, dass sein Wunsch nach einem gemeinsamen Kind mit seiner Frau Lorenza unerfüllt bleiben wird. Der Klimawandel, die Veränderung der Ökosysteme, der internationale Terrorismus, es sind die großen Zukunftsthemen, die Paolo beschäftigen, doch für ihn endet in dieser Zeit alles bei der Frage, wie seine persönliche Zukunft in dieser Welt aussehen soll.
Themen und Genre
In diesem Roman geht es um die in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft brisanten Themen unserer Tage, aber auch um Beziehungen und deren Scheitern, Elternschaft, Glaube, Liebe, Freundschaft.
Charaktere
Paolo ist mit seinen Konflikten und Problemen die Hauptfigur, durch seine Freundschaften, in deren Leben und Probleme er Einblick erhält, erweitert sich auch der Kreis der Kernfiguren.
Erzählform und Sprache
Paolo schildert als Ich-Erzähler sein Leben in den Jahren zwischen 2015 und 2022, seine Freundschaften, seine Reisen. Er ist ein genauer Beobachter der Paare in seinem Umfeld und ihrer Beziehungen und ihres Lebens, er verbindet diese Erfahrungen mit seinen weiter zurückliegenden Erinnerungen, seinen Gedanken über die aktuellen Tagesthemen, über die Wissenschaft, aber auch über philosophische Themen wie Glaube, Leben und Tod, Freundschaft. Seine persönliche Suche und Fragestellung nach seinen eigenem Platz im Leben, sein Tasmanien als metaphorisches Symbol für einen möglichst weit von allen Katastrophen entfernten Sehnsuchts- und Rückzugsort zieht sich durch den gesamten Roman. Die Handlung fügt sich aus vielen einzelnen Episoden zusammen.
Fazit
Dieser Roman über die unterschiedlichen Aspekte der Lebenssituation einer Erwachsenengeneration in der Mitte ihres Lebens ist eine komplexe, facettenreiche Suche mit vielen Fragen, eine Bestandsaufnahme mit einer Auswahl an möglichen Antworten, die jedoch vage bleiben.
"Wo würden Sie Land kaufen? [...] Im Fall der Apokalypse. [...] in Tasmanien. Es ist südlich genug, um nicht unter extremen Temperaturen zu leiden. Es hat reichlich Süßwasserreserven, wird demokratisch regiert, und es leben dort keine Fressfeinde der Menschen. Es ist nicht zu klein, ist aber jedenfalls eine Insel, also leicht zu verteidigen. Denn man wird sich verteidigen müssen, glauben Sie mir. "
Tasmanien also wäre der Zufluchtsort, die letzte Rettung. Glaubt der Wissenschaftler und Wolkenforscher Novelli, ein Freund des Erzählers. Der Erzähler selbst - Paolo - hat wiederum sehr viel mit dem Autor Giordano gemein. Die biografischen Daten jedenfalls passen genau. Aber da es sich hier um einen fiktiven Roman handelt, wird es das auch gewesen sein. Dennoch faszinierend und ein Indiz dafür, warum dieser Roman in allem so unglaublich nahe geht und authentisch wirkt. Aber mal von vorn:
Paolo ist knapp 40, studierter Physiker, der mittlerweile als Journalist und Romanautor tätig ist. Mit seiner Frau Lorenza versucht er seit Jahren ein Kind zu bekommen. Die Versuche scheitern und Lorenza, die ihrerseits bereits einen Sohn hat, gibt auf. Das stürzt Paolo in eine seelische Krise. Er flüchtet, sucht Zerstreuung, Antworten, nicht nur auf Persönliches, sondern er bezieht gleich die weltpolitischen Krisen mit ein (die Terroranschläge der Jahre 2015-17, Sexismus und die Klimakrise insbesondere). Außerdem widmet sich Paolo seinem bereits angefangenen Buch über die beiden Atombomben von Hiroshima und Nagasaki.
Der Roman hat keinen konsequenten Handlungsstrang. Vielmehr irrt er – genau wie der Erzähler selbst – in Raum und Zeit hin und her. Schwelgt abwechselnd in verschiedenen Erinnerungen und dies mit einer oft auftretenden Unsicherheit, konzentriert sich dann intensiv auf das unvollständige Buch, verzweifelt an so Vielem, was auf der Welt vor sich geht und findet zum Ende hin den Bogen zurück zu sich selbst. Er ist durchaus da, dieser rote Faden. Aber man muss ihn finden und das kann manch eine*n vielleicht etwas ermüden.
Was mich tief beeindruckt hat, sind die Schilderungen von Augenzeugen der damaligen Atombombenunglücke. Und ich verstehe den (Welt)Schmerz einmal mehr, der einen hin und wieder überkommen könnte und es auch tut.
Die Sinnkrise dieses Mannes in Verbindung mit den Weltthemen machen den Roman zu keiner leichten Kost. Er hat einen traurigen, deprimierenden Grundton. Dennoch nicht ohne Licht am Ende der Reise. Ein Finden zu sich selbst ist jedenfalls ein guter Anfang.
Mich hat der Roman sehr berührt. Giordano ist zweifellos ein Meister der leisen, poetischen Töne. Ich nehme ihm jedes Wort, jede Gefühlsregung ab. Er hat die Zerrissenheit des Erzählers glaubhaft gemacht und mich mitgenommen auf seiner Reise „nach Tasmanien“, seinen Zufluchtsort im Inneren. Toll!
Haben wir Menschen eine Zukunft?
Der Protagonist des neuen Romans von Paolo Giordano heißt Paolo und ist ebenfalls studierter Physiker. Inzwischen arbeitet er allerdings als Journalist und Romanautor. Er ist mit der etwa zehn Jahre älteren Lorenza verheiratet, die einen Sohn aus einer anderen Beziehung hat. Paolos Ehe ist kinderlos und gerät in eine Krise, als seine Frau beschließt, keine weiteren Versuche mit künstlicher Befruchtung mehr zu unternehmen. Der 40jährige Paolo ist unglücklich und muss sich neu orientieren. Er will so wenig wie möglich zu Hause sein. Deshalb reist er zu Veranstaltungen überall in der Welt und berichtet darüber. So ist er zum Beispiel 2015 bei der Klimakonferenz in Paris, wo er seinen Freund Guilio und den Wolkenforscher Jacopo Novelli trifft. Auch Guilio hat nach seiner Scheidung große Probleme, weil er vor Gericht um das Sorge- und Umgangsrecht für seinen Sohn kämpfen muss. Hier soll Paolo aufgrund seiner Beobachtungen eine für ihn günstige Aussage machen.
Vor dem Hintergrund seines privaten Unglücks beschäftigt sich Paolo mit all den Themen, die die Menschen bedrohen: Klimawandel, Terrorakte überall in der Welt, Kriege und nicht zuletzt die atomare Bedrohung. Er arbeitet an einem Buch über die Bombe, d.h. über die im August 1943 von den Amerikanern über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben. Er nimmt deshalb in Japan an den jährlichen Gedenkfeiern zu diesem Anlass teil und wird mit dem Leid der Überlebenden und ihrer Angehörigen konfrontiert. Das trägt nicht gerade zur Aufhellung seiner Stimmung bei. Mit seinem Buch kommt er ohnehin nicht voran. Er leidet unter einer regelrechten Schreibblockade.
Giordano setzt sich in seinem Roman mit gesellschaftlich relevanten Themen wie z.B. mit den Chancen von Männern und Frauen in der Wissenschaft, aber vor allem mit all den aktuellen Bedrohungen auseinander, die die Menschen ängstigen und unsicher machen. Das wirkt sich auch auf den Leser aus, der zwar Kenntnisse hinzugewinnt, sich aber nach der Lektüre fragt, ob die Menschheit eine Überlebenschance hat. Ich halte “Tasmanien“ für ein interessantes und wichtiges Buch, das zu dem neu entstandenen Genre CliFi gehört, wie so viele andere, die gerade erscheinen, z.B. T.C. Boyle, “Blue Skies“.