Auf dem Nullmeridian

Buchseite und Rezensionen zu 'Auf dem Nullmeridian' von Shady Lewis
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Auf dem Nullmeridian"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
EAN:9783455015720

Rezensionen zu "Auf dem Nullmeridian"

  1. Zwischen allen Stühlen ist Platz

    Kurzmeinung: Als Debütroman durchaus beachtlich.

    Shady Lewis schreibt aus eigener Erfahrung heraus, denn er arbeitete einige Jahre lang im soziale Dienst der Stadtverwaltung in London. Er schreibt darüber, wie es im Sozialen Bereich in England/London so zugehen kann. Bürokratie wird über das menschliche Wohl und sogar über den gesunden Menschenverstand gestellt. Eine Bewohnerin eines Übergangsheims zum Beispiel wird von den Sozialarbeitern auf ihre geistige Gesundheit anhand eines Fragebogens getestet. Weil sie einige Tiere noch nie in ihrem Leben gesehen hat, ist sie auch nicht in der Lage ihnen die korrekten englischen Bezeichnungen zuzuteilen, das ist den Befragern aber egal, wenn sie ratenderweise „Löwe“ zu einem Elefanten sagt, wird das ohne Fussnote notiert. Ergo: sie hat zu wenige Punkte erreicht und ihre Wohnverhältnisse verändern sich nicht. Auch von anderen Paradoxien auf dem Gebiet der Sozialen Arbeit berichtet der Autor.

    Der Protagonist von "Auf dem Nullmeridian" ist Sozialarbeiter auf einer unteren Ebene. Er hat nicht viel zu melden und engagiert sich auch nicht bei seiner Arbeit, zu groß ist seine Furcht, etwas falsch zu machen und seine Arbeit zu verlieren, denn auch er ist emigriert, er kommt aus Ägypten und obwohl er sieht, was alles falsch läuft, sieht er sich außerstande, etwas zu verändern.

    Der Kommentar:
    Paradoxes macht immer Spaß. Obwohl es auch wütend macht. Der Ton ist ironisch bis zynisch gehalten. Man fühlt die Ohnmacht über die miesen Verhältnisse, die der Autor anprangert. Rassismus und Willkür, auch unter den PoCs. In England sind im sozialen Dienst wohl viele Migranten beschäftigt. Man sollte meinen, sie könnten sich aufgrund dessen besser einfühlen und mehr für ihre Klienten tun. Aber auch sie tappen in die Fallen der gängigen Klischees. Unser Protagonist sitzt nämlich zwischen allen Stühlen: seine entfernten Angehörigen und Freunde in Kairo erwarten von ihm Hilfe in einer prekären Situation, aber in London ist er ein krasser Aussenseiter und keineswegs wohlhabend geworden, geschweige denn, dass er auf irgendetwas Einfluß hätte, er schlägt sich so durch. An seiner Arbeitsstelle gilt er unter seinen Kollegen wegen seines orientalischen Aussehens als Muslim, dabei ist er koptischer Christ. Unter den in London lebenden muslimischen Ägyptern kann er gerade wegen seiner christlichen Religion ebenfalls keinen Anschluss finden. Eigentlich ist er ein recht einsamer junger Mann.

    Ich mag es, dass der Roman zwar gesellschaftliche Missstände anklagt, aber dies nicht in larmoyanter, sondern ironischer Art macht; die Wirkung ist um so größer.

    Fazit: Der Roman ist aufgrund seines ironischen Tenors unterhaltsam trotz relativer Handlungsarmut. Als Debütroman durchaus beachtlich.

    Kategorie: Migrationsliteratur + Gesellschaftskritik
    Verlag: Hoffmann & Campe, 2023